12. KAPITEL Montag, 9. Mai 2005
Den Freunden auf Sjötorp war endgültig klar geworden, dass sie dringend ihren Bus besteigen und verschwinden mussten. Doch zuvor hatten sie noch ein paar eilige Angelegenheiten zu erledigen.
Die Schöne Frau zog Regenmantel, Mütze und Gummihandschuhe an und holte den Gartenschlauch, um die Überreste des kleinen Gauners abzuspülen, den Sonja breit gesessen hatte. Vorher wand sie dem Toten allerdings den Revolver aus der rechten Hand und legte ihn vorsichtig auf die Veranda (wo sie ihn prompt vergaß). Die Mündung drehte sie so, dass sie auf eine dicke Fichte in vier Meter Entfernung zeigte – man konnte ja nie wissen, wann so ein Apparat einfach mal losging.
Nachdem sie Humpen von Sonjas Scheiße gereinigt hatte, schoben Julius und Benny ihn unter den Rücksitz seines eigenen Ford Mustang. Da hätte er sonst bestimmt nicht druntergepasst, doch jetzt war er ja hübsch geplättet.
Dann setzte sich Julius ans Steuer des Mustang und fuhr los, gefolgt von Benny im Passat der Schönen Frau. Sie wollten sich einen einsamen Ort suchen, der weit genug von Sjötorp entfernt war, um dort das Auto des Ganoven mit Benzin zu übergießen und anzuzünden – wie es eben richtige Gangster in dieser Situation gemacht hätten.
Doch dazu brauchten sie erst einen Kanister und dann auch noch Benzin, um ihn zu befüllen. Also hielten Julius und Benny an einer Tankstelle am Sjösåsvägen in Braås. Benny ging hinein, um zu besorgen, was sie brauchten, während Julius sich etwas zum Naschen kaufen wollte.
Ein nagelneuer Ford Mustang mit V8-Motor mit über 300 PS vor einer Tankstelle in Braås ist ungefähr genauso sensationell, als würde eine Boeing 747 auf dem Sveavägen in Stockholm herumstehen. Humpens kleiner Bruder und einer seiner Kollegen von The Violence einigten sich in Sekundenschnelle auf die Carpe-diem-Strategie: Der kleine Bruder sprang in den Mustang, während sein Kumpel den mutmaßlichen Besitzer im Auge behielt, der gerade drinnen neben der Kasse im Süßigkeitenregal kramte. Was für ein Fang! Und was für ein Trottel! Wer lässt denn bitte bei so einem Auto die Zündschlüssel stecken?!
Als Benny und Julius wieder herauskamen – der eine mit einem noch nicht befüllten Benzinkanister, der andere mit einer Zeitung unter dem Arm und dem Mund voller Bonbons –, war der Mustang weg.
»Hatte ich das Auto nicht hier geparkt?«, fragte Julius.
»Doch, das hattest du hier geparkt«, bestätigte Benny.
»Haben wir jetzt ein Problem?«, fragte Julius.
»Ja, jetzt haben wir ein Problem«, bestätigte Benny.
Dann fuhren sie mit dem ungestohlenen Passat zurück nach Sjötorp. Der leere Kanister war immer noch leer. Aber das war ja jetzt auch schon egal.
* * * *
Der Mustang war schwarz mit hellgelben Rallyestreifen. Ein richtiges Prachtexemplar, für das Humpens kleiner Bruder und seine Kumpels ordentlich abkassieren würden. Der Diebstahl war ebenso spontan wie problemlos gewesen. Keine fünf Minuten nach dem ungeplanten Coup stand das Auto schon sicher bei The Violence in der Garage.
Tags drauf tauschte man das Kennzeichen aus. Der kleine Bruder ließ einen seiner Handlanger mit dem Auto zu den Geschäftspartnern in Riga fahren und mit dem Schiff wieder zurückkommen. Normalerweise sorgten die Letten dann mit Hilfe falscher Nummernschilder und Dokumente dafür, dass das Auto als Privatimport an ein Mitglied von The Violence zurückging, und schon war aus einem gestohlenen Auto ein legales Gefährt geworden.
Doch ausgerechnet dieses Mal lief es anders, denn während das Auto aus Schweden in der Garage in Ziepniekkalns am südlichen Stadtrand von Riga stand, begann es ganz grauenvoll zu stinken. Der Chef der Werkstatt ging der Sache auf den Grund und entdeckte eine Leiche unter dem Rücksitz. Er fluchte das Blaue vom Himmel herunter und entfernte dann gründlich alles, was irgendwie die Herkunft dieses Wagens verraten könnte. Danach drosch er auf den wunderschönen Mustang ein, bis das Auto total verbeult war und völlig wertlos aussah. Dann fand und bestach er einen Säufer, der das Wrack für vier Flaschen Wein zum Schrotthändler fuhr, wo es komplett verschrottet werden sollte – Leiche inklusive.
* * * *
Die Freunde in Sjötorp waren startklar. Dass der Mustang mit dem Toten gestohlen worden war, war natürlich unschön, aber dann meinte Allan, es sei eben, wie es sei, und es komme, wie es komme. Außerdem meinte er, man könne sich ja berechtigte Hoffnungen machen, dass die Autodiebe keinen Kontakt zur Polizei aufnehmen würden. Schließlich liege es in der Natur des Autodiebs, einen gewissen Abstand zur Polizei zu halten.
Sie fuhren am frühen Abend um halb sechs los. Es war ganz gut, dass sie noch vor der Dämmerung loskamen, denn der Bus war groß und der Weg zurück zur Landstraße schmal und kurvig.
Sonja stand in ihrem Stall auf Rädern. Von Hof und Viehstall hatte man alle Spuren des Elefanten sorgfältig entfernt. Der Passat und Bennys Mercedes konnten hier stehen bleiben, denn sie konnten ja mit keinem Verbrechen in Verbindung gebracht werden. Und was hätten sie auch sonst mit den Autos tun sollen?
Dann setzte sich der Bus in Bewegung. Die Schöne Frau hatte zunächst selbst fahren wollen, und sie hätte das wohl auch gekonnt. Doch dann stellte sich heraus, dass Benny auch beinahe Fahrlehrer war und die Berechtigung für alle erforderlichen Klassen auf seinem Führerschein eingetragen hatte, und so kam man überein, dass lieber er sich ans Steuer setzen sollte. Die Gruppe musste ja nicht gegen noch mehr Gesetze verstoßen als sowieso schon.
Am Briefkasten bog Benny nach links ab, fort von Rottne und Braås. Nach den Angaben der Schönen Frau gelangte man nach einigem Gekurve und Gekurbel über Waldwege irgendwann nach Åby und danach auf die Landstraße 30 Richtung Lammhult. Das Ganze würde eine halbe Stunde dauern. Warum sollte man diese Zeit nicht nutzen, um die nicht ganz unwichtige Frage zu diskutieren, wohin man eigentlich fahren wollte?
* * * *
Vor vier Stunden hatte der Chef ungeduldig auf den einzigen seiner Handlanger gewartet, der noch nicht verschwunden war. Sowie Caracas von der Angelegenheit zurückkehrte, die er zu erledigen hatte – worin auch immer sie bestanden haben mochte –, wollte der Chef mit ihm Richtung Süden fahren. Aber nicht auf dem Motorrad und auch nicht mit der Clubjacke. Jetzt war Vorsicht angesagt.
Der Chef hatte ohnehin noch einmal über die Sache mit den Clubjacken und dem Never-Again-Symbol auf dem Rücken nachgedacht. Er hatte damit eine eigene Identität und ein Zusammengehörigkeitsgefühl in der Gruppe schaffen und Außenstehenden Respekt einflößen wollen. Doch erstens war die Gruppe ja wesentlich kleiner als ursprünglich geplant – ein Quartett, bestehend aus Bolzen, Humpen, Caracas und ihm selbst, konnte man auch ohne Clubjacken zusammenhalten. Und zweitens nahm die geschäftliche Ausrichtung ja eine Richtung, bei der eine Clubjacke mit Wiedererkennungswert eher kontraproduktiv war. Als Bolzen für die Transaktion nach Malmköping geschickt wurde, erhielt er die etwas ambivalente Anweisung, einerseits im Sinne der Diskretion die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen, andererseits aber die Clubjacke mit der Never-Again-Aufschrift auf dem Rücken zu tragen, damit der Russe wusste, mit wem er sich anlegte, wenn er sich denn anlegen wollte.
Doch jetzt war Bolzen auf der Flucht … oder was auch immer mit ihm passiert sein mochte. Und auf dem Rücken trug er ein Emblem, das mehr oder weniger sagte: »Bei Rückfragen einfach den Chef anrufen.«
Verdammt!, dachte der Chef. Wenn dieses ganze Chaos überstanden war, würde er die Jacken abfackeln. Aber wo zum Teufel blieb Caracas nur? Sie wollten doch los!
Caracas tauchte mit achtminütiger Verspätung auf und entschuldigte sich damit, dass er sich im Seven-Eleven noch schnell eine Wassermelone hatte kaufen müssen.
»Erfrischend und lecker«, erklärte er.
»Erfrischend und lecker? Die halbe Organisation ist verschwunden, mitsamt unseren fünfzig Millionen Kronen, und du gehst noch schnell Obst kaufen?«
»Melonen sind kein Obst«, korrigierte Caracas. »Streng genommen gehören sie zu den Kürbisgewächsen.«
Da platzte dem Chef endgültig der Kragen. Er nahm die Wassermelone und donnerte sie dem armen Caracas mit solcher Wucht auf den Schädel, dass sie zerplatzte. Woraufhin Caracas in Tränen ausbrach und bockte, jetzt wolle er gar nicht mehr mitmachen. Seit erst Bolzen und dann Humpen verschwunden waren, hatte der Chef ihm die Hölle heiß gemacht, als wäre Caracas irgendwie schuld an der ganzen Sache. Nein, jetzt sollte der Chef mal schön sehen, wie er allein zurechtkam. Caracas wollte sich jetzt ein Taxi rufen, nach Arlanda fahren und nach Hause fliegen zu seiner Familie in … Caracas. Da riefen einen die Leute dann wenigstens wieder beim richtigen Namen.
»¡Vete a la mierda!«, heulte Caracas und rannte hinaus.
Der Chef seufzte schwer. Diese Bescherung wurde von Minute zu Minute übler. Erst verschwand Bolzen, und der Chef musste sich im Nachhinein eingestehen, dass er seinen Frust zum Teil an Humpen und Caracas ausgelassen hatte. Dann verschwand Humpen, und der Chef musste sich im Nachhinein eingestehen, dass er seinen Frust zum Teil an Caracas ausgelassen hatte. Und dann verschwand Caracas – um Wassermelonen zu kaufen, und der Chef musste sich im Nachhinein eingestehen, dass er … ihm in seinem Frust nicht die Melone auf den Schädel hätte donnern dürfen.
Jetzt musste er alleine Jagd machen auf … ja, worauf eigentlich? Das wusste er selbst nicht recht. Sollte er Bolzen suchen? Hatte Bolzen etwa den Koffer geklaut, könnte er wirklich so bescheuert gewesen sein? Und was war mit Humpen passiert?
Der Chef fuhr standesgemäß in seinem nagelneuen BMW X5. Und meistens viel zu schnell. Die Beamten im Zivilpolizeiauto, die zu seiner Beschattung abgestellt waren, zählten während der Fahrt nach Småland die Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung und waren sich nach dreihundert Kilometern einig, dass der Mann am Steuer dieses BMW seinen Führerschein in den nächsten vierhundert Jahren nicht zurückbekommen dürfte, wenn man ihn für alles belangte, was er sich auf der Straße so einfallen ließ. Aber das würde natürlich nie geschehen.
Die Route führte jedenfalls an Åseda vorbei, wo die beiden von Kommissar Aronsson abgelöst wurden, dem Kollegen aus Stockholm. Er bedankte sich für ihre Hilfe und erklärte, ab hier komme er allein zurecht.
Mit Hilfe der GPS-Navi im BMW hatte der Chef keine Probleme, bis nach Sjötorp zu finden. Aber je näher er kam, desto ungeduldiger wurde er. Er steigerte seine bereits illegale Geschwindigkeit derart, dass Kommissar Aronsson kaum noch hinterherkam. Er musste ja auch die ganze Zeit einen gewissen Abstand halten, damit Per-Gunnar »Chef« Gerdin nicht merkte, dass er verfolgt wurde. Aber um der Wahrheit die Ehre zu geben, verlor Aronsson den Chef jetzt beinahe aus den Augen. Nur auf den Straßenabschnitten, die über eine gewisse Strecke schnurgerade verliefen, konnte er den BMW noch sehen, bis er … ja, bis er ihn irgendwann nicht mehr sehen konnte!
Wohin war Gerdin verschwunden? Er musste irgendwo abgebogen sein, oder? Aronsson ging vom Gas. Bei dem Gedanken, was jetzt vielleicht geschehen könnte, brach ihm der Schweiß auf der Stirn aus.
Dort hinten konnte man links abbiegen, hatte er dort die Landstraße verlassen? Oder war er geradeaus weitergefahren bis … Rottne hieß dieser Ort wohl? Und hier waren lauter Bodenschwellen, hätte Aronsson Gerdin nicht allein deswegen schon wieder einholen müssen? Und was, wenn Gerdin nun doch nicht hier abgebogen war?
Doch, bestimmt. Aronsson wendete und bog auf den Weg, auf dem er den Chef vermutete. Jetzt galt es die Augen offen zu halten, denn wenn Gerdin hier eingebogen war, musste er bald am Ziel sein.
* * * *
Der Chef stieg in die Eisen, um von 180 auf 20 herunterzubremsen. Rasch bog er auf den Waldweg ab, den das Navi ihm angezeigt hatte. Noch 3,7 Kilometer bis zum Fahrtziel.
Kurz bevor er beim Sjötorper Briefkasten angekommen war, machte der Weg eine letzte Biegung, und der Chef sah gerade noch das Heck eines riesigen Lasters, der sich aus der Ausfahrt herausmanövriert hatte, in die der Chef wohl hineinfahren musste. Was jetzt? Wer saß in diesem Fahrzeug? Und wer war noch in Sjötorp?
Der Chef beschloss, den Laster fahren zu lassen. Stattdessen bog er auf den kurvenreichen schmalen Weg, der, wie sich herausstellte, zu einem kleinen Wohnhaus führte, einem Viehstall und einem Geräteschuppen, der schon bessere Tage gesehen hatte.
Aber kein Humpen. Kein Bolzen. Kein Tattergreis. Keine rothaarige Alte. Und definitiv kein Koffer mit Rollen.
Der Chef blieb noch ein paar Minuten stehen und überlegte. Menschen hielten sich hier offenbar nicht mehr auf, aber hinter dem Stall standen zwei Autos versteckt: ein roter Passat und ein silberner Mercedes.
»Ich bin also eindeutig am richtigen Ort«, sagte der Chef zu sich selbst. »Aber vielleicht ein paar Minuten zu spät?«
Da beschloss er, dem Laster hinterherzufahren. Den einzuholen, sollte eigentlich nicht unmöglich sein, er hatte ja nur drei, vier Minuten Vorsprung auf einem verschlungenen, unbefestigten Weg.
Der Chef startete das Auto, und der BMW brachte ihn rasch zurück auf den Hauptweg. Dort bog er am Briefkasten links ab, genau wie der Bus vorhin. Und dann trat er aufs Gas und verschwand in einer Staubwolke. Dass sich von der anderen Seite gerade ein blauer Volvo näherte, kümmerte den Chef nicht weiter.
Aronsson freute sich im ersten Moment, Gerdin wieder in Sichtweite zu haben, aber so wie der jetzt mit seiner Allradantriebshöllenmaschine davonschoss, würde der Kommissar ihn gleich wieder aus den Augen verlieren. Keine Chance, da dranzubleiben. Da konnte er sich genauso gut noch kurz dieses Grundstück ansehen … Sjötorp … dort war auch Gerdin schon gewesen und hatte wieder gewendet … und auf dem Briefkasten stand der Name Gunilla Björklund.
»Sollte mich nicht wundern, wenn du rote Haare hättest, Gunilla«, sagte der Kommissar.
So kam es also, dass Aronssons Volvo auf denselben Hof fuhr wie neun Stunden zuvor Henrik »Humpen« Hulténs Ford Mustang und vor wenigen Minuten Per-Gunnar »Chef« Gerdins BMW.
Wie schon der Chef vor ihm stellte auch Kommissar Aronsson fest, dass Sjötorp verlassen war. Doch er ließ sich wesentlich mehr Zeit, nach neuen Puzzleteilchen zu suchen. Eines fand er in der Küche in Form von Tageszeitungen mit heutigem Datum und ganz frischem Gemüse im Kühlschrank. Der Aufbruch musste also heute erfolgt sein. Und dann waren da natürlich noch der Mercedes und der Passat hinter dem Stall. Ersteren kannte Aronsson nur zu gut, Letzterer gehörte wohl Gunilla Björklund, wie er vermutete.
Zwei besonders interessante Beobachtungen sollte Kommissar Aronsson jedoch noch machen. Erstens fand er einen Revolver am Rand der Holzveranda. Was hatte das Ding da zu suchen? Und mit wessen Fingerabdrücken war diese Waffe wohl übersät? Aronsson tippte auf Humpen Hultén und steckte die Waffe vorsichtig in eine Plastiktüte.
Die zweite Entdeckung machte Aronsson auf dem Rückweg im Briefkasten. Unter der Tagespost befand sich ein Schreiben von der Kfz-Meldestelle, das den Halterwechsel eines gelben Scania K113, Baujahr 1992, bestätigte.
»Seid ihr jetzt mit dem Bus unterwegs, oder was?«, murmelte der Kommissar.
* * * *
Der gelbe Bus gondelte gemächlich über die Straßen. Es dauerte nicht lange, bis der BMW ihn eingeholt hatte. Aber auf dieser schmalen Straße blieb dem Chef nichts anderes übrig, als hinter ihm zu bleiben und sich den Kopf zu zerbrechen, wer wohl alles drin saß und ob sie womöglich einen grauen Koffer mit Rollen dabeihatten.
In seliger Unkenntnis der Gefahr, die fünf Meter hinter ihnen lauerte, diskutierten die Freunde im Bus die neue Situation und waren sich bald einig, dass es am besten wäre, sich für die nächsten paar Wochen noch mal ein Versteck zu suchen. Das war ja schon in Sjötorp der Plan gewesen, bis diese gute Idee plötzlich gar nicht mehr gut gewesen war, als sie unerwarteten Besuch bekommen hatten, auf den sich Sonja auch noch prompt draufgesetzt hatte.
Wie sich herausstellte, hatten Allan, Julius, Benny und die Schöne Frau ein Problem gemeinsam: Sie hatten sehr wenig Verwandte und Freunde, von denen sie sich vorstellen konnten, dass sie einen gelben Bus mit Menschen und Tieren dieser Art aufnehmen würden.
Allan entschuldigte sich damit, dass er schließlich hundert Jahre alt war, seine Freunde allesamt auf die eine oder andere Art gestorben waren und er ansonsten sowieso mittlerweile tot wäre, rein aus Altersgründen. Es war ja nur wenigen vergönnt, Jahr um Jahr alles und jeden zu überleben.
Julius meinte, er sei nicht so sehr auf Freunde, sondern eher auf Feinde spezialisiert. Die Freundschaft mit Allan, Benny und der Schönen Frau wolle er zwar gern vertiefen, aber die war in diesem Zusammenhang ja nicht relevant.
Die Schöne Frau gestand, dass sie in den Jahren nach der Scheidung schrecklich unsozial gewesen war, und als erst mal ein geheimer Elefant in ihrem Stall stand, war Publikumsverkehr auf Sjötorp nicht mehr angesagt. Auch da also Fehlanzeige in puncto hilfreiche Kontakte.
Blieb nur noch Benny. Der hatte ja einen Bruder. Den wütendsten Bruder der Welt.
Julius fragte, ob sie den Bruder nicht mit Geld bestechen könnten, und bei diesem Vorschlag hellte sich Bennys Miene auf. Sie hatten schließlich Millionen von Kronen in ihrem Koffer! Bestechung würde nicht hinhauen, denn Bosses Stolz war größer als seine Gier. Aber das war ja im Grunde nur semantische Haarspalterei. Benny würde ihn einfach bitten, das Unrecht nach all den Jahren wiedergutmachen zu dürfen.
Daraufhin rief Benny seinen Bruder an, doch kaum hatte er seinen Namen gesagt, erklärte ihm Bosse, die Flinte sei geladen, und der kleine Bruder könne gern zu Besuch kommen, wenn er eine Ladung in den Hintern kriegen wolle.
Benny erwiderte, dass er zwar keinen diesbezüglichen Wunsch hege, sich aber vorstellen könne – mit ein paar Freunden –, bei ihm vorbeizukommen, weil er die finanziellen Streitigkeiten aus der Welt schaffen wolle. Es gebe da ja sozusagen eine gewisse Diskrepanz zwischen den Brüdern, was das Erbe von Onkel Frasse betraf.
Bosse antwortete, dass sein kleiner Bruder aufhören solle, sich so scheißgeschwollen auszudrücken. Und dann kam er direkt zur Sache:
»Wie viel hast du dabei?«
»Wie wär’s mit drei Millionen?«, bot Benny.
Boss schwieg kurz und überlegte. Er kannte seinen Bruder gut genug, um zu wissen, dass Benny ihn niemals anrufen und sich so einen schlechten Scherz erlauben würde. Sein kleiner Bruder hatte mal eben einen Haufen Kohle! Drei Millionen! Unglaublich! Aber … angesichts dieser immensen Summe ging die Gier mit ihm durch.
»Wie wär’s mit vier?«, versuchte es Bosse.
Doch Benny hatte ein für alle Mal beschlossen, dass sein großer Bruder ihn nie wieder schikanieren würde, also sagte er:
»Wir können auch gerne in ein Hotel gehen, wenn wir dir lästig fallen.«
Darauf antwortete Bosse, sein kleiner Bruder sei ihm doch noch nie lästig gefallen. Benny und seine Freunde seien ihm allzeit herzlich willkommen, und wenn Benny den alten Ärger mit drei Millionen aus der Welt schaffen wolle – oder auch dreieinhalb Millionen, wenn ihm danach sei –, dann wäre das natürlich noch ein Pluspunkt.
Benny bekam eine Wegbeschreibung und kündigte an, dass sie in wenigen Stunden bei Bosse sein würden.
Nun schien ja doch alles gut zu werden. Und jetzt wurde die Straße auch noch schön breit und gerade.
Darauf hatte der Chef nur gewartet: eine etwas breitere und gerade Straße. Fast zehn Minuten hatte er hinter diesem Bus herdaddeln müssen, während der BMW ihm mitteilte, dass in Bälde eine Tankfüllung fällig war. Der Chef hatte nämlich seit Stockholm nicht mehr getankt – wann auch?
Das wäre nun wirklich der absolute Albtraum, wenn ihm hier mitten im Wald das Benzin ausging und er nur zusehen konnte, wie der gelbe Bus in der Ferne verschwand, vielleicht mit Bolzen und Humpen und dem Koffer, oder wer und was auch immer sich noch an Bord befinden mochte.
Daher ergriff der Chef nun die Initiative, wie es sich für den Chef eines kriminellen Biker-Clubs aus Stockholm gehörte. Er trat das Gaspedal durch, war in Sekundenschnelle an dem gelben Bus vorbei und fuhr noch hundertfünfzig Meter weiter, bevor er seinen BMW mit einer kontrollierten Schleuderbremsung zum Halten brachte, sodass er quer auf der Straße stehen blieb. Daraufhin holte er seinen Revolver aus dem Handschuhfach und machte sich bereit, das eben überholte Fahrzeug in seine Gewalt zu bringen.
Der Chef war analytischer veranlagt als seine mittlerweile toten oder emigrierten Assistenten. Die Idee, sich quer über die Straße zu stellen, um den Bus zum Anhalten zu zwingen, war zwar aus der Notlage entsprungen, dass dem BMW langsam das Benzin ausging, doch der Chef ging von der völlig korrekten Annahme aus, dass der Busfahrer auch wirklich anhalten würde. Diese Schlussfolgerung des Chefs baute auf dem Wissen auf, dass die Leute es im Allgemeinen vermeiden, andere im Straßenverkehr zu rammen, wenn dabei Gefahr für Leib und Leben besteht.
Und Benny stieg auch auf die Bremse. Der Chef hatte also richtig gedacht.
Wenn auch nicht weit genug. Er hätte bei seiner Rechnung mit einkalkulieren müssen, dass der Bus noch einen Elefanten mit einem Gewicht von mehreren Tonnen an Bord hatte, und sich demzufolge überlegen, was das für den Bremsweg des Busses bedeutete. Vor allem, wenn man berücksichtigte, dass er auf einer unbefestigten Piste fuhr, nicht auf Asphalt.
Benny tat wirklich sein Bestes, um einen Zusammenstoß zu vermeiden, doch er hatte immer noch fünfzig Stundenkilometer drauf, als der fünfzehn Tonnen schwere Bus zuzüglich Elefant und restlicher Ladung das Auto rammte, das ihm im Weg stand, woraufhin der Wagen drei Meter hoch in die Luft flog und in zwanzig Metern Entfernung wieder landete, und zwar am Stamm einer achtzigjährigen Fichte.
»Damit wäre wohl Nummer drei erledigt«, schätzte Julius.
Alle zweibeinigen Passagiere des Busses sprangen heraus (der eine etwas leichtfüßiger als der andere) und gingen zu dem havarierten BMW.
Ein den Freunden unbekannter Mann, höchstwahrscheinlich tot, hing über dem Lenkrad. Er umklammerte immer noch einen Revolver desselben Modells, mit dem Gauner Nummer zwei sie heute auch schon bedroht hatte.
»Das wäre dann also der dritte«, sagte Julius. »Ich frag mich langsam, wie viele da noch nachkommen.«
Benny protestierte schwach gegen Julius’ scherzhaften Ton. Einen Ganoven am Tag umzubringen, mochte ja noch angehen, aber jetzt waren sie schon bei zwei, und es war nicht mal sechs Uhr abends. Wenn es dumm lief, war immer noch Zeit für ein paar mehr.
Allan schlug vor, den Toten Nummer drei irgendwo zu verstecken, weil es nie günstig war, wenn man in engerem Zusammenhang mit Leuten gesehen wurde, die man gerade um die Ecke gebracht hatte; jedenfalls nicht, wenn man diesen Umstand für sich behalten wollte, was Allan doch stark annahm.
Da begann die Schöne Frau, den Toten auf seinem Lenkrad auszuschimpfen. Wie hatte er nur so scheißblöd sein können, sich quer über den Weg zu stellen?
Der Tote antwortete, indem er leise röchelte und ein Bein bewegte.
* * * *
Kommissar Aronsson hatte nichts Besseres zu tun, als seine Fahrt in dieselbe Richtung fortzusetzen wie Chef Gerdin eine knappe halbe Stunde vor ihm. Natürlich machte er sich keine Hoffnungen, den Never-Again-Anführer einzuholen, aber vielleicht tauchte unterwegs ja noch etwas Interessantes auf? Ansonsten dürfte Växjo nicht mehr weit sein – der Kommissar musste irgendwo einchecken, um die neue Lage schriftlich festzuhalten und mal wieder eine Mütze Schlaf zu kriegen.
Nach einer Weile entdeckte Aronsson das Wrack eines neuen BMW X5, das am Straßenrand an einem Fichtenstamm klebte. Kein Wunder, dass Gerdin von der Straße abgekommen war bei seinem selbstmörderischen Tempo, dachte Aronsson im ersten Moment. Doch bei näherem Hinsehen ergab sich ein anderes Bild.
Erstens war das Auto leer. Der Fahrersitz war zwar voller Blut, aber ein Fahrer war nirgends zu entdecken.
Zweitens war die rechte Seite des Autos extrem stark eingedrückt, und hie und da fanden sich Spuren von gelbem Lack. Irgendetwas Großes, Gelbes musste den Wagen mit voller Wucht gerammt haben.
»Zum Beispiel ein gelber Scania B80 D11, Baujahr 1970«, murmelte Kommissar Aronsson.
Das war zu diesem Zeitpunkt schon nicht allzu schwer zu erraten, und noch leichter wurde es, als er entdeckte, dass das vordere Nummernschuld des gelben Scania immer noch in der hinteren rechten Tür des BMW steckte. Aronsson musste nur die Buchstaben und Ziffern mit den Angaben in der Halterwechselbestätigung der Kfz-Meldestelle abgleichen, um sich seiner Sache ganz sicher zu sein.
Der Kommissar verstand aber immer noch nicht, was hier eigentlich los war. Nur eines wurde ihm täglich klarer, so unglaublich es auch klang: Der hundertjährige Allan Karlsson und sein Gefolge schienen ziemlich gut darin zu sein, Leute umzubringen und anschließend die Leichen verschwinden zu lassen.