19. KAPITEL Mittwoch, 11. Mai–Mittwoch, 25. Mai 2005
Die zur Fahndung Ausgeschriebenen und der mutmaßlich Tote auf Klockaregård schafften es, den Leuten aus dem Weg zu gehen. Der Hof lag zweihundert Meter von der Landstraße entfernt, und von der Straße aus gesehen lagen Wohnhaus und Stall direkt hintereinander und boten Sonja einen gewissen Raum, auf dem sie sich frei bewegen konnte. Sie konnte zwischen ihrem Stall und dem Wäldchen spazieren gehen, ohne aus vorüberfahrenden Autos gesehen zu werden.
Das Leben auf dem Hof war im Wesentlichen ganz gemütlich. Benny wechselte dem Piranha regelmäßig den Verband und verabreichte ihm mit Maß und Ziel die nötigen Medikamente. Buster mochte die Ebenen von Västergötland, weil man hier so weit sehen konnte, und Sonja gefiel es sowieso überall, solange sie nicht hungern musste und Frauchen sie ab und zu mit einem freundlichen Wort – oder zwei – bedachte. In letzter Zeit war da ja auch noch dieser alte Mann, und das gefiel dem Elefanten noch besser.
Für Benny und die Schöne Frau herrschte ständig eitel Sonnenschein, und das ganz wetterunabhängig. Wären sie nicht so dermaßen zur Fahndung ausgeschrieben gewesen, hätten sie vom Fleck weg Hochzeit gefeiert. Wenn man erst mal ein reiferes Alter erreicht hat, erkennt man viel leichter, was richtig für einen ist.
Außerdem hatten Benny und Bosse ein brüderlicheres Verhältnis denn je zuvor. Nachdem es Benny gelungen war, Bosse davon zu überzeugen, dass man erwachsen sein konnte, auch wenn man Saft statt Schnaps trank, wurde alles viel leichter. Und Bosse war schwer beeindruckt von den Dingen, die Benny alle konnte. Vielleicht war es ja doch weder albern noch Zeitverschwendung, auf die Universität zu gehen? Es war beinahe so, als wäre der kleine Bruder plötzlich der Ältere, und im Grunde fühlte sich das zur Abwechslung auch mal ganz gut an, fand Bosse.
Allan machte nicht viel Aufhebens von sich. Tagsüber saß er in seiner Hollywoodschaukel, auch wenn das Wetter inzwischen wieder eher so war, wie es in Schweden im Mai sein sollte. Manchmal setzte sich der Piranha auf ein Plauderstündchen zu ihm.
Bei einem dieser Gespräche stellte sich heraus, dass sie dieselbe Vorstellung vom Nirwana hatten. Die äußerste Harmonie lag darin, fanden beide, in einem Liegestuhl unter einem Sonnenschirm zu faulenzen, in einem sonnig-warmen Klima versteht sich, und sich vom Personal gekühlte Drinks aller Art servieren zu lassen. Allan erzählte dem Piranha, wie wunderschön er es damals auf Bali gehabt hatte, als er Urlaub mit dem Geld machte, das er von Mao Tse-tung bekommen hatte.
Doch bei der Frage, was im Glas sein sollte, schieden sich die Geister. Der Hundertjährige votierte für Wodka Cola oder vielleicht Wodka Grape. Zu festlichen Anlässen konnte er sich auch Wodka Wodka vorstellen. Der Piranha Gerdin hingegen zog lebhaftere Farben vor. Am liebsten Orange, das in Gelb überging, ungefähr wie ein Sonnenuntergang. Und obendrauf bitte ein Papierschirmchen. Allan fragte, was um alles in der Welt der Piranha denn mit diesem Schirmchen wolle. Das könne man doch sowieso nicht trinken. Der Piranha erwiderte, Allan habe sich sicherlich in der Welt umgesehen und wisse bestimmt über vieles besser Bescheid als ein alter Knacki aus Stockholm, aber das hier, das verstehe Allan eben einfach nicht.
Und so kabbelten sie sich noch eine Weile weiter über das Nirwana-Thema. Der eine war ungefähr doppelt so alt wie der andere und der andere doppelt so groß wie der eine, aber sie verstanden sich bestens.
Je mehr Tage und Wochen verstrichen, desto schwerer fiel es den Reportern, die Geschichte mit dem mutmaßlichen Dreifachmörder und seinen Helfershelfern am Leben zu halten. Schon nach ein paar Tagen hatten das Fernsehen und die seriösen Tageszeitungen ihre Berichterstattung eingestellt, weil sie der altmodisch-defensiven Ansicht anhingen, dass man einfach nichts sagte, wenn man nichts zu sagen hatte.
Die Boulevardpresse blieb noch länger dran. Wenn man nichts zu sagen hatte, konnte man immer noch jemanden interviewen oder zitieren, der nicht kapierte, dass er auch nichts zu sagen hatte. Allerdings verwarf der Expressen irgendwann die Idee, mit Hilfe von Tarotkarten Spekulationen zu Allans momentanem Aufenthaltsort anzustellen. Bis auf Weiteres wurde nichts mehr über Allan Karlsson geschrieben. Mit frischem Appetit auf den nächsten Schiet, wie es so schön hieß; will sagen, etwas Neues war gefragt, womit man die Nation in Bann schlagen konnte. Schlimmstenfalls irgendeine neue Diät, das zog immer.
Die Medien ließen das Rätsel um den Hundertjährigen also langsam in Vergessenheit geraten – mit einer Ausnahme. Im Eskilstuna-Kuriren berichtete man laufend über diverse lokale Ereignisse, die mit dem Verschwinden von Allan Karlsson in Verbindung standen, zum Beispiel, dass man bei den Schaltern im Reisezentrum jetzt eine neue Sicherheitstür installiert hatte, um vor zukünftigen Überfällen geschützt zu sein. Oder dass Schwester Alice im Altersheim beschlossen hatte, Allan Karlsson habe das Recht auf sein Zimmer verwirkt – das sollte jetzt an jemand anders gehen, der »die Fürsorge und menschliche Wärme des Personals besser zu schätzen wusste«.
Bei jedem dieser Artikel wurden kurz die Ereignisse zusammengefasst, die nach Auffassung der Polizei darauf zurückzuführen waren, dass Allan Karlsson aus seinem Fenster im Altersheim Malmköping geklettert war.
Der verantwortliche Herausgeber des Eskilstuna-Kuriren war jedoch ein alter Kauz, der die hoffnungslos abgedroschene Ansicht vertrat, dass jeder Bürger unschuldig war, bis das Gegenteil bewiesen war. Allan Karlsson war zwar auch im Kuriren Allan Karlsson, aber Julius Jonsson war »der Siebenundsechzigjährige« und Benny Ljungberg »der Imbissbudenbetreiber«.
Daraufhin rief eines Tages ein erboster Herr im Büro von Kommissar Aronsson an. Er sagte, er wolle anonym bleiben, habe aber stark das Gefühl, dass er einen entscheidenden Hinweis liefern könne, was den verschwundenen Mordverdächtigen Allan Karlsson betraf.
Kommissar Aronsson war selbst am Telefon und sagte, entscheidende Hinweise seien genau das, was er brauche, und seinetwegen könne der Anrufer gern anonym bleiben.
Nun, der Mann hatte im Laufe des Monats sämtliche Artikel im Eskilstuna-Kuriren gelesen und gründlich über die Ereignisse nachgedacht. Er meinte, er habe natürlich nicht annähernd so viele Informationen wie der Kommissar, aber nach dem, was man so in der Zeitung las, sah es doch ganz so aus, als habe die Polizei gegen diesen Ausländer nicht richtig ermittelt.
»Ich bin nämlich sicher, dann hätten Sie den wahren Verbrecher«, meinte der anonyme Mann.
»Was für ein Ausländer denn?«, fragte Kommissar Aronsson.
»Na, ob der jetzt Ibrahim oder Mohammed heißt, kann ich natürlich nicht wissen, die Zeitung nennt ihn ja immer ganz rücksichtsvoll den ›Imbissbudenbesitzer‹, als würden wir Leser dann nicht kapieren, dass er Türke oder Araber oder Muslim ist oder was weiß ich. Denn ein Schwede würde ja wohl kaum eine Imbissbude aufmachen, vor allem nicht in Åkers Styckebruk. Das geht nur, wenn man Ausländer ist und keine Steuern zahlt.«
»Hoppla«, sagte Aronsson. »Das war jetzt aber ein bisschen viel auf einmal. Man kann natürlich auch Türke und Muslim gleichzeitig sein, oder auch Araber und Muslim. Aber der Ordnung halber möchte ich sagen …«
»Ist er etwa Türke und Muslim? Noch schlimmer! Dann knöpfen Sie sich den mal ordentlich vor! Den und seine ganze verdammte Familie. Der hat doch garantiert hundert Verwandte, die hier alle von Sozialhilfe leben.«
»Keine hundert«, korrigierte der Kommissar. »Sein einziger Verwandter ist sein Bruder …«
Doch in dem Moment kam Kommissar Aronsson ein Gedanke. Vor ein paar Wochen hatte er Informationen über die Familienverhältnisse von Allan Karlsson, Julius Jonsson und Benny Ljungberg angefordert. Er hatte gehofft, dass bei den Nachforschungen eine – gerne rothaarige – Schwester oder Cousine oder Tochter oder Enkelin mit Wohnsitz in Småland auftauchen würde. Das war noch, bevor Gunilla Björklund identifiziert worden war. Die Resultate waren insgesamt recht mager ausgefallen. Im Grunde war nur ein Name aufgetaucht, der damals nicht relevant war – aber vielleicht jetzt? Benny Ljungberg hatte nämlich einen Bruder, der in der Nähe von Falköping lebte. Versteckten sie sich am Ende alle dort? Die Stimme des Anonymen riss den Kommissar wieder aus seinen Gedanken:
»Wo hat dieser Bruder denn seinen Imbissstand? Wie viel Steuern zahlt der denn bitte? Die kommen ins Land und ermorden unsere prachtvolle schwedische Jugend. Mit dieser Masseneinwanderung muss endlich Schluss sein! Hören Sie mich?«
Aronsson sagte, dass er ihn sehr gut höre und dass er für den Hinweis des Mannes auch dankbar sei, obwohl der Imbissbudenbesitzer in diesem Fall Ljungberg hieß und ganz schrecklich schwedisch war, also weder Türke noch Araber. Ob Ljungberg Muslim sei, könne er nicht sagen, das interessiere ihn auch nicht weiter.
Der Mann erwiderte, er ahne da einen mokanten Ton in der verlogenen Antwort, und diese sozialdemokratische Attitüde sei ihm sattsam bekannt.
»Wir sind viele, und wir werden immer mehr, das werden Sie schon merken, wenn nächstes Jahr wieder Wahlen sind«, verkündete der Anonyme.
Tatsächlich befürchtete Kommissar Aronsson, dass der Anonyme mit seiner letzten Bemerkung recht hatte. Ein intelligenter, einigermaßen aufgeklärter Mensch wie der Kommissar konnte nichts Schlimmeres tun, als dem Anonymen zu sagen, dass er sich zum Teufel scheren solle, und den Hörer auf die Gabel zu knallen. Denn mit Leuten wie diesem Anrufer musste man ja das Gespräch suchen, sie mit Argumenten überzeugen.
Dachte der Kommissar. Dann sagte er dem Anonymen, dass er sich zum Teufel scheren solle, und knallte den Hörer auf die Gabel.
Aronsson rief Staatsanwalt Ranelid an, um ihm mitzuteilen, dass er vorhatte, sich gleich am nächsten Morgen mit der Erlaubnis des Staatsanwalts nach Västergötland zu begeben, um dort einem neuen Hinweis im Fall des Hundertjährigen und seiner Komplizen nachzugehen (Aronsson hielt es für überflüssig, zu erwähnen, dass er seit Wochen von der Existenz von Benny Ljungbergs Bruder gewusst hatte). Ranelid wünschte Aronsson viel Glück. Er war ganz aus dem Häuschen bei dem Gedanken, dass er bald zu der exklusiven Schar von Staatsanwälten gehören würde, denen es gelungen war, den Angeklagten für Mord oder Totschlag verurteilen zu lassen (oder zumindest für Beihilfe zu einem von beidem), obwohl man die Leiche nicht gefunden hatte – allerdings zum ersten Mal bei einem Fall mit mehr als einem Opfer. Natürlich mussten Karlsson und sein Gefolge erst einmal auftauchen, aber das war ja nur noch eine Frage der Zeit. Vielleicht würde Aronsson sie ja schon am nächsten Tag aufstöbern.
Es war kurz vor fünf, als der Staatsanwalt seine Sachen zusammenpackte. Dabei pfiff er leise vor sich hin und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Sollte er vielleicht ein Buch über diesen Fall schreiben? Der größte Sieg der Gerechtigkeit. War das ein guter Titel? Oder klang das zu prätentiös? Der große Sieg der Gerechtigkeit. Besser. Und bescheidener. Ganz im Einklang mit der Persönlichkeit des Verfassers.