16. KAPITEL 1948–1953
Der Mann, der sich neben ihn auf die Parkbank gesetzt hatte, hatte gerade »Good afternoon, Mr. Karlsson« gesagt, woraus der Angesprochene ein paar Schlüsse zog. Erstens war der Mann offensichtlich kein Schwede, sonst hätte er es wohl zuerst mit Schwedisch probiert. Zweitens wusste er, wer Allan war, denn er hatte ihn ja mit Namen angesprochen.
Nach der gepflegten Erscheinung zu urteilen – grauer Hut mit schwarzem Hutband, grauer Mantel und schwarze Schuhe –, mochte der Mann vielleicht ein Geschäftsmann sein. Er sah nett aus und hatte sicher ein Anliegen. Also erwiderte Allan auf Englisch:
»Steht in meinem Leben wohl wieder eine neue Wendung bevor?«
Der Mann antwortete, das könne er noch nicht sagen, fügte aber freundlich hinzu, es komme ganz auf Herrn Karlsson selbst an. Sein Auftraggeber wünsche jedenfalls, Herrn Karlsson zu treffen, um ihm eine Stelle anzubieten.
Allan meinte, es gehe ihm derzeit zwar ziemlich gut, aber er könne natürlich auch nicht den Rest seines Lebens auf einer Parkbank sitzen. Also erkundigte er sich, ob es wohl zu viel verlangt sei, wenn er nach dem Namen dieses Auftraggebers frage. Er meinte, es sei doch immer viel leichter, etwas anzunehmen oder abzulehnen, wenn man wusste, was man annahm oder ablehnte. Ob der andere nicht derselben Meinung sei?
Da musste ihm der nette Mann absolut zustimmen, doch der betreffende Auftraggeber sei ein wenig eigen und würde sich doch lieber selbst vorstellen.
»Ich bin jedoch bereit, Sie unverzüglich zum betreffenden Auftraggeber zu führen, wenn es Ihnen jetzt passt, Herr Karlsson.«
Das gehe in Ordnung, meinte Allan, woraufhin er erfuhr, dass sie zu diesem Zwecke aber eine kleine Reise unternehmen müssten. Wenn Herr Karlsson seine Wertsachen aus dem Hotelzimmer holen wolle, würde er gerne so lange im Foyer warten, versprach der Mann. Außerdem könnte er ihn auch gleich zum Hotel fahren, denn sein Auto nebst Chauffeur warte ganz in der Nähe.
Es handelte sich um ein todschickes Auto, ein roter Ford Coupé, natürlich das allerneueste Modell. Und ein Privatchauffeur! Schweigsamer Typ freilich. Der sah bei Weitem nicht so nett aus wie der nette Mann.
»Das mit dem Hotelzimmer können wir uns auch sparen«, sagte Allan. »Ich bin es gewöhnt, mit leichtem Gepäck zu reisen.«
»Abgemacht«, erwiderte der nette Mann und klopfte dem Fahrer auf die Schulter, um ihm das Signal zum Losfahren zu geben.
Die Fahrt ging nach Dalarö, eine gute Stunde südwärts auf gewundenen Straßen. Allan und der nette Mann unterhielten sich unterdessen über dies und das. Während der Mann ihm die unendliche Größe der Oper erläuterte, erzählte Allan, wie man den Himalaya überquert, ohne zu erfrieren.
Die Sonne war bereits untergegangen, als das rote Coupé in der kleinen Gemeinde ankam, die im Sommer so beliebt bei den Schärentouristen war – und im Winter dafür so dunkel und still, dass man sich nichts Dunkleres oder Stilleres hätte vorstellen können.
»Hier wohnt Ihr Auftraggeber also«, sagte Allan.
»Nicht wirklich«, erwiderte der nette Mann.
Der überhaupt nicht so nette Fahrer des netten Mannes verließ die beiden schweigend kurz nach Dalarö-Hafen. Vorher hatte der nette Mann sich noch einen Pelzmantel aus dem Kofferraum geschnappt und ihn Allan netterweise um die Schultern gelegt. Dabei entschuldigte er sich, weil sie jetzt leider einen kleinen Spaziergang durch die Winterkälte unternehmen müssten.
Allan gehörte nicht zu den Menschen, die mit zu hohen Erwartungen (oder zu geringen) an die Geschehnisse herangingen. Was passierte, passierte eben, es lohnte sich einfach nicht, sich schon im Voraus den Kopf darüber zu zerbrechen.
Trotzdem war Allan überrascht, als der nette Mann ihn aus der Ortsmitte von Dalarö weg und hinaus aufs Eis führte – in die absolute Dunkelheit des nächtlichen Schärengartens.
Der nette Mann und Allan marschierten dahin, und manchmal machte der nette Mann eine Taschenlampe an, mit der er in die schwarze Winternacht blinkte, um dann in ihrem Schein seinen Kompass zu kontrollieren, damit sie auch in die richtige Richtung liefen. Während des Ausflugs unterhielt er sich nicht mit Allan, sondern zählte mit lauter Stimme die Schritte – in einer Sprache, die Allan noch nie gehört hatte.
Nachdem sie fünfzehn Minuten zügig geradewegs ins Nichts gestiefelt waren, verkündete der nette Mann, sie seien am Ziel. Ringsum war es stockfinster, abgesehen von einem flackernden Licht auf einer entfernten Insel. Der nette Mann erläuterte, dass dieses Licht in südöstlicher Richtung von Kymmendö kam, einem Ort, der seines Wissens von historischer Bedeutung für die schwedische Literatur sei. Davon wusste Allan nichts, und die Sache wurde auch nicht weiter diskutiert, denn im nächsten Moment gab der Boden unter ihren Füßen nach.
Wahrscheinlich hatte sich der nette Mann verzählt. Oder der Kommandeur des U-Boots hatte nicht so akkurat gearbeitet, wie er sollte. Auf jeden Fall brach das siebenundneunzig Meter lange U-Boot viel zu nahe neben ihnen durchs Eis. Die beiden fielen hintenüber und wären um ein Haar ins eiskalte Wasser geplumpst. Doch es ging noch einmal gut, und wenig später half man Allan hinunter in die Wärme.
»Da sieht man mal wieder, wie sinnvoll es ist, morgens nicht lange herumzuraten, wie der Tag wohl enden wird«, kommentierte Allan. »Ich meine – wie lange hätte ich herumraten müssen, bis ich das hier erraten hätte?«
Nun fand der nette Mann, dass er der Heimlichtuerei ein Ende setzen könne. Er erzählte, er heiße Julij Borissowitsch Popow und arbeite für die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Er war weder Politiker noch Mitarbeiter des Militärs, sondern Physiker und war nach Stockholm geschickt worden, um Herrn Karlsson zu überreden, mit ihm nach Moskau zu fahren. Julij Borissowitsch war für diesen Auftrag auserwählt worden, weil man damit gerechnet hatte, auf einen gewissen Widerstand von Herrn Karlssons Seite zu stoßen. Man schätzte, dass Julij Borissowitschs Hintergrund als Physiker das Unternehmen begünstigte, weil Herr Karlsson und Julij Borissowitsch sozusagen dieselbe Sprache sprachen.
»Aber ich bin doch gar kein Physiker«, wandte Allan ein.
»Schon möglich, aber mein Auftraggeber sagt, dass Sie etwas können, was ich gerne können würde.«
»Aha. Was um alles in der Welt soll das denn sein?«
»Die Bombe, Herr Karlsson. Die Bombe.«
* * * *
Julij Borissowitsch und Allan Emmanuel waren sich auf Anhieb sympathisch. Dass jemand einfach so mit ihm mitkam, ohne zu wissen, wohin die Reise ging, zu wem und warum – das imponierte Borissowitsch über die Maßen und zeugte von einer Sorglosigkeit, die ihm völlig abging. Allan hingegen wusste es einfach zu schätzen, sich mal mit einem Menschen zu unterhalten, der ihm nicht seine politischen oder religiösen Überzeugungen aufschwatzen wollte.
Außerdem stellte sich schon bald heraus, dass sich sowohl Julij Borissowitsch als auch Allan Emmanuel unsäglich für Schnaps begeistern konnten, auch wenn Ersterer das Getränk »Wodka« nannte. Borissowitsch hatte tags zuvor die schwedische Variante kosten können, während er – um ehrlich zu sein – Allan Emmanuel im Speisesaal des Grand Hôtel im Auge behalten hatte. Erst fand Julij Borissowitsch den Klaren zu herb, da fehlte die russische Süße, aber nach ein paar Gläsern hatte er sich daran gewöhnt. Und noch zwei Gläser später kam ihm ein anerkennendes »Gar nicht so übel!« über die Lippen.
»Aber das hier ist natürlich besser«, meinte Julij Borissowitsch und schwenkte eine Literflasche Stolitschnaja, als sie zu zweit in der Offiziersmesse saßen. »Jetzt trinken wir jeder erst mal ein schönes Gläschen!«
»Sehr gut«, lobte Allan. »Seeluft macht immer so durstig.«
Schon nach dem ersten Glas hatte Allan durchgesetzt, dass sie sich anders anredeten. Denn Julij Borissowitsch jedes Mal, wenn er Julij Borissowitsch anreden wollte, mit Julij Borissowitsch anzureden, war auf die Dauer einfach zu viel. Und er wollte auch nicht Allan Emmanuel genannt werden, denn so hatte ihn keiner mehr genannt, seit ihn der Pfarrer in Yxhult getauft hatte.
»Ab jetzt bist du also Julij und ich bin Allan«, verkündete Allan. »Sonst steige ich sofort wieder aus diesem U-Boot.«
»Das lass mal schön bleiben, lieber Allan. Wir befinden uns nämlich gerade in zweihundert Metern Tiefe«, antwortete Julij. »Trink lieber noch ein Gläschen.«
Julij Borissowitsch Popow war lodernder Sozialist und wünschte sich nichts mehr, als für den Sowjetsozialismus arbeiten zu dürfen. Genosse Stalin konnte streng durchgreifen, wusste Julij zu berichten, aber wer dem System loyal und überzeugt diente, hatte nichts zu befürchten. Allan erwiderte, er habe nicht vor, irgendeinem System zu dienen, aber er könne Julij sicher den einen oder anderen Tipp geben, wenn er sich in der Atombombenproblematik festgefahren habe. Doch zuerst wollte er noch ein Glas von diesem Wodka, dessen Namen man nicht mal in nüchternem Zustand aussprechen konnte. Außerdem musste Julij ihm zusichern, den einmal eingeschlagenen Weg beizubehalten: kein Wort über Politik.
Julij bedankte sich aufrichtig für Allans Versprechen, ihm zu helfen, und gab ohne Umschweife zu, dass Marschall Berija, Julijs nächsthöherer Vorgesetzter, dem schwedischen Experten für seine Dienste einen einmaligen Betrag von hunderttausend amerikanischen Dollar anbot, sofern Allans Hilfe dann auch tatsächlich den Bau der Bombe gewährleistete.
»Das geht in Ordnung«, meinte Allan.
Der Inhalt der Flasche schwand langsam dahin, während die beiden sich über alles Mögliche zwischen Himmel und Erde unterhielten (außer Politik und Religion). Sie kamen auch ein wenig auf die Atombombenproblematik zu sprechen, und obwohl das Thema ja eigentlich erst in den nächsten Tagen anstand, konnte Allan in vereinfachter Form schon ein paar Tipps geben. Und dann noch ein paar.
»Hmm«, sagte Chefphysiker Julij Borissowitsch Popow. »Ich glaube, ich hab’s verstanden …«
»Aber ich nicht«, sagte Allan. »Erklär mir das mit der Oper doch noch mal, bitte. Ist das nicht einfach ein einziges großes Rumgekrähe?«
Julij lächelte, nahm einen ordentlichen Schluck Wodka, stand auf – und begann zu singen. In seinem Rausch gab er kein launiges Volkslied zum Besten, sondern die Arie Nessun dorma aus Puccinis Turandot.
»Ja, hau mir doch ab!«, sagte Allan, als Julij fertig gesungen hatte.
»Nessun dorma!«, sagte Julij andächtig. »Keiner schlafe!«
Ungeachtet etwaiger Schlafverbote waren Allan und Julij wenig später in ihren Kojen eingeschlummert. Als sie wieder aufwachten, lag das U-Boot bereits im Hafen von Leningrad. Dort wartete schon eine Limousine, die sie in den Kreml zu einer Unterredung mit Marschall Berija bringen sollte.
»Sankt Petersburg, Petrograd, Leningrad … Könnt ihr euch nicht endlich mal entscheiden?«, fragte Allan.
»Ich wünsche dir ebenfalls einen guten Morgen«, sagte Julij.
Die beiden setzten sich auf den Rücksitz der Humber-Pullman-Limousine und ließen sich von Leningrad nach Moskau fahren, was einen ganzen Tag in Anspruch nahm. Ein gläsernes Schiebefenster trennte den Fahrer von dem … Salon …, in dem Allan und sein neuer Freund saßen. Dort fand sich auch ein Kühlschrank mit Wasser, Erfrischungsgetränken und Alkohol, auf den die Fahrgäste gerade wunderbar verzichten konnten. Daneben stand eine Schale mit Geleehimbeeren und eine mit Pralinen aus echter Schokolade. Auto und Ausstattung hätten ein strahlendes Beispiel für die sowjetsozialistische Ingenieurskunst abgegeben, wäre nicht alles aus England importiert gewesen.
Julij erzählte Allan von seinem Hintergrund. So hatte er beim Nobelpreisträger Ernest Rutherford studiert, dem legendären Kernphysiker aus Neuseeland. Daher sprach er auch so gut Englisch. Allan berichtete dem immer verblüffteren Julij Borissowitsch von seinen Abenteuern in Spanien, Amerika, China, im Himalaya und im Iran.
»Und was ist dann mit dem anglikanischen Pfarrer passiert?«, wollte Julij wissen.
»Ich weiß nicht«, antwortete Allan. »Entweder hat er bald ganz Persien anglikanisiert, oder er ist inzwischen tot. Und in diesem Fall glaube ich eher nicht, dass die Wahrheit irgendwo in der Mitte liegt.«
»Klingt genauso, als würde man Stalin herausfordern«, meinte Julij aufrichtig. »Aber das wäre natürlich Verrat an der Revolution, daher wäre die Überlebenschance eher gering.«
Julijs Aufrichtigkeit schien an diesem Tag und in dieser Gesellschaft keine Grenzen zu kennen. Er erzählte ganz offenherzig, was er über Marschall Berija dachte, den Chef des Sicherheitsdienstes, der mit mehr Eile als Weile zum höchsten Verantwortlichen im Atombombenprojekt ernannt worden war. Um es kurz zu machen: Berija hatte überhaupt keine Scham im Leibe. Er missbrauchte Frauen und Kinder sexuell, und unerwünschte Elemente ließ er in Straflager deportieren, wenn er sie nicht gleich selbst umbrachte.
»Nur, dass wir uns recht verstehen«, sagte Julij. »Ein unerwünschtes Element muss natürlich so schnell wie möglich aussortiert werden, aber eben unerwünscht im Sinne der richtigen revolutionären Gründe. Wer dem Sozialismus nicht dienen will, muss weg! Aber wenn jemand Marschall Berija nicht dienen will … nein, Allan. Marschall Berija ist kein wahrer Repräsentant der Revolution. Aber das darf man natürlich Genosse Stalin nicht anlasten. Es war mir noch nicht vergönnt, ihn zu treffen, aber er hat die Verantwortung für ein ganzes Land, ja, für einen ganzen Kontinent. Wenn er bei dieser Aufgabe zufällig einem Marschall Berija mehr Verantwortung übertragen hat, als dieser tragen kann … dann ist das Genosse Stalins gutes Recht! Aber jetzt, mein lieber Allan, will ich dir etwas ganz Großartiges erzählen. Du und ich, wir haben heute Nachmittag nicht nur eine Audienz bei Marschall Berija, sondern auch bei Genosse Stalin höchstpersönlich! Er will uns zum Abendessen einladen.«
»Darauf freue ich mich wirklich sehr«, beteuerte Allan. »Aber was machen wir bis dahin? Sollen wir uns etwa bis heute Abend von Geleehimbeeren ernähren?«
Julij sorgte dafür, dass das Auto einen Zwischenhalt in einer kleinen Stadt am Weg einlegte, wo er Allan ein paar belegte Brötchen organisierte. Dann ging die Fahrt weiter, und so auch das interessante Gespräch.
Zwischen zwei Bissen dachte Allan über diesen Marschall Berija nach, der – nach Julijs Beschreibung zu urteilen – ja Ähnlichkeiten mit dem so plötzlich dahingerafften Chef der Sicherheitspolizei in Teheran zu haben schien.
Julij wiederum versuchte aus seinem schwedischen Kollegen schlau zu werden. Der würde gleich mit Stalin zu Abend essen und hatte erklärt, dass er sich darauf freute. Doch Julij musste noch einmal nachfragen, ob der Mann sich nicht doch mehr auf das Abendessen freute als auf den Staatschef.
»Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen«, sagte Allan diplomatisch und lobte die Qualität der russischen Brötchen. »Aber, lieber Julij, darf ich dir auch noch ein, zwei Fragen stellen?«
»Natürlich, lieber Allan. Frag nur, ich werde dir nach bestem Wissen und Gewissen antworten.«
Allan gestand, dass er bei Julijs politischen Ausführungen nicht so genau zugehört hatte, denn Politik war einfach nicht das Thema, das ihn sonderlich interessierte. Außerdem wusste er noch genau, dass sein Kollege ihm am Vorabend versprochen hatte, nicht zu sehr in diese Richtung auszuschweifen.
Doch über Julijs Beschreibung der menschlichen Mängel des Marschalls war Allan gestolpert; er meinte, er habe in seinem Leben schon öfters Personen dieses Schlages getroffen. Und hier habe er irgendwie ein Verständnisproblem: Einerseits sei Marschall Berija ja völlig rücksichtslos, wenn Allan das richtig verstanden habe. Andererseits hatte er dafür gesorgt, dass es Allan an nichts fehlte, mit Limousine und allen Schikanen.
»Da stelle ich mir doch insgeheim die Frage, warum er mich nicht einfach hat entführen lassen, um mir mit Gewalt zu entlocken, was er wissen will«, meinte Allan. »Dann hätte er sich die Geleehimbeeren sparen können, die Pralinen, die hunderttausend Dollar und noch so einiges mehr.«
Julij fand, das Tragische an Allans Überlegung sei, dass sie tatsächlich nicht weit hergeholt war. Mehr als einmal hatte Marschall Berija – obendrein im Namen der Revolution – unschuldige Menschen gefoltert, das war Julij bekannt. Doch jetzt verhielt es sich so, sagte Julij und zauderte ein wenig, jetzt verhielt es sich eben so, sagte Julij und machte den Kühlschrank auf, um sich zur Stärkung ein Bier zu gönnen, auch wenn es noch nicht mal zwölf Uhr mittags war, jetzt verhielt es sich so … gestand Julij, dass der Marschall Berija vor Kurzem mit der eben beschriebenen Strategie auf die Nase gefallen war. Ein westlicher Experte war aus der Schweiz entführt und vor Marschall Berija gebracht worden, aber die Sache endete in einem Debakel. Allan müsse entschuldigen, aber Julij wolle nicht mehr erzählen, Allan solle ihm einfach glauben. Jedenfalls zog man aus diesem Misserfolg die Lehre, dass man sich die notwendigen nuklearen Kenntnisse kaufen musste, und zwar auf dem westlichen Markt, wo die Gesetze von Angebot und Nachfrage galten – so vulgär das leider war.
* * * *
Das sowjetische Atomwaffenprogramm begann mit einem Brief, den der Kernphysiker Georgij Nikolajewitsch Fljorow im April 1942 an den Genossen Stalin schrieb. Darin strich er heraus, dass man in den westlichen Medien keine Silbe über die Kernspaltungstechnik gelesen habe, die doch schon 1939 entwickelt worden war.
Genosse Stalin war freilich auch nicht auf den Kopf gefallen (auch wenn sein Vater ihm in seinen Wutanfällen gern Schläge auf denselben verpasst hatte). Genau wie Fljorow war er zu dem Schluss gekommen, dass ein drei Jahre währendes kompaktes Schweigen um die Fissionstechnik nur eines bedeuten konnte: Hier wurde wirklich etwas verheimlicht, zum Beispiel, dass jemand auf dem besten Wege war, eine Bombe zu bauen, die die Sowjetunion – um ein spezifisch russisches Bild zu benutzen – auf einen Schlag schachmatt setzen würde.
Man hatte also keine Zeit mehr zu verlieren, doch leider war da noch das lästige kleine Detail, dass Hitler und Nazideutschland gerade dabei waren, Teile der Sowjetunion zu besetzen – kurz gesagt, alle Gebiete westlich der Wolga, wozu auch Moskau gehörte –, schlimm genug –, aber eben auch Stalingrad !
Diese Attacke auf Stalingrad nahm Stalin gelinde gesagt persönlich. Es gingen zwar anderthalb Millionen Menschen dabei drauf, aber die Rote Armee trug den Sieg davon und begann ihrerseits Hitler zu bedrängen, bis sie irgendwann vor dem Führerbunker in Berlin stand.
Erst als die Deutschen langsam in die Knie gingen, hatte Stalin die Gewissheit, dass er und seine Nation eine Zukunft hatten, und ab diesem Moment kam endlich Schwung in die Kernspaltungsforschung, die modernere Variante der seit Langem ausgelaufenen Lebensversicherung, die unter dem Namen Ribbentrop-Molotow-Pakt firmiert hatte.
Doch eine Atombombe schraubt man auch nicht mal schnell an einem Vormittag zusammen, vor allem nicht, wenn die Bombe noch gar nicht erfunden ist. Die sowjetische Atombombenforschung lief schon ein paar Jahre ohne einen Durchbruch, als es zum ersten Mal richtig knallte – in New Mexico. Die Amerikaner hatten das Rennen gewonnen. Kein Wunder, sie waren ja auch viel früher losgerannt. Nach dem ersten Test in der Wüste von New Mexico knallte es noch zweimal, dann aber so richtig: einmal in Hiroshima, einmal in Nagasaki. Truman hatte Stalin eins ausgewischt und ihm deutlich gezeigt, wer hier das Sagen hatte. Man musste Stalin nicht besonders gut kennen, um zu wissen, dass er sich damit nicht abfinden würde.
»Lösen Sie das Problem«, befahl Genosse Stalin seinem Marschall Berija. »Oder, um mich ganz klar auszudrücken: Lösen Sie das Problem!«
Marschall Berija begriff, dass sich seine eigenen Physiker, Chemiker und Mathematiker festgefahren hatten, daran würde sich auch nichts ändern, wenn er die Hälfte von ihnen erst mal in den Gulag deportieren ließ. Außerdem gab es keine Anzeichen, dass seinen Agenten demnächst ein Einbruch ins Allerheiligste der Militärbasis in Los Alamos gelingen könnte. Die Baupläne der Amerikaner einfach zu stehlen, war momentan also nicht drin.
Die Lösung lag demnach darin, das Wissen zu importieren und die eigenen Ergebnisse entscheidend zu vervollständigen, die man im Forschungszentrum in der geheimen Stadt Sarow, ein paar Autostunden südöstlich von Moskau, bereits erzielt hatte. Da das Beste für Marschall Berija gerade gut genug war, befahl er dem Leiter der Spionageabteilung:
»Bringen Sie mir Albert Einstein.«
»Aber … Albert Einstein …« Der Mann war schockiert.
»Albert Einstein hat den schärfsten Verstand der Welt. Werden Sie jetzt wohl tun, was ich Ihnen sage, oder hegen Sie einen Todeswunsch?«, erkundigte sich Marschall Berija.
Der Leiter des Nachrichtendienstes hatte gerade eine neue Frau kennengelernt, die besser duftete als alles andere auf dieser Welt. Folglich hegte er definitiv keinen Todeswunsch. Doch bevor er den Marschall davon in Kenntnis setzen konnte, sagte dieser:
»Lösen Sie das Problem. Oder, um mich ganz klar auszudrücken: Lösen Sie das Problem!«
Nun konnte man einen Albert Einstein freilich nicht so einfach einsammeln und in einem handlichen Paket nach Moskau verfrachten. Zuerst musste man ihn überhaupt ausfindig machen. Er war in Deutschland geboren, zog dann aber nach Italien, von dort in die Schweiz und schließlich nach Amerika. Seitdem pendelte er aus den unterschiedlichsten Gründen zwischen den unterschiedlichsten Orten.
Momentan war sein Zuhause in New Jersey, doch nach Angaben der Agenten vor Ort schien das Haus leer. Außerdem wünschte Marschall Berija sowieso, dass die Entführung möglichst in Europa über die Bühne gehen sollte, denn Prominente aus den USA über den Atlantik zu schmuggeln, barg ja doch gewisse Schwierigkeiten.
Aber wo steckte der Kerl bloß? Er meldete sich für seine Reisen selten bis nie ab, und es war allgemein bekannt, dass er zu wichtigen Terminen auch mal mehrere Tage zu spät erschien.
Der Leiter der Spionageabteilung erstellte eine Liste mit einer Handvoll Orten, die sich mit Einstein in Verbindung bringen ließen, und stellte dann für jeden dieser Orte einen Agenten zur Bewachung ab. Man bewachte natürlich sein Haus in New Jersey und die Villa seines besten Freundes in Genf, außerdem seinen Verleger in Washington und zwei weitere Freunde, von denen der eine in Basel lebte, der andere in Cleveland, Ohio.
Nach mehreren Tagen wurde das geduldige Warten endlich belohnt – in Form eines Mannes mit grauem Mantel, hochgestelltem Kragen und Hut. Der näherte sich über die Straße der Villa von Albert Einsteins bestem Freund Michele Besso. Er klingelte und wurde von Besso selbst herzlich begrüßt, aber auch von einem älteren Paar, dessen Identität erst noch geklärt werden musste. Der Agent rief den Kollegen zu sich, der zweihundertfünfzig Kilometer entfernt dieselbe Aufgabe in Basel verrichtete, und nachdem man stundenlang unauffällig durchs Fenster gespäht und die Personen mit Fotos abgeglichen hatte, kamen die beiden Agenten zu dem Schluss, dass tatsächlich Albert Einstein eingetroffen war. Das ältere Paar waren dann wohl Michele Bessos Schwager Paul und seine Frau Maja, die Schwester von Albert Einstein. Das reinste Familienfest!
Albert blieb zwei gründlich bewachte Tage mit Schwester und Schwager bei seinem Freund, bevor er Mantel und Handschuhe wieder anzog und seinen Hut aufsetzte, um sich genauso diskret wieder auf den Weg zu machen, wie er gekommen war.
Doch er kam nicht weit, denn an der nächsten Ecke wurde er von hinten überfallen und binnen Sekunden auf den Rücksitz eines Autos verfrachtet, wo man ihn mit Chloroform betäubte. In diesem Wagen wurde er via Österreich nach Ungarn gebracht, das den sozialistischen Sowjetrepubliken hinreichend freundlich gesinnt war, um nicht allzu viele Fragen zu stellen, wenn von sowjetischer Seite der Wunsch geäußert wurde, auf dem Militärflughafen in Pécs zu tanken, zwei sowjetische Bürger und einen schläfrigen Dritten mitzunehmen, um sofort im Anschluss wieder zu starten und mit unbekanntem Ziel weiterzufliegen.
Tags darauf begann man, Albert Einstein im Gebäude des Geheimdienstes in Moskau unter der Oberaufsicht von Marschall Berija zu verhören. Die Frage war, ob er sich zu einer Zusammenarbeit entschließen konnte, was seiner eigenen Gesundheit nur zuträglich sein würde, oder ob er sich sperrte, was keinem zuträglich sein würde.
Leider stellte sich heraus, dass er sich für Letzteres entschied. Albert Einstein wollte nicht zugeben, dass er der Kernspaltungstechnik auch nur einen Gedanken gewidmet hatte (obwohl es allgemein bekannt war, dass er sich schon 1939 mit Roosevelt über dieses Thema ausgetauscht hatte, woraus dann das Manhattan-Projekt entstand). Tatsächlich wollte Albert Einstein nicht mal zugeben, dass er Albert Einstein war. Er behauptete mit törichter Hartnäckigkeit, dessen jüngerer Bruder Herbert Einstein zu sein. Dabei hatte Albert Einstein gar keinen Bruder, sondern nur eine Schwester. Auf diesen Trick fielen Marschall Berija und sein Vernehmungsleiter natürlich nicht herein, und man wollte schon handgreiflich werden, als etwas äußerst Merkwürdiges in der 7th Avenue in New York geschah, Tausende von Kilometern entfernt.
Dort hielt Albert Einstein nämlich in der Carnegie Hall einen populärwissenschaftlich gehaltenen Vortrag über die Relativitätstheorie vor zweitausendachthundert handverlesenen Gästen, von denen mindestens drei Informanten der Sowjetunion waren.
* * * *
Zwei Albert Einsteins, das war einer zu viel für Marschall Berija, auch wenn sich einer von ihnen auf der anderen Seite des Atlantiks befand. Ziemlich schnell war ermittelt, dass der in der Carnegie Hall der richtige war. Wer zum Teufel war also der zweite?
Als man dem Mann drohte, ihm Dinge anzutun, die kein Mensch mit sich tun lassen will, versprach der falsche Albert Einstein, dem Marschall Berija alles zu erklären.
»Ich werde die ganze Sache klarstellen, Herr Marschall – aber unterbrechen Sie mich bitte nicht, denn das macht mich nervös.«
Marschall Berija versprach, den falschen Einstein nicht zu unterbrechen, höchstens mit einer Kugel in die Schläfe, und zwar in dem Moment, in dem er wusste, dass die Geschichte, die er jetzt zu hören kriegen sollte, erlogen war.
»Also bitte, fangen Sie an. Lassen Sie sich von mir überhaupt nicht stören«, bat Marschall Berija und entsicherte seine Waffe.
Der Mann, der sich als Albert Einsteins jüngerer Bruder ausgab, holte tief Luft und begann damit, dass … er seine Behauptung wiederholte (in dem Moment wäre die Waffe beinahe schon losgegangen).
Darauf folgte eine Geschichte, die – wenn sie denn stimmte – so traurig war, dass Marschall Berija sich nicht durchringen konnte, den Erzähler gleich hinzurichten.
Herbert Einstein berichtete also, dass Hermann und Pauline Einstein tatsächlich zwei Kinder bekommen hatten: erst den Sohn Albert, dann die Tochter Maja. So weit hatte der Herr Marschall also recht. Doch leider hatte Papa Einstein die Finger und so manches andere nicht von seiner schönen, wenngleich nur mäßig begabten Sekretärin lassen können, die in seiner elektrotechnischen Fabrik in München arbeitete. Das Ergebnis war der kleine Herbert, Alberts und Majas heimlicher und mitnichten legitimer Bruder.
Wie die Agenten des Marschalls bereits hatten feststellen können, war Herbert geradezu eine Kopie von Albert, obwohl er dreizehn Jahre jünger war. Allerdings war ihm von außen nicht anzusehen, dass er seine Begabungen unglücklicherweise ausschließlich von der Mutter geerbt hatte. Beziehungsweise den völligen Mangel an Begabungen.
1895, als Herbert zwei Jahre alt war, zog die Familie Einstein von München nach Mailand. Herbert kam mit, seine Mutter allerdings nicht. Papa Einstein hatte natürlich eine annehmbare Lösung vorgeschlagen, doch Herberts Mama war nicht interessiert. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, Bratwurst gegen Spaghetti einzutauschen und Deutsch gegen … na, was auch immer man in Italien für eine Sprache sprechen mochte. Außerdem war dieses Kleinkind ganz schön lästig – es schrie ständig nach Essen und schiss sich pausenlos ein! Wenn jemand den kleinen Herbert also woandershin mitnehmen wollte, war sie einverstanden, doch sie selbst wollte lieber bleiben, wo sie war.
Herberts Mutter erhielt eine reelle Summe von Papa Einstein. Später soll sie angeblich einen echten Grafen kennengelernt haben, der sie überredete, ihr ganzes Geld in seine fast fertiggestellte Maschine zu investieren, mit der man ein Lebenselixier produzieren konnte, das alle Krankheiten der Welt heilte. Doch dann war der Graf auf einmal verschwunden, und das Elixier hatte er wohl auch mitgenommen, denn ein paar Jahre später starb Herberts verarmte Mutter an Tuberkulose.
Herbert wuchs also mit seinem großen Bruder Albert und seiner großen Schwester Maja auf. Doch um Skandale zu vermeiden, hatte Papa Einstein bestimmt, dass der Kleine nur als sein Neffe bezeichnet wurde. Herbert entwickelte nie ein sonderlich enges Verhältnis zu Albert, doch seine Schwester liebte er von Herzen, obwohl er sie auch nur Cousine nennen durfte.
»Unterm Strich«, fasste Herbert Einstein zusammen, »bin ich also von meiner Mutter verlassen und von meinem Vater verleugnet worden – und außerdem bin ich ungefähr so schlau wie ein Pfund Kartoffeln. Ich habe mein Lebtag nichts Nützliches getan, sondern einfach nur vom Erbe meines Vaters gelebt. Einen intelligenten Gedanken habe ich sicher nie gehabt.«
Während Marschall Berija ihm lauschte, hatte er seine Waffe sinken lassen und sie wieder gesichert. Die Geschichte konnte sich gut und gerne so zugetragen haben, und er hatte sogar eine gewisse Bewunderung für die Selbsterkenntnis, die der dumme Herbert Einstein zeigte.
Doch was sollte er jetzt tun? Nachdenklich stand der Marschall auf. Im Namen der Revolution verkniff er sich jedes Nachdenken über Richtig und Falsch. Er hatte wahrhaftig schon genug Probleme, er brauchte nicht noch eines. Ja, und das gab den Ausschlag für seine Entscheidung. Er wandte sich an die beiden Wachen an der Tür:
»Schafft ihn euch vom Hals.«
Dann verließ er den Raum.
* * * *
Die Panne mit Herbert Einstein war natürlich nichts, was man Genosse Stalin munter weitererzählte, doch Marschall Berija hatte unglaubliches Glück, denn bevor er in Ungnade fallen konnte, erzielte man in der Militärbasis in Los Alamos den entscheidenden Durchbruch.
Im Laufe der Jahre waren nämlich über hundertdreißigtausend Menschen für das sogenannte Manhattan-Projekt eingestellt worden, von denen sich natürlich mehr als einer der sozialistischen Revolution verschrieben hatte. Doch bis jetzt war es keinem gelungen, sich in die heimlichsten Flure durchzukämpfen, um der Sowjetunion auf diesem Wege zu den letzten Geheimnissen der Atombombe zu verhelfen.
Aber eines wusste man jetzt immerhin: Man wusste, dass ein Schwede das Rätsel geknackt hatte, und man wusste auch, wie er hieß!
Nachdem man das schwedische Spionagenetzwerk aktiviert hatte, dauerte es gerade mal einen halben Tag, bis man herausgefunden hatte, dass Allan Karlsson im Grand Hôtel in Stockholm logierte und dass er gerade überhaupt nichts zu tun hatte, weil ihm nämlich das geheime schwedische Atomwaffenprogramm – das die Sowjetunion (selbstverständlich) ebenfalls infiltriert hatte – gerade durch seinen Leiter hatte mitteilen lassen, man habe für seine Dienste keine Verwendung.
»Da fragt man sich doch, wer den Weltrekord in Blödheit hält«, sagte Marschall Berija zu sich selbst. »Der Leiter des schwedischen Atomwaffenprogramms oder Herbert Einsteins Mutter …«
Diesmal wählte Marschall Berija jedoch eine andere Taktik. Statt den Mann mit Gewalt zu holen, sollte Allan Karlsson überredet werden, gegen eine stattliche Aufwandsentschädigung in amerikanischen Dollar sein Wissen mit ihnen zu teilen. Überreden sollte ihn ein Wissenschaftler wie Allan selbst, kein ungeschickter Agent wie im Falle Herbert Einstein. Der betreffende Agent wurde übrigens (sicherheitshalber) zum Privatchauffeur von Julij Borissowitsch Popow gemacht, diesem unglaublich sympathischen und fast genauso unglaublich kompetenten Physiker aus dem innersten Kreis von Marschall Berijas Atomwaffenprojekt.
Und jetzt wurde berichtet, dass alles nach Plan gelaufen war: Julij Borissowitsch war auf dem Weg nach Moskau, Allan Karlsson hatte er dabei – und Karlsson hatte sich bereits positiv zum Thema Mitarbeit geäußert.
* * * *
Auf Wunsch von Genosse Stalin hatte Marschall Berija sein Moskauer Büro innerhalb der Kremlmauern. Er empfing Allan Karlsson persönlich, als dieser mit Julij Borissowitsch das Foyer betrat.
»Herzlich willkommen, Herr Karlsson«, sagte Marschall Berija und schüttelte ihm die Hand.
»Danke sehr, Herr Marschall«, sagte Allan.
Der Marschall gehörte nicht zu den Leuten, die unendlich Small Talk treiben konnten. Dafür war das Leben seiner Meinung nach zu kurz (außerdem verfügte er über keinerlei Sozialkompetenz). Daher sagte er zu Allan:
»Wenn ich die Berichte korrekt gedeutet habe, Herr Karlsson, sind Sie bereit, den sozialistischen Sowjetrepubliken in nuklearen Fragen zu assistieren, gegen eine Zahlung von hunderttausend Dollar.«
Allan antwortete, über die Geldfrage habe er noch gar nicht so nachgedacht, aber er wolle Julij Borissowitsch gerne ein wenig zur Hand gehen, wenn er seine Hilfe brauche, und danach sehe es ja wohl aus. Doch es wäre schön, wenn der Herr Marschall mit seiner Atombombe noch bis zum nächsten Tag warten könnte, denn in letzter Zeit sei er einfach ein bisschen viel herumgereist.
Marschall Berija erwiderte, er verstehe sehr gut, dass die Reise an Herrn Karlssons Kräften gezehrt habe, aber es würde gleich Abendessen mit Genosse Stalin geben. Anschließend dürfe Herr Karlsson sich in der feinsten Gästewohnung erholen, die der Kreml zu bieten habe.
Mit dem Essen hatte Genosse Stalin sich nicht lumpen lassen. Es gab Lachsrogen und Hering und Salzgurken und Fleischsalat und gegrilltes Gemüse und Borschtsch und Pelmeni und Blini mit Kaviar und Forelle und Rouladen und Lammkoteletts und Piroggen mit Eis. Dazu wurde Wein in verschiedenen Farben serviert, und natürlich Wodka. Und dann noch ein bisschen Wodka.
Am Tisch saßen Genosse Stalin, Allan Karlsson aus Yxhult, der Kernphysiker Julij Borissowitsch Popow, der Chef der sowjetischen Staatssicherheit Marschall Lawrentij Pawlowitsch Berija sowie ein kleiner, fast unsichtbarer junger Mann ohne Namen und ohne Gedeck am Tisch. Er war der Dolmetscher und existierte quasi gar nicht.
Stalin war von Anfang an blendender Laune. Auf Lawrentij Pawlowitsch war einfach immer Verlass! Stalin hatte zwar von dem Schnitzer mit Einstein gehört, aber das war ja schon wieder Geschichte. Einstein (also, der richtige, versteht sich!) hatte nur sein Gehirn, Karlsson hingegen hatte die exakten und detaillierten Kenntnisse!
Da konnte es natürlich nicht schaden, dass Karlsson obendrein so nett wirkte. Er hatte Stalin in Kurzform von seinem Hintergrund erzählt: Sein Vater hatte für den Sozialismus in Schweden gekämpft und war dann mit demselben Ziel nach Russland aufgebrochen. Wirklich lobenswert! Der Sohn wiederum hatte im spanischen Bürgerkrieg gekämpft, und Stalin wollte nicht unfein nachfragen, auf welcher Seite Allan gestanden habe. Danach war er nach Amerika gefahren (er musste wohl geflogen sein, nahm Stalin an), und da hatte es sich ergeben, dass er im Dienst der Alliierten gelandet war … und das war sicher zu entschuldigen. Stalin hatte in den letzten Kriegsjahren schließlich mehr oder weniger dasselbe getan.
Als gerade mal der Hauptgang aufgetragen war, konnte Stalin bereits fehlerfrei »Auf ex, Kameraden, hoppsassa fiderallala!« singen, wann immer sie die Gläser hoben. Allan lobte Stalins Singstimme, woraufhin dieser erzählte, dass er in seiner Jugend nicht nur im Chor gesungen habe, sondern auch auf Hochzeiten als Solist aufgetreten sei. Dann stand er auf und trat den Beweis an, indem er wild durch den Raum hüpfte und mit Armen und Beinen fuchtelte, während er ein Lied zum Besten gab, das in Allans Ohren fast … indisch klang …, aber schön war es!
Allan selbst konnte nicht singen, er konnte eigentlich überhaupt nichts, was von kulturellem Wert war, musste er sich eingestehen, aber die Stimmung verlangte, dass er noch etwas mehr bot als »Auf ex, Kameraden, hoppsassa fiderallala!«, und in der Eile wollte ihm nur ein Gedicht des Literaturnobelpreisträgers Verner von Heidenstam einfallen, das Allans Volksschullehrer die Kinder in der zweiten Klasse hatte auswendig lernen lassen.
Nachdem Stalin sich wieder gesetzt hatte, stand Allan also auf und begann:
Schweden, Schweden, Vaterland,
Hort unsrer Sehnsucht, Heimat auf Erden,
nun klingen die Glocken, wo Heere steckten in Brand,
wo aus Taten Sagen wurden,
doch Hand in Hand schwört immer noch dein Volk wie einst
den alten Treueeid
Als Achtjähriger hatte Allan überhaupt nicht begriffen, was er da las, und als er es so mit beachtlicher Inbrunst aufsagte, musste er sich eingestehen, dass er jetzt, fünfunddreißig Jahre später, immer noch nichts begriff. Doch er trug das Gedicht auf Schwedisch vor, und so saß der nicht existente Russisch-Englisch-Übersetzer nur stumm auf seinem Stuhl und existierte noch weniger als vorher.
Nachdem der Applaus verebbt war, erklärte Allan jedoch, dass er gerade Verner von Heidenstam rezitiert hatte. Vielleicht hätte er diese Information für sich behalten oder auch die Wahrheit ein bisschen abgewandelt, wenn er geahnt hätte, wie Genosse Stalin reagieren würde.
Es verhielt sich nämlich so, dass Stalin eigentlich Dichter war, überdies sogar ein sehr begabter. Der Geist der Zeit hatte ihn dann zwar zum revolutionären Kämpfer gemacht, doch sein Interesse an Poesie hatte Stalin sich ebenso bewahrt wie seine Kenntnisse über die führenden zeitgenössischen Lyriker.
Für Allan war es also recht ungünstig, dass Stalin den schwedischen Dichter sehr gut kannte. Und im Gegensatz zu Allan war er auch bestens im Bilde über Heidenstams Liebe zu – Deutschland. Eine Liebe, die erwidert wurde: Rudolf Heß, Hitlers rechte Hand, hatte Heidenstam in den dreißiger Jahren besucht, und kurz darauf war Heidenstam die Ehrendoktorwürde der Universität Heidelberg verliehen worden.
Das alles ließ Stalins Stimmung dramatisch umschlagen.
»Wollen Sie etwa den großzügigen Wirt beleidigen, der Sie mit offenen Armen empfangen hat?«, brauste er auf.
Allan versicherte ihm, dass er das keineswegs beabsichtige. Wenn Heidenstam den Herrn Stalin so wütend gemacht habe, bitte Allan vielmals um Entschuldigung. Vielleicht tröste es ihn ja zu hören, dass Heidenstam schon seit ein paar Jahren tot war?
»Und dieses ›hoppsassa fiderallala‹, was bedeutet das überhaupt? Ist das am Ende ein Loblied auf die Feinde der Revolution, das Sie Stalin da in den Mund gelegt haben?«, fragte Stalin, der immer in der dritten Person von sich sprach, wenn er sich aufregte.
Allan erwiderte, für die englische Übersetzung von »hoppsassa fiderallala!« brauche er eine kurze Bedenkzeit, doch Herr Stalin könne ganz beruhigt sein, das sei nichts anderes als ein fröhlicher Ausruf.
»Ein fröhlicher Ausruf?« Jetzt wurde Genosse Stalin langsam laut. »Finden Sie etwa, dass Stalin fröhlich aussieht?«
Langsam ging Allan Stalins Überempfindlichkeit auf die Nerven. Der Kerl war ja schon ganz rot im Gesicht, so regte der sich auf, und das im Grunde über nichts und wieder nichts. Doch Stalin fuhr fort:
»Und wie war das eigentlich mit dem spanischen Bürgerkrieg? Vielleicht sollte man den Herrn Heidenstam-Anhänger doch noch mal fragen, auf welcher Seite er da überhaupt gekämpft hat?«
Mist, hatte der jetzt auch noch einen siebten Sinn?, überlegte Allan. Na, er war ja sowieso schon so wütend, wie ein Mensch nur werden konnte, da konnte man auch gleich sagen, wie sich die Dinge wirklich verhielten.
»Eigentlich habe ich gar nicht gekämpft, Herr Stalin. Am Anfang habe ich den Republikanern geholfen, aber zum Schluss habe ich eher durch Zufall die Seiten gewechselt und Freundschaft mit General Franco geschlossen.«
»Mit General Franco?«, kreischte Stalin und sprang so jäh auf, dass sein Stuhl umfiel.
Offensichtlich konnte er doch noch wütender werden. In Allans ereignisreichem Leben war es schon ein paarmal vorgekommen, dass man ihn angebrüllt hatte, aber er hatte nie zurückgebrüllt, und er hatte auch nicht vor, bei Stalin damit anzufangen. Was natürlich nicht hieß, dass die Situation ihn unberührt ließ. Im Gegenteil, der kleine Schreihals hier war ihm im Handumdrehen unsympathisch geworden. Allan beschloss, zum Gegenangriff überzugehen, auf seine ganz eigene bescheidene Weise.
»Nicht nur das, Herr Stalin. Ich war auch in China, um Krieg gegen Mao Tse-tung zu führen, bevor ich dann in den Iran fuhr, um ein Attentat auf Churchill zu verhindern.«
»Churchill? Diese fette Sau!«, schrie Stalin.
Er fasste sich lange genug, um ein ganzes Wasserglas voll Wodka herunterzuschütten. Neidisch beobachtete ihn Allan. Er hätte es ganz nett gefunden, wenn man ihm auch noch einmal nachgeschenkt hätte, aber er fand, dies war vielleicht nicht der richtige Moment, um einen derartigen Wunsch vorzubringen.
Marschall Berija und Julij Borissowitsch sagten gar nichts, hatten aber sehr unterschiedliche Mienen aufgesetzt. Berija funkelte Allan zornig an, während Julij einfach nur unglücklich dreinblickte.
Stalin schüttelte sich und senkte dann die Stimme auf fast normale Lautstärke. Böse war er immer noch.
»Hat Stalin das richtig verstanden?«, sagte Stalin. »Sie standen auf Francos Seite, Sie haben gegen Genosse Mao gekämpft, Sie haben … dem Schwein aus London das Leben gerettet und den Erzkapitalisten in den USA die tödlichste Waffe der Welt in die Hände gelegt?«
»Genosse Stalin stellt die Dinge vielleicht ein bisschen überspitzt dar, aber im Wesentlichen ist das korrekt so, ja. Mein Vater hat sich am Ende übrigens dem Zaren angeschlossen, wenn der Herr Stalin mir das auch noch zum Nachteil auslegen will.«
»Mir doch egal«, murmelte Stalin und vergaß vor lauter Wut, in der dritten Person zu sprechen. »Und jetzt sind Sie also hier, um sich an den Sowjetsozialismus zu verkaufen? Hunderttausend Dollar – das ist also der Preis für Ihre Seele? Oder ist der im Laufe des Abends noch mal gestiegen?«
Inzwischen war Allan jede Lust zur Zusammenarbeit vergangen. Julij war zwar immer noch ein netter Mann, und im Grunde brauchte er ja seine Hilfe. Doch man konnte nicht außer Acht lassen, dass das Ergebnis von Julijs Arbeit letztlich in den Händen von Genosse Stalin landen würde, und der war ja nicht gerade ein Genosse im eigentlichen Sinne des Wortes. Obendrein wirkte er ziemlich labil, vielleicht war es doch am besten, wenn er gar nicht erst mit dieser Bombe herumspielen konnte.
»Nee«, wehrte Allan ab, »in dieser Sache ist es von Anfang an nie um Geld gegangen.«
Weiter kam Allan nicht, denn da explodierte Stalin schon wieder.
»Wofür halten Sie sich eigentlich? Sie verfluchte Ratte!«, schrie Stalin. »Glauben Sie etwa, dass Sie, ein Repräsentant des Faschismus, des ekelhaften amerikanischen Kapitalismus, sämtlicher Dinge, die Stalin auf dieser Erde so abgrundtief verachtet, glauben Sie, dass Sie, Sie, in den Kreml kommen können, in den Kreml, um mit Stalin zu feilschen, mit Stalin zu feilschen?«
»Warum sagen Sie denn alles zweimal?«, wollte Allan wissen, doch Stalin fuhr fort:
»Merken Sie sich eines: Die Sowjetunion ist bereit, wieder in den Kampf zu ziehen! Es wird Krieg geben, es wird unausweichlich Krieg geben, bis der amerikanische Imperialismus vernichtet ist.«
»Ach ja, meinen Sie wirklich?«, sagte Allan.
»Um zu kämpfen und zu gewinnen, brauchen wir Ihre verdammte Atombombe nicht! Was wir brauchen, sind sozialistische Seelen und Herzen! Wer fühlt, dass er niemals besiegt werden kann, der kann auch niemals besiegt werden!«
»Solange keiner eine Atombombe über ihm abwirft«, entgegnete Allan.
»Ich werde den Kapitalismus zerschmettern! Hören Sie? Ich werde jeden einzelnen Kapitalisten zerschmettern! Und mit Ihnen werde ich gleich anfangen, Sie elender Hund, wenn Sie uns mit der Bombe nicht helfen!«
Allan stellte fest, dass er innerhalb einer Minute sowohl als Ratte als auch als Hund tituliert worden war. Und dass Stalin wohl nicht alle Tassen im Schrank hatte, denn jetzt hatte er offenbar doch noch vor, Allans Dienste in Anspruch zu nehmen.
Doch der hatte keine Lust, sich weitere Unverschämtheiten an den Kopf werfen zu lassen. Er war nach Moskau gekommen, um den Leuten zu helfen, nicht, um sich anschreien zu lassen. Sollte Stalin doch zusehen, wie er alleine zurechtkam.
»Ich hab mir da gerade was überlegt«, verkündete Allan.
»Was?«, fuhr Stalin ihn an.
»Wie wär’s, wenn Sie sich mal diesen Schnurrbart abrasieren?«
Damit war das Abendessen beendet, denn der Dolmetscher wurde ohnmächtig.
* * * *
In aller Eile wurden die Pläne geändert. Allan wurde nie in die feinste Gästewohnung des Kreml einquartiert, sondern in eine fensterlose Zelle im Keller der russischen Geheimpolizei. Genosse Stalin hatte zum Schluss entschieden, dass die Sowjetunion entweder durch die eigenen Experten an die Formel für die Atombombe kommen musste oder durch ehrenwerte Spionage. Weitere Westler würde man nicht entführen, und man würde auch definitiv nicht mehr mit Kapitalisten oder Faschisten oder beiden feilschen.
Julij war zutiefst unglücklich. Nicht nur, weil er den netten Allan in die Sowjetunion gelockt hatte, wo ihn jetzt mit Sicherheit der Tod erwartete, sondern auch, weil Genosse Stalin solche charakterlichen Mängel gezeigt hatte! Der große Führer war intelligent, ein guter Tänzer, er verfügte über Allgemeinbildung und eine schöne Singstimme. Und dann war er völlig wahnsinnig! Allan hatte nur zufällig den falschen Dichter zitiert, und binnen Sekunden hatte sich ein gemütliches Abendessen in … eine Katastrophe verwandelt!
Unter Gefahr für sein eigenes Leben versuchte Julij vorsichtig, ganz vorsichtig mit Marschall Berija über Allans bevorstehende Hinrichtung zu reden und inwieweit es da nicht doch eine Alternative geben könnte.
Doch da hatte er sich im Marschall getäuscht. Der verging sich zwar an Frauen wie Kindern, ließ Schuldige wie Unschuldige foltern und hinrichten, tat zwar solche schrecklichen Dinge und noch viel mehr … aber so abstoßend seine Methoden auch sein mochten, er arbeitete zielstrebig immer nur für das Beste der Sowjetunion.
»Machen Sie sich keine Sorgen, Julij Borissowitsch, Herr Karlsson wird nicht sterben. Jedenfalls noch nicht.«
Marschall Berija erklärte, dass er vorhabe, Allan Karlsson als Trumpf im Ärmel zu behalten, für den Fall, dass Julij Borissowitsch und seine Forscherkollegen weiter an der Entwicklung der Bombe scheiterten – was man langfristig nicht hinnehmen würde. Der Marschall war sehr zufrieden damit, wie geschickt er eine Drohung in diese Erklärung verpackt hatte.
* * * *
Während er auf seinen Prozess wartete, saß Allan also in einer der vielen Zellen der Geheimpolizei. Das Einzige, was in seinem Leben passierte – abgesehen von gar nichts – war, dass man ihm täglich ein Stück Brot, dreißig Gramm Zucker und drei warme Gerichte brachte (Gemüsesuppe, Gemüsesuppe und Gemüsesuppe).
Das Essen im Kreml war zwar besser gewesen als das im Gefängnis. Doch Allan fand, wenn auch die Suppe eher schmeckte, konnte er sie zumindest in Ruhe genießen, ohne dass sich jemand vor ihm aufbaute und ihn aus unerfindlichen Gründen anbrüllte.
Diese neue Diät dauerte sechs Tage, dann brachte das Spezialgremium des Geheimdienstes ihn zur Verhandlung. Der Gerichtssaal lag, ebenso wie Allans Zelle, im riesigen Gebäude des Geheimdienstes am Lubjanka-Platz, wenn auch ein paar Etagen höher. Man setzte Allan auf einen Stuhl vor dem Richterpult. Links vom Richter saß der Staatsanwalt, ein Mann mit mürrischem Gesicht, und rechts Allans Verteidiger, ebenfalls ein Mann mit mürrischem Gesicht.
Erst sagte der Staatsanwalt etwas auf Russisch, was Allan nicht verstand. Dann sagte der Anwalt etwas auf Russisch, was Allan auch nicht verstand. Daraufhin nickte der Richter scheinbar nachdenklich, bevor er zur Sicherheit noch einmal seinen Memo-Zettel auseinanderfaltete und mitteilte:
»Das Spezialgremium beschließt hiermit, Allan Emmanuel Karlsson, Bürger des schwedischen Königreiches, zu dreißig Jahren in einem Besserungsarbeitslager in Wladiwostok zu verurteilen, da er sich als gefährliches Element für die sowjetische sozialistische Gesellschaft erwiesen hat!«
Der Richter informierte den Verurteilten, er könne das Urteil anfechten, das wäre dann Angelegenheit des Obersten Sowjets, und die Verhandlung würde heute in drei Monaten stattfinden. Doch Allan Karlssons Anwalt teilte in Allan Karlssons Namen mit, dass er keine Revision einlegen würde. Im Gegenteil, er sei dankbar für das milde Urteil.
Zwar fragte man Allan nie, ob er wirklich dankbar war, aber das Urteil hatte zweifellos seine netten Seiten. Erstens behielt der Angeklagte sein Leben, und das kam selten vor, wenn man als gefährliches Element eingestuft worden war. Und zweitens landete er im Gulag in Wladiwostok, im absolut erträglichsten Klima Sibiriens. Dort war das Wetter nicht viel übler als zu Hause in Sörmland, während es weiter nördlich und in Richtung Binnenland durchaus fünfzig, sechzig oder gar siebzig Minusgrade geben konnte.
Allan hatte also gewissermaßen Glück gehabt. Nun wurde er mit ungefähr dreißig gerade verurteilten Dissidenten, die sein glückliches Los teilten, in einen zugigen Waggon verfrachtet. Diese Menschenladung hatte außerdem nicht weniger als drei Decken pro Kopf bekommen, da der Kernphysiker Julij Borissowitsch Popow den Wärter mit einem Bündel Rubel bestochen hatte. Der Mann fand es seltsam, dass ein so prominenter Bürger sich für einen Gulagtransport engagierte, und überlegte kurz, ob er den Vorfall seinen Vorgesetzten melden sollte. Doch dann fiel ihm wieder ein, dass er ja schon das Geld angenommen hatte, also war es wohl schlauer, weiter keinen Staub aufzuwirbeln.
Allan tat sich schwer, in diesem Gefangenentransport jemanden zu finden, mit dem er plaudern konnte, denn fast alle sprachen nur Russisch. Doch ein Mann um die fünfzig konnte Italienisch, und da Allan fließend Spanisch sprach, konnten sich die beiden einigermaßen verständigen. Jedenfalls verstand Allan so viel, dass der Mann zutiefst unglücklich war und sich am liebsten das Leben genommen hätte, wenn er nicht – nach seinen eigenen Worten – so eine erbärmliche Memme wäre. Allan tröstete ihn, so gut es ging, und meinte, dass sich die Dinge vielleicht sogar im Sinne des Mitreisenden entwickeln könnten, sobald der Zug ins sibirische Binnenland kam, denn drei Decken könnten sogar etwas knapp kalkuliert sein, wenn das Wetter entsprechend gelaunt war.
Der Italiener schniefte noch ein wenig, dann richtete er sich wieder auf und reichte Allan die Hand, um sich für seine Unterstützung zu bedanken. Er war übrigens gar kein echter Italiener, sondern Deutscher. Herbert hieß er. Sein Nachname sei nicht so wichtig, meinte er.
* * * *
Herbert Einstein hatte in seinem Leben kein Glück gehabt. Aufgrund eines administrativen Fehlers war er ebenso wie Allan zu dreißig Jahren Besserungsarbeitslager verurteilt worden, nicht zum Tode, nach dem er sich so sehnte.
Und er erfror auch nicht in der sibirischen Tundra, dafür sorgten die drei Decken. Außerdem war der Januar 1948 der mildeste seit Langem. Doch Allan versicherte Herbert, künftig werde er bestimmt andere Möglichkeiten finden. Immerhin waren sie ja auf dem Weg zu einem Arbeitslager, wenn es also anderweitig nicht klappen wollte, konnte er sich doch immer noch totarbeiten, wie wäre es denn damit?
Seufzend meinte Herbert, dafür sei er wohl zu faul. Allerdings wusste er es nicht so genau, denn er hatte sein Lebtag noch nicht gearbeitet.
Darin sah Allan durchaus eine Chance. In einem Arbeitslager konnte man ganz sicher nicht faulenzen, da würden die Wachen einem garantiert gleich ein paar Kugeln hinterherschießen.
Herbert begrüßte den Gedanken einerseits, andererseits schauderte er auch. Ein paar Kugeln – tat so was nicht schrecklich weh?
* * * *
Allan Karlsson stellte keine großen Ansprüche ans Leben. Er wollte ein Bett, ausreichend Essen, eine Beschäftigung und in gewissen Abständen ein Gläschen Schnaps. Solange das gesichert war, konnte er fast alles ertragen. Insofern bot das Lager in Wladiwostok alles, was er sich wünschte, bis auf den Schnaps.
Der Hafen von Wladiwostok hatte damals einen offenen und einen geschlossenen Teil. Der geschlossene war von einem zwei Meter hohen Zaun umgeben, in dem das Zwangsarbeitslager des Gulag lag: vier Reihen mit je vierzig braunen Baracken. Der Zaun ging bis hinunter an den Kai. Die Schiffe, die von den Gefangenen beladen und entladen werden sollten, legten innerhalb der Umzäunung an, die anderen außerhalb. Die Lagerinsassen hatten mit fast jeder Art von Ladung zu tun, nur die ganz kleinen Fischerboote mit Besatzung mussten allein zurechtkommen, und der eine oder andere Öltanker, der einfach zu groß war.
Bis auf wenige Ausnahmen sahen die Tage im Lager in Wladiwostok immer gleich aus. Wecken um sechs Uhr, Frühstück um Viertel nach sechs. Die Arbeitsschicht dauerte zwölf Stunden, von halb sieben bis halb sieben, mit einer halbstündigen Mittagspause um zwölf. Im Anschluss an die Arbeit gab es Abendessen, danach wurden die Insassen bis zum nächsten Morgen eingesperrt.
Die Verpflegung war ganz anständig: Es gab zwar meistens Fisch, aber selten in Form von Suppe. Die Wächter waren nicht direkt freundlich, aber sie schossen auch nicht unnötig auf die Gefangenen. Sogar Herbert Einstein war noch am Leben, obgleich das seinen Wünschen zuwiderlief. Er schlurfte zwar matter daher als jeder andere Gefangene, aber da er sich immer in der Nähe des hart arbeitenden Allan aufhielt, fiel er nicht weiter auf.
Allan hatte nichts dagegen, für zwei zu arbeiten. Allerdings führte er bald eine Regel ein: Herbert durfte ihm nicht die ganze Zeit die Ohren volljammern, wie elend sein Leben doch sei. Das habe Allan inzwischen verstanden, und er vergesse es ganz sicher nicht vom einen Tag auf den nächsten. Diese Klagen immer und immer wieder zu wiederholen, sei also völlig sinnlos.
Herbert gehorchte, und damit war alles in Ordnung.
Wäre da nur nicht die Sache mit dem Schnaps gewesen. Allan hielt es genau fünf Jahre und drei Wochen aus. Dann verkündete er: »Jetzt will ich endlich mal wieder einen ordentlichen Schnaps. Und hier kriegt man nirgendwo einen Schnaps. Da muss ich mich wohl mal wieder verändern.«