25. KAPITEL Freitag, 27. Mai 2005
Eskilstuna–Falköping gehört nicht zu den Strecken, die man in einer Viertelstunde zurücklegt. Staatsanwalt Conny Ranelid hatte im Morgengrauen aufstehen müssen (nachdem er obendrein äußerst schlecht geschlafen hatte), um um zehn Uhr auf Klockaregård zu sein. Das Treffen selbst durfte dann auch nicht länger als eine Stunde dauern, weil die Pressekonferenz ja schon wieder um drei Uhr beginnen sollte.
Als Ranelid auf der E20 bei Örebro hinter dem Steuer saß, war er den Tränen nahe. Der große Sieg der Gerechtigkeit, so hätte sein Buch heißen sollen. Pah! Wenn es auch nur einen Hauch von Gerechtigkeit gäbe, müsste sofort der Blitz in dieses verdammte Anwesen einschlagen und alle, die sich dort aufhielten, verbrennen. Dann könnte sich der Staatsanwalt für die Journalisten auch ausdenken, was er wollte.
In seinem Hotel in Falköping hatte sich Kommissar Aronsson gründlich ausgeschlafen – das war schon lange mal wieder fällig gewesen. Gegen neun Uhr wachte er auf und spürte einen Stich von Reue, als er daran dachte, wie er mit den potenziellen Verbrechern mit Champagner angestoßen hatte. Außerdem hatte er klar und deutlich gehört, wie Allan sagte, dass sie sich eine Geschichte für Staatsanwalt Ranelid ausdenken sollten. Machte Aronsson sich am Ende gerade mitschuldig? Und wenn ja, woran?
Als er am Abend zuvor ins Hotel gekommen war, hatte er – auf Bosse Ljungbergs Empfehlung hin – die Bibel herausgesucht, die der Gideonbund verdienstvollerweise in eine der Schreibtischschubladen gelegt hatte, und das Johannesevangelium, Kapitel 8, Vers 7 aufgeschlagen. Dann saß er mehrere Stunden in der Hotelbar und las in der Bibel. Ein Gin Tonic leistete ihm dabei Gesellschaft, anschließend noch ein Glas Gin Tonic, und zum Schluss noch ein Gin Tonic.
Das genannte Kapitel handelte von der Ehebrecherin, die die Pharisäer vor Jesus geschleppt hatten, um ihn vor ein Dilemma zu stellen. Wenn er sagte, dass die Frau nicht für ihr Verbrechen gesteinigt werden solle, verstieß Jesus gegen das Gebot Mose (3. Buch Mose). Stellte er sich hingegen auf Moses’ Seite, geriet er in Konflikt mit den Römern, denen Blutgerichtsbarkeit allein oblag. Sollte er sich also mit Moses anlegen oder mit den Römern? Die Pharisäer rieben sich schon die Hände, weil sie glaubten, den Rabbi in die Enge getrieben zu haben. Doch Jesus war eben Jesus, und nach einer gewissen Bedenkzeit sagte er:
»Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.«
Damit hatte er nicht nur den Konflikt mit Moses und den Römern vermieden, sondern auch den mit den Pharisäern. Und trotzdem war die Sache erledigt. Die Pharisäer konnten sich schleichen, einer nach dem anderen (denn die Menschen sind ja im Allgemeinen nicht ohne Sünde). Zum Schluss war Jesus mit der Frau allein.
»Weib, wo sind sie, deine Verkläger? Hat dich niemand verdammt?«
Sie antwortete:
»Herr, niemand.«
Und dann sagte Jesus:
»So verdamme ich dich auch nicht; gehe hin und sündige hinfort nicht mehr.«
Der Kommissar besaß genug Polizisteninstinkt, um zu wittern, dass hier immer noch der eine oder andere Hund begraben lag. Doch Karlsson und Jonsson und Ljungberg und Ljungberg und Björklund und Gerdin waren seit gestern ja vom eitlen Ranelid für unschuldig erklärt worden, und wer war Aronsson, sie jetzt noch Verbrecher zu nennen? Außerdem handelte es sich bei ihnen ja um eine besonders sympathische Gruppe, und – wie Jesus ganz richtig bemerkt hatte – wer konnte schon den ersten Stein werfen? Aronsson dachte an so manchen dunkleren Augenblick seines eigenen Lebens zurück, aber vor allem regte er sich über Staatsanwalt Ranelid auf, der dem durch und durch liebenswerten Piranha Gerdin den Tod gewünscht hatte, nur damit er selbst besser dastand.
»Nee, nee, das lös du mal schön allein, Ranelid«, sagte Kommissar Göran Aronsson und nahm den Fahrstuhl in den Frühstückssaal des Hotels.
Zu Cornflakes, Toast und Eiern genoss er die Lektüre von Dagens Nyheter und Svenska Dagbladet. In beiden Zeitungen sprach man vorsichtig von einem Fiasko für die Staatsanwaltschaft im Falle des verschwundenen und zwischenzeitlich des Mordes verdächtigten, inzwischen aber schon wieder für unschuldig erklärten Hundertjährigen. Allerdings mussten die Zeitungen zugeben, dass sie noch zu wenig über die Sache wussten. Der Alte selbst war unauffindbar, und der Staatsanwalt wollte vor Freitagnachmittag nicht mehr verraten.
»Wie gesagt«, wiederholte Aronsson. »Das lös du mal schön allein, Ranelid.«
Dann bestellte er sich ein Taxi nach Klockaregård, wo er um 9.51 Uhr eintraf, genau drei Minuten vor dem Staatsanwalt.
Für den von Ranelid so heiß ersehnten Blitzschlag bestand keinerlei meteorologisches Risiko. Doch es war trübe und kühl. Daher hatten die Bewohner des Hofes auch in der geräumigen Küche gedeckt.
Am Abend zuvor hatte sich die Gruppe auf eine alternative Schilderung der Geschehnisse geeinigt, die man Staatsanwalt Ranelid unterjubeln wollte, und zur Sicherheit hatten sie diese Version zum Frühstück noch einmal durchgespielt. Jetzt waren alle Rollen für das vormittägliche Schauspiel verteilt. Nun kann man sich ja immer viel leichter an die Wahrheit erinnern als – wie in diesem Fall – an ihr Gegenteil. Wenn einer schlecht lügt, kann das übel für ihn ausgehen, deswegen mussten die Mitglieder der Gruppe jetzt ihre Zunge hüten. Außerdem war alles gestattet, womit man Staatsanwalt Ranelid ablenken konnte.
»Verflucht und zugenäht, verdammte Hacke aber auch«, fasste die Schöne Frau die allgemeine Anspannung zusammen, bevor Kommissar Aronsson und Staatsanwalt Ranelid die Küche betraten.
Das Treffen mit Staatsanwalt Conny Ranelid gestaltete sich für manche fröhlicher als für andere. Es verlief ungefähr so:
»So, ich möchte mich zunächst bedanken, dass Sie mich hier empfangen, ich weiß das wirklich zu schätzen«, begann Ranelid. »Und ich möchte mich im Namen … der Staatsanwaltschaft entschuldigen, dass gegen einige von Ihnen grundlos Haftbefehl erlassen wurde. Nichtsdestoweniger will ich zu gerne wissen, was wirklich passiert ist, von dem Moment an, in dem Herr Karlsson aus dem Fenster des Altersheims geklettert ist, bis heute. Wollen Sie vielleicht anfangen, Herr Karlsson?«
Dagegen hatte Allan nichts einzuwenden. Er dachte sich, dass das alles bestimmt noch ganz lustig werden könnte. Also machte er den Mund auf und sagte:
»Das kann ich absolut, Herr Staatsanwalt, auch wenn ich alt und gebrechlich bin und es mit meinem Gedächtnis nun mal nicht mehr zum Besten steht. Aber ich kann mich auf jeden Fall erinnern, dass ich aus diesem Fenster geklettert bin, o ja. Und das hatte alles seine guten Gründe. Sie müssen wissen, Herr Staatsanwalt, dass ich zu meinem Freund Julius Jonsson unterwegs war, und zu dem kommt man nicht gern ohne eine Flasche Schnaps, und eine solche hatte ich in einem unbeobachteten Moment im Spirituosengeschäft gekauft. Ja, heutzutage braucht man an und für sich ja gar nicht mehr zum Spirituosengeschäft zu gehen, es reicht ja, wenn man einen kurzen Anruf beim … na ja, seinen Namen sag ich dem Herrn Staatsanwalt jetzt lieber nicht, denn deswegen ist der Herr Staatsanwalt ja nicht hier, aber er wohnt zentral und verkauft privat importierten Schnaps für weniger als die Hälfte des Ladenpreises. Na ja, wie dem auch sei, zu dem Zeitpunkt war Eklund eben nicht zu Hause – hoppla, nun ist mir sein Name doch glatt rausgerutscht –, und da hatte ich keine andere Wahl, als das Zeug im Spirituosenhandel zu kaufen. Dann schmuggelte ich die Flasche in mein Zimmer, und normalerweise ist das Problem dann damit gelöst, aber diesmal sollte der Schnaps ja auch wieder mit raus, und zwar ausgerechnet da, wo die Oberschwester Dienst hatte, und die hat hinten Augen, das kann ich dem Herrn Staatsanwalt versichern. Schwester Alice heißt sie, und die lässt sich so schnell nicht hinters Licht führen. Deswegen dachte ich mir, ich sollte diesmal wohl lieber den Weg durchs Fenster nehmen, wenn ich zu Julius wollte. Außerdem war an dem Tag ja mein hundertster Geburtstag, und mal ganz ehrlich, wer will sich seinen Geburtstagsschnaps beschlagnahmen lassen, wenn er hundert wird?«
Der Staatsanwalt ahnte bereits, dass die Sache länger dauern könnte. Der alte Karlsson plapperte jetzt schon eine ganze Weile, ohne wirklich etwas gesagt zu haben. Und in einer knappen Stunde musste sich Ranelid schon wieder auf den Rückweg nach Eskilstuna machen.
»Herr Karlsson, vielen Dank für den interessanten Einblick in Ihre Bemühungen, sich einen Schnaps für Ihren Jubeltag zu beschaffen. Aber ich hoffe, Sie werden entschuldigen, wenn ich Sie bitte, ein wenig stringenter zu erzählen, denn die Zeit drängt, das verstehen Sie doch sicher? Wie war das denn nun mit dem Koffer und der Begegnung mit Bolzen Bylund im Reisezentrum Malmköping?«
»Ja, wie war das denn nun? Per-Gunnar hatte Julius angerufen, und der rief mich an … Julius meinte, Per-Gunnar wolle, dass ich die Verantwortung für diese Bibeln übernehme, und das konnte ich ja problemlos machen, denn ich …«
»Für die Bibeln?«, unterbrach ihn Staatsanwalt Ranelid.
»Wenn der Staatsanwalt gestattet, kann ich mich an dieser Stelle vielleicht einmischen und ein paar Hintergrundinformationen beisteuern?«
»Nur zu gern«, sagte Ranelid.
»Ja, wie gesagt, Allan ist ein guter Freund von Julius aus Byringe, der wiederum ein guter Freund von Per-Gunnar ist – das ist der, den der Herr Staatsanwalt für tot hielt –, und Per-Gunnar ist wiederum ein guter Freund von mir. Ich bin zum einen der Bruder von meinem Bruder Bosse, dem Gastgeber dieser gemütlichen Zusammenkunft, und zum anderen der Verlobte von Gunilla, das ist die schöne Frau hier am Kopfende. Gunilla beschäftigt sich mit Exegetik und hat gewisse Berührungspunkte mit Bosse, der Bibeln verkauft – unter anderem auch an Per-Gunnar.«
Der Staatsanwalt saß mit dem Stift in der Hand vor seinem Blatt Papier, aber das war alles zu schnell gegangen, und er hatte kein Wort mitgeschrieben. Ihm fiel im ersten Moment nichts Besseres ein, als nachzufragen:
»Mit Exegetik?«
»Ja, Bibelauslegung«, erklärte die Schöne.
Bibelauslegung?, dachte Kommissar Aronsson, der stumm neben dem Staatsanwalt saß. War es denn überhaupt möglich, die Bibel auszulegen, wenn man so viel fluchte, wie Aronsson die Schöne Frau am Abend zuvor hatte fluchen hören? Doch er schwieg. Diese Sache musste nun ein für alle Mal der Staatsanwalt selbst klären.
»Bibelauslegung?«, echote Ranelid. Doch im nächsten Moment beschloss er, das Thema zu übergehen. »Vergessen Sie’s. Erzählen Sie mir lieber, wie das mit dem Koffer und diesem Bolzen Bylund im Reisezentrum Malmköping war.«
Jetzt war es an Per-Gunnar, sich in die laufende Vorstellung einzuschalten.
»Gestatten Herr Staatsanwalt, dass ich auch etwas sage?«, fragte er.
»Selbstverständlich«, sagte Staatsanwalt Ranelid. »Solange es der Wahrheitsfindung dient, dürfte sich der Leibhaftige selbst dazu äußern.«
»Puh, was dieser Mann für Ausdrücke in den Mund nimmt!«, sagte die Schöne Frau und verdrehte die Augen (und damit war Kommissar Aronsson endgültig sicher, dass die vier den Staatsanwalt an der Nase herumführten).
»Der Leibhaftige ist vielleicht keine ganz adäquate Beschreibung meiner Person, da ich Jesus getroffen habe«, sagte Per-Gunnar Gerdin. »Sie wissen sicher, dass ich der Anführer einer Organisation namens Never Again war. Dieser Name spielte darauf an, dass die Mitglieder nie wieder hinter Gittern landen sollten, obwohl es ausreichend legale Gründe dafür gegeben hätte, sie einzusperren. Doch seit einer Weile hat sich die Bedeutung geändert. Nie wieder werden wir nämlich in Versuchung geraten, gegen das Gesetz zu verstoßen, nicht gegen menschliches, und ganz sicher nie wieder gegen himmlisches Gesetz!«
»Hat Bolzen deswegen einen Wartesaal zerlegt, einen Schalterbeamten misshandelt und anschließend einen Bus samt Chauffeur entführt?«, erkundigte sich Staatsanwalt Ranelid.
»Oh, jetzt glaube ich fast einen gewissen Sarkasmus herauszuhören«, sagte Per-Gunnar Gerdin. »Aber nur, weil ich das Licht gesehen habe, bedeutet das ja noch lange nicht, dass es meinen Mitarbeitern ebenso erging. Einer von ihnen hat sich zwar zur Missionsarbeit nach Südamerika begeben, aber mit den beiden anderen ist es übel ausgegangen. Bolzen hatte ich beauftragt, diesen Koffer mit den zweihundert Bibeln auf Bosses Weg von Uppsala zurück nach Falköping abzuholen. Mit diesen Bibeln wollte ich Freude verbreiten unter den schlimmsten Schurken des Landes, wenn Sie meine Ausdrucksweise verzeihen wollen.«
Bis jetzt hatte der Eigentümer von Klockaregård, Bosse, schweigend danebengesessen. Doch jetzt wuchtete er einen schweren grauen Koffer auf den Tisch und zog den Reißverschluss auf. Darin lagen stapelweise Slimline-Bibeln mit schwarzem Echtledereinband, Goldschnitt, Querverweisen, drei Lesebändchen, Personenregister, Empfehlungen zur Bibellektüre, farbigem Kartenmaterial und vielem mehr.
»Eine eindrucksvollere Bibellektüre als diese können Sie gar nicht haben«, sagte Bosse Ljungberg im Brustton der Überzeugung. »Gestatten Sie, dass ich Ihnen eine davon schenke? Auch Staatsanwälte tun gut daran, das Licht zu suchen, müssen Sie wissen!«
Bosse war der Erste in der Gruppe, der dem Staatsanwalt keinen reinen Unfug auftischte, sondern tatsächlich meinte, was er sagte. Und das musste Ranelid auch gespürt haben, denn plötzlich begann er zu bezweifeln, dass dieses ganze Bibelgerede nur Tarnung war. Er ergriff die Bibel, die Bosse ihm hinhielt, und dachte, dass ihn jetzt vielleicht sowieso nur noch eine spontane Bekehrung aus seiner Zwangslage retten konnte. Doch das sagte er nicht. Stattdessen fragte er:
»Können wir bitte zur Schilderung der Vorfälle zurückkommen? Was ist denn nun mit diesem verdammten Koffer in Malmköping passiert?«
»Nicht fluchen!«, ermahnte ihn die Schöne Frau.
»Soll ich jetzt vielleicht wieder weitererzählen?«, schlug Allan vor. »Also, ich musste etwas früher zum Reisezentrum als gedacht, da Julius mich in Per-Gunnars Auftrag darum gebeten hatte. Es hieß, Bolzen Bylund habe gerade Per-Gunnar in Stockholm angerufen und sei ein bisschen angeschickert gewesen – wenn Sie meine Ausdrucksweise nochmals entschuldigen wollen! Aber das weiß der Herr Staatsanwalt ja schon, oder vielleicht auch nicht, denn ich kenne Ihre Trinkgewohnheiten ja nicht und möchte Ihnen nichts unterstellen, aber auf jeden Fall … Wo war ich noch mal stehen geblieben? Ach ja, ich wollte sagen, Sie wissen ja, wo der Schnaps hineingeht, da geht der Verstand heraus, oder wie das heißt. Übrigens saß ich selbst schon mal in berauschtem Zustand in einem U-Boot in zweihundert Meter Tiefe mitten in der Ost…«
»In Gottes Namen, jetzt kommen Sie doch endlich zur Sache«, bat Staatsanwalt Ranelid.
»Nicht den Namen des Herrn missbrauchen!«, ermahnte ihn die Schöne Frau.
Staatsanwalt Ranelid stützte die Stirn in eine Hand, während er ein paarmal tief durchatmete. Unterdessen fuhr Allan Karlsson fort:
»Ja, also Bolzen Bylund hatte Per-Gunnar in Stockholm angerufen und ihm lallend mitgeteilt, dass er seine Mitgliedschaft im Bibelclub kündigen und lieber Fremdenlegionär werden wollte. Aber vorher – nur gut, dass Sie schon sitzen, Herr Staatsanwalt, denn jetzt muss ich etwas ganz Schreckliches erzählen – vorher wollte er auf dem Marktplatz in Malmköping noch die ganzen Bibeln verbrennen!«
»Wortwörtlich soll er gesagt haben: ›diese ganzen verfluchten Scheißbibeln‹«, erläuterte die Schöne Frau.
»Natürlich wurde ich sofort losgeschickt, um Herrn Bolzen zu suchen und ihm den Koffer abzunehmen, bevor es zu spät war. Die Zeit ist ja oft knapp, manchmal knapper, als man ahnt. Wie zum Beispiel damals, als General Franco in Spanien um ein Haar vor meinen Augen in die Luft gesprengt worden wäre. Aber seine Mitarbeiter waren unglaublich geistesgegenwärtig, packten ihren General und trugen ihn in Sicherheit. Die dachten nicht lange nach, die handelten einfach.«
»Was hat General Franco denn mit dieser Geschichte zu tun?«, wollte Staatsanwalt Ranelid wissen.
»Überhaupt gar nichts, Herr Staatsanwalt, ich wollte ihn nur als erhellendes Beispiel nennen. Man kann sich nie deutlich genug ausdrücken.«
»Wie wäre es dann, wenn Sie sich ebendarum bemühen würden, Herr Karlsson? Was ist dann mit dem Koffer passiert?«
»Tja, der Herr Bolzen wollte ihn nicht aus der Hand geben, und meine körperliche Verfassung gestattete mir nicht, den Koffer mit Gewalt an mich zu nehmen – übrigens nicht nur meine körperliche Verfassung, rein prinzipiell finde ich, dass es ganz furchtbar ist, wenn die Menschen …«
»Nun bleiben Sie doch endlich mal beim Thema!«
»Ja, entschuldigen Sie, Herr Staatsanwalt. Also, als der Herr Bolzen ganz plötzlich die sanitären Anlagen des Reisezentrums aufsuchen musste, nutzte ich die Gelegenheit. Der Koffer und ich verschwanden im Bus nach Strängnäs und fuhren Richtung Byringe, zum guten alten Julius, oder Julle, wie wir ihn manchmal nennen.«
»Julle?«, echote der Staatsanwalt, dem nichts Intelligenteres mehr einfiel.
»Oder Julius«, sagte Julius. »Angenehm.«
Der Staatsanwalt schwieg wieder eine Weile. Jetzt hatte er tatsächlich angefangen, sich die eine oder andere Notiz zu machen, und es sah so aus, als würde er Striche und Pfeile aufs Papier malen. Dann wandte er ein:
»Aber Karlsson hat das Busticket doch mit einem Fünfziger bezahlt und sich dabei erkundigt, wie weit er damit kommt. Wie passt das zu seinem Vorhaben, nach Byringe zu fahren und nirgendwo anders hin?«
»Ach, Unsinn«, sagte Allan. »Ich weiß doch, was die Fahrt nach Byringe kostet. Ich hatte nur gerade einen Fünfziger in der Brieftasche und hab mir einen kleinen Scherz erlaubt. Das ist doch wohl noch nicht verboten, oder, Herr Staatsanwalt?«
Ranelid machte sich nicht die Mühe zu erörtern, inwieweit ein kleiner Scherz verboten war. Stattdessen forderte er Allan erneut auf, sein Erzähltempo etwas zu steigern.
»Was ist dann passiert – in groben Zügen?«
»In groben Zügen? In groben Zügen ist passiert, dass Julius und ich einen gemütlichen Abend zusammen verbrachten, bis irgendwann Herr Bolzen gegen die Tür bolzte, wenn der Herr Staatsanwalt das Wortspiel gestattet. Doch da wir Schnaps auf dem Tisch hatten – Sie erinnern sich vielleicht noch von vorhin, dass ich eine Flasche Schnaps dabeihatte, und um genau zu sein, es war nicht nur eine Flasche, sondern zwei, man sollte schließlich auch in den kleinsten Details bei der Wahrheit bleiben, und wer bin ich schon, dass ich beurteilen könnte, was in dieser Geschichte wichtig oder weniger wichtig wäre, das muss der Herr Staatsanw…«
»Erzählen Sie weiter!«
»Entschuldigung. Ja, also der Herr Bolzen war schon nicht mehr ganz so wütend, als wir ihm Elchbraten und Schnaps auftischten. Im Laufe des Abends kam er zu dem Entschluss, die Bibeln doch nicht zu verbrennen, zum Dank für den Schnaps, den wir ihm spendiert hatten. Der Alkohol hat eben auch seine positiven Seiten, finden Sie nicht, Herr St…«
»Erzählen Sie weiter!«
»Am nächsten Morgen hatte der Herr Bolzen einen schrecklichen Kater, wenn Sie verstehen, was ich meine, Herr Staatsanwalt. Ich habe ja seit Frühjahr ’45 keinen Kater mehr gehabt – damals habe ich versucht, Vizepräsident Truman mit Tequila unter den Tisch zu trinken. Leider starb in dem Moment Präsident Roosevelt, deswegen mussten wir unsere kleine Feier vorzeitig abbrechen, aber das war vielleicht nicht das Verkehrteste, denn am nächsten Tag … mein Lieber, da ging es vielleicht rund in meinem Schädel! Da ging es mir nur unwesentlich besser als Roosevelt, möchte ich fast sagen.«
Während Staatsanwalt Ranelid überlegte, was er sagen sollte, zwinkerte er nervös. Schließlich gewann seine Neugier die Oberhand. Außerdem rutschte ihm vor lauter Verwirrung prompt das Du heraus.
»Was redest du da eigentlich die ganze Zeit? Hast du tatsächlich Tequila mit Vizepräsident Truman getrunken, als Roosevelt das Zeitliche segnete?«
»Na ja, gesegnet hat der wohl nicht mehr viel«, meinte Allan. »Aber ich verstehe schon, worauf Sie hinauswollen. Doch wir wollen uns jetzt ja nicht an Details aufhängen, oder was meinen Sie, Herr Staatsanwalt?«
Der Staatsanwalt meinte gar nichts, worauf Allan fortfuhr:
»Der Herr Bolzen war auf jeden Fall nicht in der Lage, uns beim Fortbewegen der Draisine zu helfen, als wir am nächsten Tag nach Åkers Styckebruk aufbrachen.«
»Er hatte ja nicht mal Schuhe an, wenn ich das recht verstanden habe«, sagte der Staatsanwalt. »Können Sie mir das erklären?«
»Hach, wenn Sie gesehen hätten, was für einen Kater der Herr Bolzen hatte – der hätte sich auch in der Unterhose auf die Draisine gesetzt.«
»Und Ihre eigenen Schuhe? Ihre Pantoffeln wurden ja später in der Küche von Julius Jonsson gefunden.«
»Ja, also, Schuhe hab ich mir natürlich von Julius geliehen. Wenn man hundert Jahre alt ist, kann es schon mal vorkommen, dass man in Pantoffeln losläuft. Das werden Sie schon noch merken, wenn Sie noch so vierzig, fünfzig Jahre abwarten.«
»So lange lebe ich sicher nicht«, meinte Staatsanwalt Ranelid. »Im Moment frage ich mich, ob ich überhaupt dieses Gespräch überlebe. Wie können Sie mir erklären, dass der Draisine Leichengeruch anhaftete, als sie gefunden wurde?«
»Was Sie nicht sagen, Herr Staatsanwalt. Tja, der Herr Bolzen hat die Draisine ja als Letzter verlassen, das müsste er Ihnen also selbst erzählen, aber nun ist er ja da unten in Dschibuti so unglücklich ums Leben gekommen. Wäre es wohl vorstellbar, dass ich an diesem Geruch schuld gewesen bin, Herr Staatsanwalt? Ich bin zwar noch nicht tot, das nicht, aber ich bin weiß Gott uralt … Könnte vielleicht so eine Art verfrühter Leichengeruch von mir ausgehen?«
Jetzt wurde der Staatsanwalt langsam ungeduldig. Die Zeit tickte ihm davon, und sie waren noch nicht mal über die ersten vierundzwanzig Stunden der fraglichen sechsundzwanzig Tage hinausgekommen. Was der alte Tattergreis hier von sich gab, war ja zu neunzig Prozent unwichtiger Quatsch.
»Erzählen Sie weiter!«, befahl Ranelid, ohne weiter auf die Leichengeruchsfrage einzugehen.
»Na ja, wir haben den schlafenden Herrn Bolzen dann auf der Draisine zurückgelassen und sind zu dem Imbissstand spaziert, der von Per-Gunnars Freund Benny betrieben wurde.«
»Haben Sie auch gesessen?«, erkundigte sich der Staatsanwalt.
»Nein, aber ich habe Kriminologie studiert«, erklärte Benny wahrheitsgemäß. Dann fügte er die Lüge hinzu, dass er im Zusammenhang mit diesem Studium Häftlinge in Hall befragt und dabei Per-Gunnars Bekanntschaft gemacht habe.
Staatsanwalt Ranelid schien sich noch eine Notiz zu machen und bat Allan Karlsson anschließend mit eintöniger Stimme:
»Erzählen Sie weiter!«
»Gern. Benny sollte Julius und mich ja nach Stockholm fahren, damit wir Per-Gunnar den Koffer mit den Bibeln übergeben konnten. Aber dann meinte Benny, er würde gern einen Umweg über Småland machen, wo seine Verlobte wohnt … Gunilla …«
»Friede Ihrer Hütte!«, sagte Gunilla und nickte Staatsanwalt Ranelid zu.
Staatsanwalt Ranelid bedachte die Schöne Frau ebenfalls mit einem kurzen Nicken und wandte sich dann wieder Allan zu, der bereits fortfuhr:
»Benny kannte Per-Gunnar ja am besten, und er meinte, Per-Gunnar könnte sicher noch ein paar Tage auf seine Bibeln warten, da stehen ja nun nicht unbedingt die ganz tagesaktuellen Nachrichten drin. Da muss man ihm sicher recht geben. Obwohl man ja auch nicht in alle Ewigkeit warten kann, denn wenn Jesus erst einmal auf die Erde zurückgekehrt ist, sind alle Kapitel zu seiner Wiederkunft ja doch überholt …«
»Nun schweifen Sie nicht schon wieder ab, Karlsson. Bleiben Sie beim Thema!«
»Selbstverständlich, Herr Staatsanwalt! Ich bleibe selbstverständlich beim Thema, denn alles andere kann weiß Gott ins Auge gehen. Ich kann Ihnen sagen, wenn das jemand weiß, dann ich. Wenn ich nicht beim Thema geblieben wäre, als ich in der Mandschurei vor Mao Tse-tung stand, wäre ich mit Sicherheit auf der Stelle erschossen worden.«
»Das wäre sicherlich das Beste gewesen«, sagte Staatsanwalt Ranelid und gab Allan mit einer Geste zu verstehen, dass er sich beeilen sollte.
»Ja, wie auch immer, Benny meinte, dass Jesus bestimmt nicht auf die Erde zurückkehren würde, während wir gerade in Småland sind, und soviel ich weiß, sollte er damit recht behalten …«
»Karlsson!«
»Ja, ja, schon gut. Na, wir fuhren also alle drei nach Småland. Julius und mir gefiel dieses kleine Abenteuer, aber dummerweise setzten wir Per-Gunnar nicht davon in Kenntnis. Das war natürlich ein Fehler.«
»Allerdings war das ein Fehler«, mischte sich Per-Gunnar Gerdin nun ein. »Natürlich hätte ich noch ein paar Tage auf die Bibeln warten können, das war nicht das Problem. Aber Sie müssen verstehen, Herr Staatsanwalt, ich dachte, dass Bolzen irgendwelche Dummheiten mit Julius, Allan und Benny ausgeheckt hat. Denn Bolzen hatte die Idee nie gefallen, dass Never Again das Evangelium verbreiten sollte. Und was man so in der Zeitung lesen konnte, war ja auch nicht gerade beruhigend!«
Der Staatsanwalt nickte und machte sich weitere Notizen. Vielleicht kam langsam ja doch so etwas wie Logik in die Geschichte. Er wandte sich an Benny:
»Aber als Sie von einem vermutlich gekidnappten Hundertjährigen lasen, von Never Again und dem ›Meisterdieb‹ Julius Jonsson – warum haben Sie da denn nicht Kontakt mit der Polizei aufgenommen?«
»Ich muss sagen, ich hab tatsächlich kurz dran gedacht. Aber als ich die Sache mit Allan und Julius besprach, entschieden wir uns klipp und klar dagegen. Julius erklärte, dass er aus Prinzip nicht mit der Polizei sprach, und Allan wies darauf hin, dass er aus dem Heim ausgerissen war und ganz bestimmt nicht zu Schwester Alice zurückwollte, nur weil die Zeitungen und das Fernsehen da was in den falschen Hals gekriegt hatten.«
»Sie sprechen aus Prinzip nicht mit der Polizei?«, wandte sich Ranelid an Julius Jonsson.
»Nee, das tu ich nicht. Ich hatte über Jahre immer wieder Pech in meinem Verhältnis zum Polizeilichen. Obwohl ich solche netten Begegnungen – wie gestern mit Kommissar Aronsson oder auch heute mit dem Herrn Staatsanwalt – natürlich davon ausnehme. Noch ein Schlückchen Kaffee gefällig, Herr Staatsanwalt?«
Ja, das war dem Herrn Staatsanwalt gefällig. Er brauchte seine ganze Kraft, um Ordnung in diese Unterredung zu bringen und um drei Uhr den Medien irgendetwas präsentieren zu können – etwas, was entweder der Wahrheit entsprach oder zumindest einigermaßen glaubwürdig war.
Doch der Staatsanwalt wollte noch nicht wieder von Benny Ljungberg ablassen.
»Und warum haben Sie Ihren Freund Per-Gunnar Gerdin nicht angerufen? Ihnen musste doch klar sein, dass er von Ihnen in der Zeitung lesen würde?«
»Ich dachte mir, die Polizei und der Staatsanwalt haben bestimmt noch nicht mitgekriegt, dass Jesus in Per-Gunnars Leben getreten ist, und deswegen hören sie sicher immer noch sein Telefon ab. Was das betrifft, muss mir der Herr Staatsanwalt doch sicher recht geben, oder?«
Der Staatsanwalt brummte etwas Unverständliches, machte sich eine Notiz und bereute, dass er den Journalisten auch dieses Detail verraten hatte, doch nun war es eben geschehen. Also machte er weiter. Diesmal wandte er sich an Per-Gunnar Gerdin.
»Aber Herr Gerdin scheint ja einen Tipp bekommen zu haben, wo sich Allan Karlsson und seine Freunde befanden. Woher kam dieser Tipp?«
»Leider werden wir das nie erfahren. Diese Information hat Kollege Humpen Hultén mit sich ins Grab genommen. Beziehungsweise in die Schrottpresse.«
»Und was war das für ein Tipp?«
»Dass Allan, Benny und seine Freundin in Rottne in Småland gesehen worden sind. Ich glaube, ein Bekannter von Humpen hat angerufen. Mich interessierte am meisten die Information an sich. Ich wusste ja, dass Bennys Freundin in Småland lebt und rote Haare hat. Also gab ich Humpen den Auftrag, sofort zu dieser Ortschaft zu fahren und sich vor dem ICA auf die Lauer zu legen. Essen muss ja schließlich jeder …«
»Und das machte der Humpen gern für Sie – im Namen Jesu?«
»Na ja, da treffen Sie jetzt den Nagel auf den Kopf, Herr Staatsanwalt. Man kann ja allerhand von Humpen behaupten, aber religiös war er nie. Er war fast genauso sauer über die neue Ausrichtung des Clubs wie Bolzen. Er redete immer davon, nach Russland oder ins Baltikum zu gehen und dort mit Drogen zu handeln. Haben Sie schon mal so was Schreckliches gehört, Herr Staatsanwalt? Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass er tatsächlich damit angefangen hat, aber da müssen Sie ihn selbst fragen … Ach nein, geht ja gar nicht mehr …«
Der Staatsanwalt musterte Per-Gunnar Gerdin misstrauisch.
»Wie Benny Ljungberg schon angedeutet hat, haben wir eine Aufzeichnung, in der Sie Gunilla Björklund als ›die Alte‹ bezeichnen, und später schieben Sie auch noch den einen oder anderen Fluch nach. Was sagt der Herr denn dazu?«
»Ach, der Herr verzeiht schnell, das wird auch der Herr Staatsanwalt merken, wenn er einmal das Buch aufschlägt, das er gerade bekommen hat.«
»Jesus spricht: ›Welchen ihr die Sünden erlasset, denen sind sie erlassen‹«, warf Bosse ein.
»Johannesevangelium?«, erkundigte sich Kommissar Aronsson, der das Zitat von seiner stundenlangen Bibellektüre in der Hotelbar wiederzuerkennen glaubte.
»Sie lesen die Bibel?«, fragte Staatsanwalt Ranelid verdattert.
Statt zu antworten, schenkte ihm Kommissar Aronsson nur ein frommes Lächeln. Per-Gunnar Gerdin fuhr fort:
»Ich habe für dieses Gespräch einen Ton gewählt, den Humpen von früher kannte – dann gehorcht er vielleicht eher, dachte ich«, erklärte Per-Gunnar.
»Und, gehorchte er?«, wollte Staatsanwalt Ranelid wissen.
»Jein. Ich wollte nicht, dass er sich vor Allan, Julius, Benny und dessen Freundin zeigte, denn ich ahnte schon, dass er mit seiner plumpen Art bei der Gruppe nicht so gut ankommen würde.«
»Und man kann wohl mit Fug und Recht behaupten, dass er nicht so gut bei uns ankam«, mischte sich die Schöne Frau nun wieder ein.
»Inwiefern?«, fragte Staatsanwalt Ranelid.
»Na ja, der kam auf meinen Hof geschlendert und schnupfte Tabak und fluchte und verlangte Alkohol … Ich kann ja einiges ab, aber Leute, die jedes Wort mit einem Fluch begleiten müssen, so was ertrage ich einfach nicht.«
Um ein Haar wäre Kommissar Aronsson seine Zimtschnecke in die falsche Kehle geraten. Noch am Vorabend hatte die Schöne hier auf der Veranda gesessen und mehr oder weniger ununterbrochen geflucht. Aronsson spürte, dass er niemals hinter die Wahrheit in diesem Chaos kommen würde. Aber das war in Ordnung. Die Schöne Frau fuhr unterdessen fort:
»Ich bin ziemlich sicher, dass er schon nicht mehr nüchtern war, als er hier ankam – das muss man sich mal vorstellen, der war schließlich mit dem Auto da! Dann fuchtelte er mit seiner Pistole herum, um sich interessant zu machen, und prahlte, die würde er brauchen bei seinen Drogengeschäften in … in Riga, glaube ich. Aber da ging es mit mir durch das kann ich Ihnen sagen, Herr Staatsanwalt, da ging es mit mir durch, und ich schrie ihn an: ›Keine Waffen auf meinem Grundstück!‹, und dann musste er die Pistole auf die Veranda legen. Wahrscheinlich hat er die einfach da vergessen, als er wieder fuhr. Einen übellaunigeren und unangenehmeren Menschen hab ich wirklich noch nie kennengelernt …«
»Vielleicht hat er wegen der Bibeln den Humor verloren«, meinte Allan. »Die Religion tritt ja bei vielen Leuten heftige Gefühle los. Als ich mal in Teheran war …«
»In Teheran?«, entfuhr es dem Staatsanwalt.
»Ja, das ist jetzt schon wieder ein paar Jahre her. Damals herrschten da noch Recht und Ordnung, wie Churchill zu mir sagte, als wir nach Europa zurückflogen.«
»Churchill?«, fragte der Staatsanwalt.
»Ja, der Premierminister. Oder nein, da war er ja gar nicht mehr Premierminister, aber vorher. Und danach übrigens auch noch mal.«
»Verdammt, ich weiß, wer Winston Churchill war, ich verstehe bloß nicht … Sie waren mit Churchill in Teheran?«
»Nicht fluchen, Herr Staatsanwalt!«, mahnte die Schöne Frau.
»Nee, also nicht wirklich zusammen, ich hab da eine Weile mit so einem Missionar gewohnt. Und der war darauf spezialisiert, dass die Leute in seiner Umgebung den Humor verloren.«
Apropos Humor verlieren: Genau dieses Schicksal drohte den Staatsanwalt langsam auch zu ereilen. Er hatte sich gerade dabei ertappt, wie er einem Hundertjährigen sachdienliche Informationen entlocken wollte, der allen Ernstes behauptete, Franco, Truman, Mao Tse-tung und Churchill kennengelernt zu haben. Doch um Staatsanwalt Ranelids Humor machte sich Allan überhaupt keine Sorgen. Ganz im Gegenteil. Also fuhr er fort:
»Der junge Herr Humpen benahm sich die ganze Zeit auf Sjötorp wie eine menschliche Gewitterwolke. Einen Silberstreif sahen wir im Grunde nur einmal, und zwar, als er wieder fuhr. Da kurbelte er das Fenster herunter und schrie: ›Lettland, ich komme!‹ Wir deuteten das so, dass er nach Lettland fahren wollte, aber Sie haben ja mehr Erfahrung mit polizeilichen Angelegenheiten als wir, Herr Staatsanwalt, vielleicht deuten Sie seine Worte anders?«
»Idiot«, sagte der Staatsanwalt.
»Idiot?«, wiederholte Allan. »So hat mich noch keiner genannt. ›Hund‹ und ›Ratte‹, das ist Stalin wohl herausgerutscht, als er vor Wut tobte, aber ›Idiot‹, nein, ›Idiot‹, das ist neu.«
»Dann wurde es aber höchste Zeit, verdammt«, erwiderte Staatsanwalt Ranelid.
Doch da schaltete sich Per-Gunnar Gerdin ein:
»Na, jetzt werden Sie mal nicht wütend, bloß weil Sie die Leute nicht einsperren können, wie es Ihnen gerade passt, Herr Staatsanwalt. Wollen Sie jetzt hören, wie die Geschichte weiterging, oder nicht?«
Doch, das wollte er schon, und eine Entschuldigung murmelte er auch noch. Gut, von Wollen konnte zwar nicht wirklich die Rede sein, aber … es blieb ihm ja kaum etwas anderes übrig. Also ließ er Per-Gunnar Gerdin weitererzählen:
»Zu Never Again muss also gesagt werden, dass Bolzen nach Afrika ging, um Legionär zu werden, Humpen nach Lettland, um sein Drogengeschäft aufzubauen, und Caracas fuhr nach Hause nach … ja, nach Hause eben. Da war bloß noch ich übrig, ganz allein. Obwohl ich natürlich noch Jesus an meiner Seite hatte.«
»Aber hallo«, murmelte der Staatsanwalt. »Erzählen Sie weiter!«
»Ich fuhr also nach Sjötorp zu Gunilla, Bennys Freundin. Humpen hatte noch angerufen und mir die Adresse mitgeteilt, bevor er das Land verließ. Ein bisschen Ehre hatte er denn ja doch noch im Leibe.«
»Hm, dazu hätte ich noch ein paar Fragen«, unterbrach Staatsanwalt Ranelid. »Die erste Frage geht an Sie, Gunilla Björklund. Warum haben Sie sich in den Tagen vor der Abreise einen Bus gekauft – und warum sind Sie überhaupt abgereist?«
Die Freunde hatten am Vorabend beschlossen, Sonja aus der Geschichte herauszuhalten. Sie war ja auf der Flucht, genauso wie Allan, doch ohne dessen bürgerliche Rechte. Wahrscheinlich galt sie nicht mal als Schwedin, und in Schweden war man ja – wie in den meisten Ländern – nicht besonders viel wert, wenn man Ausländer war. Man würde sie also entweder gleich ausweisen oder zu lebenslänglichem Zoo verurteilen. Vielleicht sogar beides.
Doch sobald Sonja als Erklärung wegfiel, musste man wieder Zuflucht zu Lügen nehmen, um zu begründen, warum die Freunde beschlossen hatten, in einem riesigen Bus durch die Lande zu fahren.
»Tja, der Bus ist zwar auf meinen Namen angemeldet«, sagte die Schöne Frau, »aber eigentlich haben Benny und ich den zusammen gekauft, und zwar für Bennys Bruder Bosse.«
»Und der wollte ihn wahrscheinlich mit Bibeln füllen?«, erkundigte sich Staatsanwalt Ranelid, dem inzwischen nicht nur der Humor, sondern auch die Höflichkeit abhanden kam.
»Nein, mit Wassermelonen«, erklärte Bosse. »Möchten Sie wohl mal die süßeste Wassermelone der Welt kosten, Herr Staatsanwalt?«
»Nein, das will ich nicht«, erwiderte Staatsanwalt Ranelid. »Ich will Klarheit in diese Sache bringen, und dann will ich nach Hause fahren und eine Pressekonferenz runterreißen, und dann will ich in Urlaub fahren. Das will ich. Und jetzt will ich, dass wir weitermachen. Warum in Dreiteuf… um alles in der Welt haben Sie Sjötorp mit dem Bus verlassen, kurz bevor Per-Gunnar Gerdin dort ankam?«
»Die wussten doch gar nicht, dass ich unterwegs war«, sagte Per-Gunnar. »Können Sie uns nicht mehr ganz folgen, Herr Staatsanwalt?«
»Nein, es fällt mir schwer«, gab Staatsanwalt Ranelid zu. »Dieser Räuberpistole hätte selbst ein Einstein nur schwer folgen können.«
»Wo Sie gerade Einstein erwähnen …«, begann Allan.
»Nein, Herr Karlsson«, fiel Staatsanwalt Ranelid ihm mit bestimmtem Ton ins Wort. »Ich will jetzt nicht noch das Märchen von Karlsson und Einstein hören, ich will vielmehr, dass Herr Gerdin mir jetzt erklärt, wie ›die Russen‹ in diese Geschichte passen.«
»Wie das?«, fragte Per-Gunnar Gerdin.
»Die Russen. Ihr verstorbener Kollege Humpen hat in einem abgehörten Telefongespräch von den Russen gesprochen. Sie haben Humpen getadelt, weil er Sie nicht auf Ihrem Prepaid-Handy angerufen hat, und er hat nach eigenen Angaben geglaubt, nur Gespräche über die Russen müssten über dieses Handy laufen.«
»Darüber will ich nicht sprechen«, wehrte Per-Gunnar ab, vor allem deswegen, weil er nicht wusste, was er antworten sollte.
»Aber ich will, dass Sie darüber sprechen«, verlangte Staatsanwalt Ranelid.
Am Tisch kam unbehagliches Schweigen auf. Dass in diesem Telefongespräch die Russen erwähnt worden waren, hatte nicht in den Zeitungen gestanden, und Gerdin selbst hatte es total vergessen. Doch da sagte Benny:
»Jesli tschelowek kurit, on plocho igrajet v futbol.«
Die Tischgesellschaft sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an.
»Mit den Russen sind Bosse und ich gemeint«, erläuterte Benny. »Unser Vater – er ruhe in Frieden – und unser Onkel Frasse – er ruhe ebenfalls in Frieden – standen politisch eher links, wenn man mal so sagen will. Deswegen drillten sie meinen Bruder und mich während unserer Kindheit in Russisch, und so wurden wir unter Freunden und Bekannten manchmal auch ›die Russen‹ genannt. Das war das, was ich eben gerade auch auf Russisch gesagt habe.«
Wie so vieles andere an diesem Vormittag hatte auch das, was Benny gerade gesagt hatte, nicht allzu viel mit der Wahrheit zu tun. Er hatte nur versucht, den Piranha Gerdin aus seiner Zwangslage zu retten. Benny hatte nämlich auch noch beinahe einen Abschluss in Slawistik (seine Magisterarbeit hatte er nie abgegeben), aber es war schon eine ganze Weile her, und deswegen war ihm in der Eile nur dieser eine Satz eingefallen, der nichts anderes bedeutete als:
»Wenn man raucht, kann man nicht so gut Fußball spielen.«
Aber es funktionierte. Von den Leuten, die am Küchentisch auf Klockaregård saßen, hatte nur Allan verstanden, was Benny gerade gesagt hatte.
Langsam, aber sicher wurde es Staatsanwalt Ranelid zu viel. Erst diese ganzen dümmlichen Verweise auf historische Persönlichkeiten, dann fingen sie an, Russisch zu sprechen … und das alles kam zu diesen ganzen unerklärlichen Tatsachen wie zum Beispiel, dass Bolzen tot in Dschibuti aufgefunden war und Humpen in Riga – nein, das wurde ihm nicht zu viel, das war zu viel. Aber ein Rätsel musste trotzdem noch aufgeklärt werden.
»Können Sie mir zum Abschluss noch einmal erklären, Herr Gerdin, wie es möglich war, dass Sie von Ihren Freunden erst gerammt und überfahren wurden, und wie Sie daraufhin von den Toten auferstanden sind, sodass Sie jetzt hier sitzen und … Wassermelonen essen können? Übrigens, dürfte ich vielleicht doch mal ein Stück kosten?«
»Natürlich«, sagte Bosse. »Aber das Rezept bleibt geheim! Wie sagt man immer so schön: ›Wenn Essen richtig lecker schmecken soll, darf das Lebensmittelüberwachungsamt nicht so genau hinsehen.‹«
Von dieser Redewendung hatten weder Kommissar Aronsson noch Staatsanwalt Ranelid jemals gehört. Doch Aronsson hatte ein für alle Mal beschlossen, den Mund zu halten, und Ranelid wünschte sich auch nichts sehnlicher, als diese … diese ganze Sache irgendwie abzuschließen und … und einfach wieder wegzufahren. Also verkniff er sich die Frage nach dem Lebensmittelüberwachungsamt und verkündete, dass er tatsächlich noch nie so eine leckere Wassermelone gegessen habe.
Während Ranelid also an seiner Melone kaute, erklärte Per-Gunnar Gerdin, wie er nach Sjötorp gekommen war, als der Bus gerade weggefahren war, wie er sich trotzdem umsah und begriff, dass in diesem Bus seine Freunde gesessen haben mussten, wie er ihnen nachgefahren war, sie überholte, wie sein Auto unglücklicherweise ins Schleudern gekommen war – und … na, die Fotos von dem Autowrack waren ja hie und da zu sehen gewesen, das war ja nichts Neues für den Herrn Staatsanwalt, oder?
»Kein Wunder, dass er uns eingeholt hat«, fügte Allan hinzu, der eine Weile gar nichts gesagt hatte. »Der hatte ja über dreihundert Pferdestärken unter der Motorhaube. Das war schon was anderes, als ich den Volvo PV444 von Bromma zu Ministerpräsident Erlander fahren durfte. Vierundvierzig PS! Das war damals richtig viel. Und wie viel PS Großhändler Gustavsson hatte, als er versehentlich auf mein …«
»Bitte, Herr Karlsson, halten Sie den Mund, Sie bringen mich sonst noch um«, sagte Staatsanwalt Ranelid.
Der Präsident von Never Again erzählte weiter. Er habe zwar ein bisschen Blut verloren, eigentlich sogar ziemlich viel, aber er sei ja schnell verbunden worden. Da sich seine Verletzungen auf eine Fleischwunde am Bein, einen gebrochenen Arm, eine Gehirnerschütterung und ein paar gebrochene Rippen beschränkten, habe er es auch nicht für nötig gehalten, extra ins Krankenhaus zu fahren.
»Außerdem hat Benny ja Literaturwissenschaft studiert«, warf Allan ein.
»Literaturwissenschaft?«, wunderte sich Staatsanwalt Ranelid.
»Sagte ich Literaturwissenschaft? Ich meinte natürlich Medizin.«
»Na ja, Literaturwissenschaft hab ich aber auch studiert«, sagte Benny. »Mein absoluter Favorit ist Camilo José Cela, nicht zuletzt sein Debütroman von 1947, La familia de …«
»Jetzt fangen Sie nicht auch noch an wie Karlsson«, schnitt ihm der Staatsanwalt das Wort ab. »Erzählen Sie lieber weiter.«
Bei diesem eindringlichen Appell warf der Staatsanwalt kurz einen Blick in Allans Richtung, und der erwiderte seelenruhig:
»Wenn Sie entschuldigen, Herr Staatsanwalt – jetzt haben wir Ihnen alles erzählt. Aber wenn Sie unbedingt noch mehr hören wollen, kann ich schon noch ein paar Erinnerungen ausgraben. Über die Strapazen als CIA-Agent. Oder wie ich damals den Himalaya überquerte. Interessieren Sie sich vielleicht für ein Rezept für Ziegenmilchschnaps? Man braucht dazu nur eine Zuckerrübe und ein bisschen Sonnenlicht. Na ja, und Ziegenmilch natürlich.«
Zuweilen kommt es vor, dass der Mund sich schon wieder bewegt, während das Hirn noch stillsteht, und so ging es Staatsanwalt Ranelid wohl auch, als er – ganz im Widerspruch zu seinem eigentlichen Beschluss – nachhakte:
»Wie? Sie haben den Himalaya überquert? Mit Ihren hundert Jahren?«
»Sind Sie wahnsinnig?«, fragte Allan. »Ich bin nicht schon immer hundert Jahre alt gewesen, das muss Ihnen doch klar sein. In der Tat bin ich erst seit Kurzem hundert.«
»Können wir nicht …«
»Wir alle wachsen auf und werden älter«, fuhr Allan unbeirrt fort. »Als Kind glaubt man das noch nicht so … nehmen Sie zum Beispiel den jungen Herrn Kim Jong-il. Der Arme saß heulend bei mir auf dem Schoß, und jetzt ist er Staatschef mit allem, was dazugehört …«
»Können wir das nicht überspringen, Herr Karlsson, und stattdessen …«
»Ja, natürlich, Entschuldigung. Der Herr Staatsanwalt wollte ja hören, wie das war, als ich den Himalaya überquerte. Zuerst hatte ich monatelang nur Gesellschaft von einem Kamel, und von Kamelen mag man ja behaupten, was man will, aber besonders lustige Gesellschaft …«
»Nein!«, schrie Staatsanwalt Ranelid. »Ich wollte überhaupt nichts davon hören. Ich wollte … ich weiß nicht … Können Sie nicht einfach …«
Und dann verstummte er ein Weilchen, um anschließend mit ganz leiser Stimme zu erklären, dass er keine weiteren Fragen habe … höchstens noch die, warum die Freunde sich über Wochen hier in der Västergötland-Ebene versteckt hatten, wenn es doch gar nichts gab, wovor sie sich hätten verstecken müssen.
»Sie waren doch alle unschuldig, oder?«
»Mit der Unschuld ist das so eine Sache«, gab Benny zu bedenken. »Es kommt immer darauf an, aus welcher Perspektive man die Dinge betrachtet.«
»So was hab ich mir auch gedacht«, stimmte Allan zu. »Nehmen Sie nur Präsident Johnson und de Gaulle, die ein sehr schlechtes Verhältnis hatten. Wer war da schuldig und wer war unschuldig? Ich hab das Thema zwar nicht zur Sprache gebracht, als wir uns trafen, wir hatten ja anderes zu bereden, aber …«
»Bitte, Herr Karlsson«, unterbrach ihn Staatsanwalt Ranelid. »Wenn ich Sie auf Knien anflehe – sind Sie dann endlich mal still?«
»Da müssen Sie mich doch nicht auf Knien anflehen, Herr Staatsanwalt. Ich werde still sein wie ein Mäuschen, das verspreche ich. In meinen hundert Jahren ist mir die Zunge nur zweimal ausgerutscht, einmal, als ich dem Westen erzählt hab, wie man eine Atombombe baut, und einmal, als ich es dem Osten erzählt hab.«
Staatsanwalt Ranelid fand, dass eine Atombombe schon mal das eine oder andere Problem lösen konnte, vor allem, wenn sie unter Allan Karlsson detonierte. Aber er sagte nichts. Er konnte nichts mehr sagen. Die Frage, warum sich die Freunde drei Wochen lang nicht zu erkennen gegeben hatten, während sie zur Fahndung ausgeschrieben waren, wurde auch nie mehr beantwortet. Höchstens in Form bereits geäußerter philosophischer Andeutungen, dass man unter Gerechtigkeit in verschiedenen Ländern zu verschiedenen Zeiten sehr verschiedene Dinge verstehen konnte.
Da stand Staatsanwalt Conny Ranelid langsam auf und bedankte sich leise, für die Melone, für den Kaffee und die Zimtschnecken, für … das Gespräch … und für die Kooperationsbereitschaft der Freunde auf Klockaregård.
Daraufhin verließ er die Küche, setzte sich in sein Auto und fuhr davon.
»Das ging ja richtig gut«, sagte Julius.
»Absolut«, sagte Allan. »Ich glaube, ich hab fast alles unterbringen können.«
* * * *
Während Staatsanwalt Ranelid auf der E20 in nordöstlicher Richtung dahinfuhr, löste sich allmählich seine geistige Lähmung. Stück für Stück ging er die Geschichte in Gedanken noch einmal durch, die er sich gerade hatte anhören müssen. Er fügte hier etwas hinzu und ließ dort etwas weg (hauptsächlich ließ er weg), glättete und polierte, bis er glaubte, die Erzählung so weit frisiert zu haben, dass er sie den Journalisten auf der Pressekonferenz verkaufen konnte. Das einzige Detail der Geschichte, dessen Glaubwürdigkeit dem Staatsanwalt wirklich Kummer machte und das ihm wohl auch die Reporter kaum abkaufen würden, war der vorzeitig auftretende Leichengeruch bei Allan Karlsson.
Da nahm in seinem Kopf plötzlich eine ganz andere Idee Gestalt an. Dieser verfluchte Polizeihund … Wenn man nun einfach dem Hund die Schuld gab?
Denn wenn Ranelid den Leuten glaubhaft machen konnte, dass der Hund gesponnen hatte, eröffneten sich dem Staatsanwalt ungeahnte Möglichkeiten, seine Haut zu retten. Dann hatte nämlich auf der Draisine im Wald von Sörmland ganz einfach nie eine Leiche gelegen. Es hatte überhaupt nie eine Leiche gegeben. Doch man hatte dem Staatsanwalt ja das Gegenteil weisgemacht, und das führte wiederum zu einer ganzen Reihe von logischen Schlussfolgerungen und Entscheidungen – die zwar im Nachhinein völlig absurd aussahen, aber das konnte man dem Staatsanwalt wohl kaum anlasten, denn daran war ja einzig und allein der Hund schuld.
Das konnte alles noch richtig großartig laufen, dachte Staatsanwalt Ranelid. Dazu musste nur noch von anderer Seite bekräftigt werden, dass der Hund nicht vertrauenswürdig war, und dann musste … Kicki … so hieß der Köter doch, oder? … dann musste Kicki auch ganz schnell das Zeitliche segnen. Es ging schließlich nicht an, dass sie nach diesem geschickten Schachzug des Staatsanwalts trotzdem weiter eingesetzt wurde und ihre Tauglichkeit unter Beweis stellte.
Staatsanwalt Ranelid hatte bei Kickis Hundeführer einen gut, nachdem er vor ein paar Jahren geschickt einen kleineren polizeilichen Ladendiebstahl in einem Seven-Eleven vertuscht hatte. Die Karriere eines Polizisten sollte schließlich nicht durch einen unbezahlten Muffin zerstört werden, fand Ranelid. Aber jetzt musste der Hundeführer seine Schuld begleichen.
»Ciao, ciao, Kicki«, sagte Staatsanwalt Ranelid leise und lächelte zum ersten Mal seit einer geraumen Weile wieder, während er über die E20 in nordöstlicher Richtung nach Eskilstuna steuerte.
Kurz darauf klingelte das Handy. Es war der Polizeidirektor höchstpersönlich, der gerade den Obduktionsbericht aus Riga auf den Tisch bekommen hatte.
»Damit ist also bestätigt, dass es sich bei der zerdrückten Leiche in dem Schrottauto tatsächlich um Henrik Hultén handelte«, erklärte er.
»Wunderbar«, sagte Staatanwalt Ranelid. »Gut, dass Sie mich angerufen haben! Wären Sie so nett, mich an die Zentrale weiterzustellen? Ich muss mal kurz mit Ronny Bäckman reden, dem Hundeführer, Sie wissen schon …«
* * * *
Die Freunde auf Klockaregård hatten Staatsanwalt Ranelid nachgewinkt und sich dann auf Allans Initiative noch einmal am Küchentisch versammelt. Es gab jetzt noch eine Frage, die geklärt werden musste, meinte Allan.
Er eröffnete die Besprechung, indem er Kommissar Aronsson fragte, ob er noch etwas zu der Geschichte anmerken wolle, die man Staatsanwalt Ranelid gerade erzählt hatte. Oder vielleicht wolle Göran einen kurzen Spaziergang machen, während sich die Freunde berieten?
Aronsson antwortete, ihm sei der Bericht in jeder Hinsicht klar und plausibel vorgekommen. Für ihn sei der Fall damit erledigt, und wenn sie erlaubten, würde er einfach gern am Tisch sitzen bleiben. Im Übrigen sei auch er, Aronsson, alles andere als frei von Sünde, erklärte er, und er habe nicht vor, in dieser Sache den ersten oder zweiten Stein zu werfen.
»Aber ihr könntet mir den Gefallen tun, keine Dinge zu erzählen, die ich lieber nicht wissen möchte. Wenn es also trotz allem noch alternative Antworten auf Ranelids Fragen geben sollte, meine ich …«
Allan versprach, dass sie ihm diesen Gefallen gern tun würden, und fügte hinzu, dass ihr Freund Aronsson auf jeden Fall am Tisch willkommen sei.
Ihr Freund Aronsson, dachte Aronsson. In der Arbeit hatte er sich im Laufe der Jahre unter den Gangstern des Landes eine Menge Feinde gemacht, aber keinen einzigen Freund. Und dann sagte er, wenn Allan und die anderen ihn in ihren Freundeskreis aufnehmen wollten, wäre er stolz und glücklich.
Darauf erwiderte Allan, er habe sich ja in seinem langen Leben schon mit Priestern und Präsidenten angefreundet, aber noch nie zuvor mit einem Polizisten. Und da Freund Aronsson nicht zu viel wissen wolle, versprach er abermals, ihm nie zu verraten, wo das ganze Geld hergekommen war. Im Namen der Freundschaft sozusagen.
»Das ganze Geld?«, sagte Kommissar Aronsson.
»Ja«, sagte Allan. »Du weißt doch, in diesem Koffer. Bevor da Slimline-Bibeln mit Echtledereinband drin waren, war er bis obenhin voll mit Fünfhundertkronenscheinen. Um die fünfzig Millionen.«
»Verd…« Kommissar Aronsson bremste sich in letzter Sekunde.
»Ach, fluch doch ruhig«, sagte die Schöne Frau.
»Wenn du jemanden anrufen willst, würde ich trotz allem Jesus empfehlen«, meinte Bosse. »Auch wenn der Staatanwalt grade nicht mit am Tisch sitzt.«
»Fünfzig Millionen?«, wiederholte Kommissar Aronsson.
»Abzüglich einiger Spesen«, korrigierte Allan. »Und jetzt muss die Gruppe noch die Eigentumsverhältnisse abklären. Damit übergebe ich das Wort an dich, Piranha.«
Per-Gunnar »Piranha« Gerdin kratzte sich am Ohr, während er überlegte. Dann meinte er, er fände es gut, wenn die Freunde und die Millionen zusammenblieben. Vielleicht sollten sie alle zusammen in Urlaub fahren, denn im Moment gab es kaum etwas, wonach sich der Piranha so sehr sehnte, wie irgendwo weit weg unter einem Sonnenschirm zu sitzen und sich einen Drink mit Schirmchen servieren zu lassen. Außerdem wisse er, dass Allan ganz ähnliche Neigungen habe.
»Aber ohne Schirmchen«, sagte Allan.
Julius pflichtete ihm bei, dass Regenschutz über Longdrinks nicht wirklich notwendig sei, vor allem nicht, wenn man bereits unter einem Sonnenschirm lag und die Sonne sowieso von einem blauen Himmel schien. Aber darum bräuchten sich die Freunde jetzt ja gar nicht zu zanken – ein gemeinsamer Urlaub, das klang doch großartig!
Kommissar Aronsson lächelte schüchtern, als er sich die Pläne anhörte, wagte aber nicht wirklich davon auszugehen, dass er zum inneren Kern der Gruppe gehörte. Benny bemerkte es, fasste den Kommissar bei der Schulter und fragte ganz schlau, ob es der Vertreter des Gesetzes vorziehe, seine Drinks im Urlaub mit Spezialverpackung zu bekommen. Da strahlte der Kommissar und wollte gerade antworten, als die Schöne Frau die Stimmung mit den Worten dämpfte:
»Ohne Sonja und Buster fahr ich nirgendwohin, nicht einen Millimeter!«
Sie schwieg eine Sekunde, bevor sie hinzufügte:
»Verdammte Axt!«
Da Benny sich seinerseits nicht vorstellen konnte, auch nur einen Millimeter ohne die Schöne Frau zu fahren, verlor er sofort die Lust.
»Außerdem hat die Hälfte von uns ja nicht mal einen gültigen Pass«, seufzte er.
Doch Allan dankte dem Piranha nur ganz ruhig für seine Großzügigkeit bei der Verteilung des Geldes. Den Urlaub hielt er für eine gute Idee, er wollte nur zu gern viele tausend Kilometer zwischen sich und Schwester Alice legen. Wenn die anderen Mitglieder der Gruppe mit der Reise an sich einverstanden waren, würde sich der Rest schon finden. Sowohl das Transportproblem würde sich lösen lassen als auch die Frage, an welchem Reiseziel man es mit den Visa für Mensch und Tier nicht so genau nahm.
»Und wie hast du dir das vorgestellt, einen fünf Tonnen schweren Elefanten mit ins Flugzeug zu nehmen?«, fragte Benny mutlos.
»Weiß ich nicht«, entgegnete Allan. »Aber wenn wir nur immer positiv denken, dann findet sich das schon alles.«
»Und die Tatsache, dass etliche von uns keinen Reisepass haben?«
»Wie gesagt: positiv denken.«
»Ich glaube eigentlich nicht, dass Sonja mehr als vier Tonnen wiegt«, warf die Schöne Frau ein. »Vielleicht viereinhalb.«
»Siehst du, Benny«, sagte Allan. »Das meine ich mit positiv denken. Schon ist unser Problem eine halbe Tonne leichter geworden.«
»Ich hätte da vielleicht eine Idee«, verkündete die Schöne Frau.
»Ich auch«, sagte Allan. »Dürfte ich wohl mal kurz telefonieren?«