3. KAPITEL Montag, 2. Mai 2005
Kurz nach drei Uhr nachmittags am 2. Mai war es auf Tage hinaus vorbei mit der Ruhe im Altersheim von Malmköping. Schwester Alice wurde nicht wütend, sondern machte sich tatsächlich Sorgen, weswegen sie auch ihren Generalschlüssel aus der Tasche zog. Da Allan sich nicht die Mühe gemacht hatte, seinen Fluchtweg zu verheimlichen, konnte man sofort feststellen, dass das Geburtstagskind aus dem Fenster geklettert war. Nach den Fußspuren zu urteilen, war es eine Weile zwischen den Stiefmütterchen herumgestapft und dann verschwunden.
Kraft seines Amtes fühlte der Stadtrat, dass er jetzt das Heft in die Hand nehmen musste. Er beauftragte das Personal, sich in Zweiergruppen auf die Suche zu machen. Allan konnte ja noch nicht weit gekommen sein, die Gruppen sollten sich also auf die nähere Umgebung konzentrieren. Eine wurde in den Park geschickt, eine ins Spirituosengeschäft (wohin sich Allan zuweilen verirrte, wie Schwester Alice zu berichten wusste), eine zu den anderen Geschäften an der Storgatan und eine zum Gemeindesaal. Der Stadtrat selbst wollte im Altersheim bleiben, um ein Auge auf die Alten zu haben, die sich noch nicht in Luft aufgelöst hatten, und um sich die nächsten Schritte zu überlegen. Er bat die Suchtrupps, ein bisschen diskret vorzugehen, die Sache musste ja nicht unnötig breitgetreten werden. Im allgemeinen Aufruhr war dem Stadtrat aber ganz entgangen, dass eine der Zweiergruppen, die er gerade losgeschickt hatte, aus einer Reporterin der Lokalzeitung und ihrem Fotografen bestand.
* * * *
Das Reisezentrum fiel nicht in den Bereich, in den der Stadtrat seine Suchtrupps geschickt hatte. Dort hatte allerdings eine Einergruppe – bestehend aus einem erbosten, schmächtigen jungen Mann mit langen, fettigen blonden Haaren, struppigem Bart und einer Jeansjacke mit der Aufschrift Never Again auf dem Rücken – bereits alle denkbaren Schlupfwinkel des Bahnhofs durchkämmt. Nachdem weder der Alte noch der Koffer auffindbar waren, trat der junge Mann resolut vor den kleinen Beamten hinter dem einzigen geöffneten Schalter, um sich Informationen über die eventuellen Reisepläne des Alten zu verschaffen.
Der kleine Beamte hatte seinen Job zwar satt, aber ein gewisses Berufsethos hatte er sich denn doch noch bewahrt. Deswegen erklärte er dem geräuschvoll auftretenden jungen Mann, die Reisenden an diesem Busbahnhof könnten sich jederzeit darauf verlassen, dass ihre persönlichen Angaben mit Diskretion behandelt wurden. Ein wenig hochmütig fügte er hinzu, dass er unter keinerlei Umständen geneigt sei, dem Ansuchen des jungen Mannes stattzugeben und derlei Informationen mit ihm zu teilen.
Der junge Mann schwieg einen Moment und verdolmetschte sich die Worte des kleinen Beamten in verständliches Schwedisch. Daraufhin ging er fünf Meter nach links, zur nicht allzu stabilen Eingangstür zum Schalterbereich. Er machte sich gar nicht erst die Mühe zu überprüfen, ob sie vielleicht abgeschlossen war, sondern nahm bloß kurz Anlauf und trat mit dem rechten Stiefel die Tür ein, dass die Splitter in alle Richtungen stoben. Der kleine Beamte konnte nicht einmal den Telefonhörer abheben, nach dem er gegriffen hatte, um Hilfe zu rufen, denn ehe er sich’s versah, zappelte er vor dem jungen Mann in der Luft, der ihn mit festem Griff bei den Ohren gepackt und hochgehoben hatte.
»Ich weiß vielleicht nicht, was ›Diskretion‹ bedeutet, aber eines weiß ich ganz sicher, nämlich wie man die Leute zum Reden bringt«, sagte der junge Mann zu dem kleinen Beamten, bevor er ihn mit einem leichten Rums wieder auf seinen Drehstuhl setzte.
Anschließend beschrieb er ihm, was er – unter Zuhilfenahme von Hammer und Nägeln – mit dem Geschlechtsorgan seines Gegenübers anstellen würde, falls dieser seinem Wunsch nicht entsprechen sollte. Die Beschreibung war so anschaulich, dass der kleine Beamte sofort bereit war zu erzählen, was er wusste, nämlich dass der Alte wahrscheinlich mit einem Bus Richtung Strängnäs unterwegs war. Ob er einen Koffer mitgenommen hatte, könne er allerdings nicht sagen, weil er nämlich nicht zu den Leuten gehöre, die harmlose Reisende ausspionierten.
An dieser Stelle verstummte der kleine Beamte, um zu sehen, wie zufrieden der junge Mann mit der Auskunft war, und er kam zu dem Schluss, dass er wohl gut daran tat, weitere Angaben hinzuzufügen. Deshalb erklärte er rasch, dass es auf der Strecke von Malmköping nach Strängnäs zwölf Haltestellen gebe und dass der Alte an jeder beliebigen aussteigen konnte. Wer in dieser Frage genauere Auskunft geben könne, sei der Busfahrer, und der träfe laut Fahrplan um 19.10 Uhr des heutigen Abends wieder in Malmköping ein, auf der Rückfahrt Richtung Flen.
Jetzt setzte sich der junge Mann neben den verschreckten kleinen Beamten mit den schmerzenden Ohren.
»Muss mal kurz nachdenken«, verkündete er.
Und dann dachte er nach. Er dachte, dass er mit ziemlicher Sicherheit die Handynummer des Busfahrers aus dem kleinen Mann herausschütteln konnte, um dann den Fahrer anzurufen und ihm mitzuteilen, dass der Koffer des Alten Diebesgut war. Doch dabei bestand freilich die Gefahr, dass der Busfahrer die Polizei einschaltete, und das wollte der junge Mann ganz sicher nicht. Außerdem war es im Grunde noch nicht so eilig, denn der Alte hatte schrecklich alt ausgesehen, und wenn er nun auch noch einen Koffer mit sich herumschleppen musste, würde er sich gezwungenermaßen auch ab Strängnäs mit Zug, Bus oder Taxi weiterbewegen. So würde er weitere Spuren hinterlassen, und der junge Mann würde überall einen finden, dem er die Ohren langziehen konnte, damit er ihm erzählte, wohin der Alte unterwegs war. Der junge Mann hatte großes Vertrauen in seine Fähigkeit, die Leute dazu zu überreden, ihr Wissen mit ihm zu teilen.
Als er fertig nachgedacht hatte, beschloss er, den entsprechenden Bus einfach abzuwarten und den Fahrer ohne übertriebene Freundlichkeit zu befragen.
Da die Sache nun klar war, stand der junge Mann wieder auf und erklärte seinem Gegenüber, was mit ihm, seiner Frau, seinen Kindern und seinem Haus passieren würde, falls es ihm einfallen sollte, der Polizei oder sonst wem zu erzählen, was gerade vorgefallen war.
Der kleine Schalterbeamte hatte zwar weder Frau noch Kind, aber ihm war doch daran gelegen, seine beiden Ohren sowie sein Geschlechtsorgan in einigermaßen unversehrtem Zustand zu behalten. Also schwor er bei seiner staatlichen Eisenbahnerehre, dass er keiner Menschenseele etwas verraten würde.
Und diesen Schwur hielt er bis zum nächsten Tag.
* * * *
Die ausgesandten Zweiergruppen kehrten zum Altersheim zurück und berichteten von ihren Beobachtungen. Beziehungsweise dem Mangel an ebensolchen. Der Stadtrat hatte instinktiv beschlossen, die Polizei aus dem Spiel zu lassen, und überlegte hin und her, wie die beste Alternative aussehen könnte. Da nahm sich die Reporterin die Frage heraus:
»Was haben Sie denn nun vor, Herr Stadtrat?«
Der Stadtrat schwieg ein paar Sekunden, dann verkündete er:
»Wir werden natürlich die Polizei einschalten.«
O Gott, wenn er eines auf dieser Welt hasste, dann war es die freie Presse.
* * * *
Allan wachte davon auf, dass der Fahrer ihn freundlich anstupste und ihm mitteilte, sie hätten jetzt Byringe Bahnhof erreicht. Anschließend bugsierte er den Koffer aus der Vordertür, und Allan folgte ihm.
Auf die Frage des Fahrers, ob der Herr ab hier allein zurechtkomme, erwiderte Allan, dass der Fahrer sich keine Sorgen zu machen brauche. Dann bedankte er sich für die Hilfe und winkte ihm zum Abschied, während der Bus wieder auf die Landstraße 55 fuhr und seinen Weg nach Strängnäs fortsetzte.
Die Nachmittagssonne stand schon recht tief hinter den hohen Fichten, die ringsum aufragten, und langsam begann er in seinem dünnen Jackett und den Pantoffeln zu frieren. Ein Byringe war weit und breit nicht zu sehen, geschweige denn der dazugehörige Bahnhof. Hier gab es nur Wald, Wald und nochmals Wald. In drei Richtungen. Und nach rechts ging ein kleiner Waldweg ab.
Allan überlegte, dass der Koffer, den er kurz entschlossen mitgenommen hatte, vielleicht warme Kleider enthielt. Aber der war abgeschlossen, und ohne Schraubenzieher oder anderes Werkzeug würde er ihn sowieso nicht aufbekommen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich zu bewegen, wenn er nicht hier an der Landstraße herumstehen und langsam erfrieren wollte. (Die Erfahrung sagte ihm allerdings, dass ihm das wohl nicht mal gelingen würde, wenn er es darauf anlegte.)
Der Koffer hatte einen Griff an der Seite, und wenn man daran zog, rollte er brav auf seinen kleinen Rollen hinter einem her. Allan folgte also mit kleinen, schlurfenden Schritten dem Weg in den Wald. Hinter ihm holperte und schlingerte der Koffer über den Boden.
Nach ein paar hundert Metern erreichte Allan das, was offensichtlich Byringe Bahnhof war – beziehungsweise ein stillgelegtes Bahnhofsgebäude neben einer äußerst stillgelegten Bahnstrecke.
Er mochte ja ein Prachtexemplar von einem Hundertjährigen sein, aber nun war es doch alles ein bisschen viel gewesen in der kurzen Zeit. Allan musste sich auf den Koffer setzen, um sowohl seine Gedanken als auch neue Kräfte zu sammeln.
Schräg links vor ihm stand das heruntergekommene, zweigeschossige gelbe Bahnhofsgebäude. Die Fenster im Erdgeschoss waren allesamt mit rohen Brettern vernagelt. Schräg rechts verschwand das stillgelegte Eisenbahngleis in der Ferne, schnurgerade weiter in den umgebenden Wald hinein. Der Natur war es zwar noch nicht gelungen, die Schienen wieder ganz zurückzuerobern, aber das war sicher nur eine Frage der Zeit.
Der hölzerne Bahnsteig wirkte nicht gerade vertrauenerweckend. An der äußersten Planke konnte man immer noch die aufgemalte Warnung lesen: Betreten der Gleise verboten. Na, das Gleis konnte man sicher gefahrlos betreten, dachte Allan. Aber welcher Mensch, der auch nur ein Fünkchen Verstand besaß, würde freiwillig diesen Bahnsteig betreten?
Die Frage wurde umgehend beantwortet, denn auf einmal ging die Tür des Gebäudes auf, und ein Mann um die siebzig mit braunen Augen und grauen Bartstoppeln kam festen Schrittes herausspaziert. Er trug solide Stiefel, ein kariertes Hemd, eine schwarze Lederweste und eine Schirmmütze. Offenbar vertraute er darauf, dass die Bretter nicht unter ihm nachgaben, denn seine ungeteilte Aufmerksamkeit galt dem alten Mann.
Mitten auf dem Bahnsteig blieb der Schirmmützenmann stehen und musterte ihn mit einem Anflug von Feindseligkeit. Aber dann schien er sich eines Besseren zu besinnen, wahrscheinlich weil ihm aufging, was für ein gebrechliches Menschlein sich da auf sein Grundstück verirrt hatte.
Allan saß immer noch auf seinem frisch gestohlenen Koffer und wusste nicht, was er sagen sollte. Aber er sah dem Schirmmützenmann in die Augen und wartete auf dessen Eröffnungszug. Der kam ziemlich rasch und gar nicht so unfreundlich, wie man zunächst hätte erwarten mögen. Eher abwartend.
»Wer sind Sie, und was machen Sie auf meinem Bahnsteig?«, erkundigte sich der Schirmmützenmann.
Allan gab keine Antwortet. Er wusste nicht recht, ob der Mann, der ihm da gegenüberstand, Freund oder Feind war. Doch dann fiel ihm ein, dass es vielleicht ganz klug wäre, sich nicht mit dem einzigen Menschen weit und breit anzulegen, der ihn in die Wärme einer Behausung bitten konnte, bevor die Abendkühle wirklich unerbittlich zuschlug. Daher beschloss er, einfach die Wahrheit zu sagen.
Also erzählte Allan, dass er Allan hieß, dass er auf den Tag genau hundert Jahre alt war und für sein Alter noch ganz munter, sogar so munter, dass er aus dem Heim abgehauen war, und dass er außerdem den Reisekoffer eines jungen Mannes gestohlen hatte, der darüber bestimmt nicht allzu erfreut sein dürfte, dass überdies Allans Knie im Moment nicht in Bestform waren und dass Allan sich wünschte, eine kleine Pause vom Spazierengehen einlegen zu können.
Nachdem er seine Ausführungen beendet hatte, verstummte er, blieb auf dem Koffer sitzen und wartete auf den Urteilsspruch.
»Na so was«, sagte der Schirmmützenmann und grinste. »Ein Dieb!«
»Ein alter Dieb«, verbesserte Allan missmutig.
Der Mann mit der Schirmmütze sprang geschmeidig vom Bahnsteig und näherte sich dem Hundertjährigen, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen.
»Bist du wirklich hundert Jahre alt?«, erkundigte er sich. »Dann hast du jetzt sicher Hunger.«
Allan verstand die Logik dieser Schlussfolgerung nicht ganz, aber hungrig war er tatsächlich. Also fragte er, was denn auf der Speisekarte stehe und ob es möglicherweise zu machen sei, dass er auch einen Schnaps dazubekam.
Der Schirmmützenmann hielt ihm die Hand hin, um sich zum einen als Julius Jonsson vorzustellen und zum anderen dem Alten auf die Füße zu helfen. Dann teilte er Allan mit, dass er ihm den Koffer abnehmen könne, dass es Elchbraten gebe, wenn es recht sei, und dass er auf jeden Fall einen Schnaps dazubekommen könne, zur Wiederherstellung von Körper und Knien.
Mühsam kletterte Allan auf den Bahnsteig. Die Schmerzen sagten ihm, dass er noch lebte.
Julius Jonsson hatte seit mehreren Jahren keinen mehr zum Reden gehabt, daher kam ihm die Begegnung mit dem Alten mit Koffer gerade recht. Nachdem es einen Schnaps fürs erste Knie gegeben hatte und einen fürs zweite, gefolgt von einem weiteren für den Rücken und für den Nacken sowie einem für den Appetit, war man schon in bester Plauderstimmung. Allan wollte wissen, wovon Julius lebte, und der antwortete mit einer langen Erzählung.
Julius war im Norden zur Welt gekommen, in Strömbacka, unweit von Hudiksvall, als einziges Kind der Bauern Anders und Elvina Jonsson. Er arbeitete als Knecht auf dem Hof und bekam jeden Tag Prügel von seinem Vater, welcher der Meinung war, dass sein Sohn zu gar nichts taugte. Als Julius fünfundzwanzig war, starb erst seine Mutter an Krebs, und ihr Sohn trauerte sehr um sie. Wenig später ertrank der Vater im Sumpf, bei dem Versuch, eine Kuh zu retten. Auch da trauerte Julius sehr, denn er hatte wirklich an der Kuh gehangen.
Der junge Julius hatte keinerlei Talent zum Beruf des Landwirts (da hatte sein Vater also recht gehabt), und Lust genauso wenig. Also verkaufte er alles bis auf ein paar Hektar Wald, weil er glaubte, die könnten ihm auf seine alten Tage noch etwas nützen.
Dann fuhr er nach Stockholm und brachte innerhalb von zwei Jahren sein ganzes Geld durch. Woraufhin er in den Wald zurückkehrte.
Mit gewissem Eifer meldete er sich auf die Ausschreibung eines Großauftrags des Elektrizitätswerks Hudiksvall für fünftausend Hochspannungsmasten. Und da er sich für Details wie Arbeitgeberabgaben, Umsatzsteuer und dergleichen nicht interessierte, erhielt er den Zuschlag. Mit Hilfe von zehn ungarischen Flüchtlingen gelang es ihm außerdem, die Holzmasten fristgerecht zu liefern, und er bekam so viel Geld dafür, dass er es kaum glauben konnte.
So weit, so gut. Doch Julius hatte leider ein bisschen schummeln müssen, denn die Bäume waren noch nicht ganz ausgewachsen gewesen. Daher waren die Masten einen Meter kürzer als bestellt – was wohl keiner gemerkt hätte, aber leider verhielt es sich so, dass sich fast jeder Bauer der Gegend damals einen Mähdrescher angeschafft hatte.
Das Elektrizitätswerk Hudiksvall schlug nun auf sämtlichen Äckern und Weiden der Gegend die Masten in den Boden, und als die Erntezeit gekommen war, wurden an einem einzigen Vormittag die Hochspannungsleitungen an sechsundzwanzig Stellen heruntergerissen, und zwar von zweiundzwanzig verschiedenen, aber gleichermaßen fabrikneuen Mähdreschern. In dieser Ecke der Provinz Hälsingland brach daraufhin die Stromversorgung auf Wochen zusammen, die Erntearbeiten kamen zum Erliegen, und die Melkmaschinen streikten. Es dauerte nicht lang, bis der Zorn der Bauern, der sich zunächst gegen das Elektrizitätswerk Hudiksvall gerichtet hatte, stattdessen auf den jungen Julius niederging.
»Damals wurde der Ausdruck vom ›fröhlichen Hudiksvaller‹ nicht geprägt, das kann ich dir versichern. Ich musste mich sieben Monate im Hotel in Sundsvall verstecken, und dann war mein Geld wieder alle. – Wie wäre es mit noch einem Schnäpschen?«, fragte Julius.
Allan fand auch, dass sie noch einen trinken sollten. Den Elchbraten hatten sie mit einem gepflegten Pils heruntergespült, und jetzt ging es Allan so wunderbar, dass ihm der Gedanke ans Sterben plötzlich fast wieder Angst machte.
Julius setzte seine Erzählung fort. Nachdem er eines Tages in der Stadtmitte von Sundsvall fast von einem Traktor überfahren worden wäre (am Steuer saß übrigens ein Bauer mit mordlustigem Blick), begriff er, dass man ihm seinen kleinen Fehler in dieser Gegend die nächsten hundert Jahre nicht verzeihen würde. Also zog er um und landete in Mariefred, wo er sich eine Weile mit Gelegenheitsdiebstählen über Wasser hielt, bis er das Stadtleben satthatte und das stillgelegte Bahnhofsgebäude in Byringe für die fünfundzwanzigtausend Kronen erwerben konnte, die er eines Nachts im Tresor des Wirtshauses in Gripsholm gefunden hatte. Jetzt lebte er mehr oder weniger von der Stütze, Wilderei in den Nachbarwäldern, einer bescheidenen Produktion von selbst gebranntem Schnaps und Handel mit demselben sowie dem Weiterverkauf aller möglichen Besitztümer seiner Nachbarn, deren er irgendwie habhaft werden konnte. Er sei in der Umgebung nicht sonderlich beliebt, erzählte Julius, und Allan antwortete zwischen zwei Bissen Elch, dass er das sogar irgendwie verstehen könne.
Als Julius meinte, dass sie noch ein letztes Gläschen nehmen sollten – »zum Nachtisch« –, erklärte Allan, dass er für derlei Nachtische schon immer eine Schwäche gehabt habe, aber zunächst ein stilles Örtchen aufsuchen müsse, wenn es dergleichen denn im Hause gebe. Julius stand auf, machte die Deckenlampe an, da es schon zu dämmern begann, und teilte ihm gestenreich mit, dass es rechts von der Treppe im Flur ein funktionierendes WC gebe. Außerdem stellte er Allan in Aussicht, dass ihn bei seiner Rückkehr ein frisch eingeschenkter Schnaps erwartete.
Allan fand die Toilette am von Julius angegebenen Ort. Er stellte sich zum Pinkeln hin, und wie immer schafften es nicht alle Tröpfchen bis in die Schüssel. Ein paar landeten stattdessen weich auf seinen Pisspantoffeln.
Als er zur Hälfte fertig war, hörte Allan Schritte auf der Treppe. Im ersten Moment – das musste er zugeben – dachte er, dass es vielleicht Julius war, der sich gerade mit Allans frisch gestohlenem Koffer aus dem Staub machte. Aber dann wurde es immer lauter. Irgendjemand war auf dem Weg nach oben.
Wie Allan schlagartig klar wurde, bestand ein gewisses Risiko, dass die Schritte jenseits der Tür einem schmächtigen jungen Mann mit langen, fettigen blonden Haaren, struppigem Bart und einer Jeansjacke mit der Aufschrift Never Again auf dem Rücken gehörten. Und wenn er es denn tatsächlich sein sollte, dann war mit ihm jetzt sicher nicht gut Kirschen essen.
* * * *
Der Bus aus Strängnäs traf drei Minuten vor der fahrplanmäßigen Ankunft am Reisezentrum Malmköping ein. Da der Bus leer war, hatte der Fahrer nach der letzten Haltestelle ein bisschen aufs Gas gedrückt, weil er gern eine rauchen wollte, bevor er die Fahrt nach Flen fortsetzte.
Doch kaum hatte der Fahrer seine Zigarette angesteckt, als ein schmächtiger junger Mann mit langen, fettigen blonden Haaren, struppigem Bart und einer Jeansjacke mit der Aufschrift Never Again auf dem Rücken auftauchte. Das heißt, die Aufschrift auf dem Rücken sah der Busfahrer in dem Moment nicht, aber sie war trotzdem da.
»Wollen Sie mit nach Flen?«, fragte er etwas unsicher, denn irgendwie kam ihm der junge Mann nicht ganz koscher vor.
»Ich fahre nicht nach Flen. Und Sie auch nicht«, erwiderte der junge Mann.
Vier Stunden lang auf die Rückkehr dieses Busses warten zu müssen, hatte das bisschen Geduld des jungen Mannes nicht unwesentlich strapaziert. Nach der Hälfte der Zeit war er außerdem darauf gekommen, dass er den Bus ja leicht auf dem Weg nach Strängnäs noch hätte einholen können, wenn er sofort ein Auto beschlagnahmt hätte.
Obendrein kurvten plötzlich jede Menge Streifenwagen durch die kleine Ortschaft. Die konnten auch jeden Moment beim Reisezentrum vorbeikommen und den kleinen Beamten hinter dem Schalterfenster fragen, warum er so verschreckt dreinblickte und warum die Tür zum Schalterbereich eigentlich so schief in den Angeln hing.
Es wollte dem jungen Mann nicht in den Kopf, was die Polizei eigentlich hier machte. Der Chef von Never Again hatte Malmköping aus drei Gründen für die Transaktion ausgewählt: erstens, weil es so nahe an Stockholm lag, zweitens, weil es eine relativ gute Verkehrsanbindung besaß, und drittens – sicher der wichtigste Grund –, weil der Arm des Gesetzes nicht bis hierher reichte. Kurz und gut, in Malmköping gab es praktisch keine Polizei.
Beziehungsweise: sollte es keine geben. Aber jetzt wimmelte es ja nur so von denen! Der junge Mann hatte zwei Autos und insgesamt vier Polizisten gesehen, was in seinen Augen gleichbedeutend mit Gewimmel war.
Erst glaubte er, sie seien hinter ihm her. Aber das hätte ja vorausgesetzt, dass der kleine Schalterbeamte geplaudert hätte, und das konnte der junge Mann mit Sicherheit ausschließen. Während er auf den Bus wartete, hatte er wenig anderes zu tun gehabt, als den Kerl genau im Auge zu behalten, sein Telefon in Stücke zu schlagen und die Tür notdürftig wieder instandzusetzen.
Als der Bus endlich kam und der junge Mann sah, dass kein Passagier darin saß, hatte er sofort beschlossen, den Fahrer mitsamt Bus zu entführen.
Er brauchte gerade mal zwanzig Sekunden, um den Busfahrer zu überreden, den Bus zu wenden und wieder Richtung Norden zu fahren. Das kommt ja nahe an meine persönliche Bestleistung, dachte der junge Mann, als er sich auf genau den Platz setzte, auf dem der Alte, den er jagte, heute auch gesessen hatte.
Der Busfahrer schlotterte vor Angst, die er nur mit Hilfe einer Beruhigungszigarette einigermaßen in Schach halten konnte. Im Fahrzeug galt zwar Rauchverbot, aber das einzige Gesetz, dem der Fahrer in diesem Moment gehorchte, saß schräg hinter ihm und war schmächtig, mit langen, fettigen blonden Haaren, struppigem Bart und einer Jeansjacke mit der Aufschrift Never Again auf dem Rücken.
Unterwegs erkundigte sich der junge Mann, wohin der alte Kofferdieb gefahren war. Der Fahrer erklärte, der Alte sei an einer Haltestelle namens Byringe Bahnhof ausgestiegen, aber das wohl eher aus Zufall. Dann erzählte er von der umgekehrten Verfahrensweise mit dem Fünfzigkronenschein und der Frage, wie weit man damit kam.
Über Byringe Bahnhof wusste der Fahrer nicht viel zu sagen, außer dass selten jemand an der fraglichen Haltestelle aus- oder einstieg. Aber er glaubte, dass sich ein Stückchen in den Wald hinein ein stillgelegter Bahnhof befand, daher auch der Name, und dass die Ortschaft Byringe irgendwo in der Nähe lag. Viel weiter konnte der Alte nicht gekommen sein, meinte der Fahrer. Er sei ja sehr alt gewesen und der Koffer schwer, auch wenn er auf Rollen lief.
Da wurde der junge Mann gleich ein bisschen ruhiger. Er hatte darauf verzichtet, den Chef in Stockholm anzurufen, denn der gehörte zu den wenigen Personen, die Menschen noch viel besser erschrecken konnten als der junge Mann selbst, einzig und allein mit Worten. Der junge Mann schauderte bei dem Gedanken, was der Chef sagen würde, wenn er wüsste, dass der Koffer verschwunden war. Lieber erst das Problem lösen und dann erzählen. Und da der Alte also gar nicht ganz bis Strängnäs und von dort aus noch weiter gefahren war, würde der junge Mann den Koffer schneller als befürchtet wieder zurückhaben.
»Hier ist es«, sagte der Fahrer. »Das ist die Haltestelle Byringe Bahnhof.«
Er ging vom Gas und lenkte den Bus an den Straßenrand. Musste er jetzt sterben?
Nein, wie sich herausstellte, musste er das nicht. Nur sein Handy starb einen raschen Tod unter dem Stiefel des jungen Mannes. Und dann ließ der junge Mann noch eine Flut von Todesdrohungen gegen sämtliche Familienmitglieder des Busfahrers los, für den Fall, dass dieser auf die Idee kommen sollte, die Polizei zu benachrichtigen, statt den Bus zu wenden und die Fahrt nach Flen fortzusetzen.
Dann stieg er aus und ließ den Fahrer mit seinem Bus davonfahren. Der arme Kerl war jedoch so verängstigt, dass er nicht mal zu wenden wagte, sondern schnurstracks bis Strängnäs weiterfuhr, wo er mitten auf der Trädgårdsgatan parkte und, immer noch unter Schock, in die Bar des Hotels Delia wankte. Dort kippte er vier Whiskys hintereinander und brach zum Schrecken des Barkeepers in Tränen aus. Nach zwei weiteren Whiskys bot ihm der Barmann ein Telefon an, falls er irgendjemanden anrufen wollte. Da schluchzte der Busfahrer gleich noch herzzerreißender – und rief seine Freundin an.
* * * *
Der junge Mann meinte, Spuren von den Rollen seines Koffers im Schotter zu entdecken. Bald würde die Sache geklärt sein. Und das war auch gut so, denn es begann schon zu dämmern.
Manchmal wünschte der junge Mann, er würde bei seinen Plänen etwas vorausschauender denken. Gerade jetzt fiel ihm nämlich auf, dass er in einem Wald stand, während es von Minute zu Minute dunkler wurde. Bald würde es ringsum stockfinster sein, und was sollte er dann anfangen?
Er wurde aus seinen Grübeleien gerissen, als er ein heruntergekommenes, teilweise mit Brettern verrammeltes gelbes Haus entdeckte, auf der anderen Seite des Hügelkamms, den der junge Mann gerade überwunden hatte. Und als im Obergeschoss jemand eine Lampe einschaltete, murmelte der junge Mann: »Jetzt hab ich dich, Alter.«
* * * *
Allan unterbrach seine Verrichtung, bevor er ganz fertig war. Vorsichtig öffnete er die Toilettentür und versuchte zu horchen, was in der Küche vor sich ging. Schon bald hatte sich sein Verdacht bestätigt: Er erkannte die Stimme gleich wieder, als nämlich der junge Mann Julius Jonsson anbrüllte, er solle ihm gefälligst verraten, wo »der andere Scheißtattergreis« sei.
Allan schlich sich zur Küchentür, wobei ihm seine weichen Pantoffeln gute Dienste leisteten. Der junge Mann hatte Julius ebenso bei den Ohren gepackt wie zuvor den kleinen Schalterbeamten im Reisezentrum Malmköping. Während er den armen Julius unbarmherzig durchschüttelte, wiederholte er seine Frage, wo Allan sich versteckt halte. Dieser fand, dass der junge Mann sich doch damit zufriedengeben könnte, seinen Koffer wiedergefunden zu haben, welcher deutlich sichtbar mitten im Zimmer stand. Julius verzog zwar das Gesicht, sagte aber keine Silbe. Dieser alte Holzhändler war ja aus einem wirklich harten Holz geschnitzt, dachte Allan. Dann sah er sich auf dem Flur nach einem passenden stumpfen Gegenstand um. In dem ganzen Gerümpel fanden sich einige durchaus zweckmäßige Waffen: ein Kuhfuß, ein Brett, eine Dose Insektenspray und eine Packung Rattengift. Im ersten Moment blieb sein Blick am Rattengift hängen, aber ihm fiel keine Möglichkeit ein, wie er dem jungen Mann ein bis zwei Esslöffel davon verabreichen sollte. Der Kuhfuß hingegen war für den Hundertjährigen zu schwer, und das Insektenspray … nein, ihm blieb nur das Brett.
Also packte Allan die Waffe seiner Wahl und war mit vier für sein Alter sensationell schnellen Schritten direkt hinter seinem Opfer.
Dieses musste geahnt haben, dass Allan hinter ihm stand, denn gerade als der Alte zum Schlag ausholte, ließ der junge Mann Julius Jonsson los und fuhr herum.
Das Brett traf ihn mit voller Wucht an der Stirn. Einen Moment blieb er noch aufrecht stehen und stierte in die Luft, ehe er rücklings zu Boden fiel und sich den Hinterkopf noch am Küchentisch anschlug.
Kein Blut, kein Stöhnen, nichts. Er lag einfach nur da, die Augen mittlerweile geschlossen.
»Volltreffer«, gratulierte Julius.
»Danke«, sagte Allan. »Sag mal, hattest du mir nicht einen Nachtisch versprochen?«
Allan und Julius setzten sich an den Küchentisch, während der langhaarige junge Mann zu ihren Füßen schlummerte. Julius goss ihnen zwei Schnäpse ein, reichte Allan das eine Glas und prostete ihm mit dem anderen zu. Allan prostete zurück.
»So!«, sagte Julius, als er den Fusel gekippt hatte. »Ich schätze mal, es handelt sich hier um den Besitzer des Koffers?«
Die Frage war eher eine Feststellung. Allan sah ein, dass es Zeit für die eine oder andere detailliertere Erklärung war.
Nicht, dass es so viel zu erklären gegeben hätte. Das meiste, was im Laufe des Tages passiert war, kapierte Allan ja selbst kaum. Aber er schilderte auf jeden Fall, wie er aus dem Heim ausgerissen war, fuhr mit der zufälligen Entwendung des Koffers im Reisezentrum Malmköping fort und schilderte zum Schluss seine schleichende Sorge, dass der junge Mann, der jetzt ohnmächtig auf dem Boden lag, ihn bald aufspüren würde. Um sich schließlich aufrichtig dafür zu entschuldigen, dass Julius jetzt mit knallroten, schmerzenden Ohren dasaß. Doch da regte sich sein Gastgeber geradezu auf und meinte, Allan bräuchte sich wahrhaftig nicht dafür zu entschuldigen, dass in Julius Jonssons Leben endlich mal so richtig was los war.
Julius war auch schon wieder in Form. Und er fand, jetzt sei es an der Zeit, dass sie beide mal einen Blick in diesen Koffer warfen. Als Allan ihn darauf hinwies, dass er abgeschlossen war, bat ihn Julius, kein dummes Zeug daherzureden.
»Seit wann hätte ein Schloss einen Julius Jonsson aufhalten können?«, fragte Julius Jonsson.
Doch alles zu seiner Zeit, fand er. Zunächst sollten sie sich lieber um das Problem auf dem Boden kümmern. Es wäre ja wenig vorteilhaft, wenn der junge Mann aufwachte und da weitermachte, wo er aufgehört hatte, als ihm die Lichter ausgingen.
Allan schlug vor, ihn an einen Baum vor dem Bahnhofsgebäude zu fesseln, doch Julius wandte ein, dass man den jungen Mann bis in den Ort hören würde, wenn er wieder zu Bewusstsein kam und nur laut genug schrie. Dort wohnten zwar nur noch ein paar Familien, aber die hatten Julius – zum Teil aus durchaus berechtigten Gründen – allesamt auf dem Kieker und würden sich sicher bei erstbester Gelegenheit auf die Seite des jungen Mannes schlagen.
Julius hatte eine bessere Idee. An seine Küche schloss sich ein isolierter Kühlraum an, in dem er seine Wildererbeute lagerte, also die zerlegten Elche. Momentan war dieser Raum elchfrei und abgeschlossen. Julius wollte die Kühlung nicht unnötig laufen lassen, da sie Unmengen von Strom verbrauchte. Er hatte zwar heimlich eine Leitung angezapft – Gösta vom Skogstorp-Hof bezahlte seine Rechnung –, aber wenn er sich dieses vorteilhafte Arrangement langfristig sichern wollte, musste er beim Stromstehlen schon etwas Maß halten.
Allan besichtigte die verschlossene Kühlkammer und stellte fest, dass sie eine ausgezeichnete Zelle für ihren Häftling abgab, ohne unnötigen Luxus. Die Größe von zwei auf drei Meter war vielleicht mehr, als der junge Mann verdiente, aber es gab ja auch keinen Grund, einen Menschen unnötig zu quälen.
Die beiden Alten schleiften den jungen Mann also in seine Zelle. Als sie ihn auf eine umgedrehte Kiste in der Ecke setzten und ihn mit dem Oberkörper an die Wand lehnten, stöhnte er leise. Offensichtlich erwachte er gerade wieder. Also nichts wie raus und die Tür ordentlich abschließen.
Gesagt, getan. Danach hievte Julius den Koffer auf den Küchentisch, musterte die Schlösser, leckte die Gabel ab, mit der er soeben Elchbraten mit Kartoffeln gegessen hatte, und brach in Sekundenschnelle das Schloss auf. Anschließend forderte er Allan auf, den Koffer selbst zu öffnen, denn immerhin war es ja sein Diebesgut.
»Was mir gehört, gehört auch dir«, erklärte Allan. »Mit der Beute machen wir halbe-halbe. Wenn da allerdings ein Paar Schuhe in meiner Größe drin sein sollte, nehm ich die.«
Er hob den Deckel.
»Das gibt’s doch nicht!«, rief Allan.
»Das gibt’s doch nicht!«, rief Julius.
»Lasst mich raus!«, tönte es aus dem Kühlraum.