7. KAPITEL 1929–1939
Die Hütte in Yxhult bot keinen schönen Anblick. In den Jahren, die Allan in Professor Lundborgs Obhut zugebracht hatte, war alles zugewuchert. Stürme hatten die Dachziegel heruntergerissen, die jetzt überall auf dem Boden verstreut lagen. Aus irgendeinem Grund war das Plumpsklo umgekippt, und ein Küchenfenster war offen und schlug im Wind hin und her.
Allan stellte sich zum Pinkeln vors Haus, da er ja vorerst kein funktionstüchtiges Klo mehr hatte. Dann ging er hinein und setzte sich in seine staubige Küche. Das Fenster ließ er offen. Obwohl er Hunger hatte, widerstand er dem Impuls, in die Speisekammer zu schauen. Er war ziemlich sicher, dass der Anblick ihn nicht froh machen würde.
Hier war er geboren und aufgewachsen, aber zu Hause war ihm noch nie so fern vorgekommen wie in diesem Augenblick. Vielleicht war es einfach an der Zeit, die Bande mit der Vergangenheit zu kappen und stattdessen vorwärtszugehen? Ja, ganz sicher.
Er suchte ein paar Stangen Dynamit zusammen und traf die notwendigen Vorkehrungen, bevor er seinen kleinen Fahrradanhänger mit den paar einigermaßen wertvollen Gegenständen belud, die er sein Eigen nannte. Am 3. Juni 1929 radelte er im Morgengrauen los und ließ Yxhult und Flen hinter sich. Der Sprengsatz detonierte wie geplant nach exakt einer halben Stunde. Die Hütte in Yxhult flog in die Luft, und die Kuh des nächsten Nachbarn erlitt noch eine Fehlgeburt.
Wieder eine Stunde später saß der verhaftete Allan auf dem Polizeirevier in Flen und verzehrte sein Abendbrot, während er sich von Polizeiobermeister Krook ausschimpfen ließ. Die Polizei in Flen hatte gerade einen Streifenwagen bekommen, weswegen sie den Mann schnell fassen konnten, der gerade seine eigene Behausung in Schutt und Asche gelegt hatte.
Diesmal war die Anschuldigung klarer als letztes Mal.
»Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion und Zerstörung von Bauwerken«, verkündete Krook mit Respekt einflößender Stimme.
»Könnten Sie mir wohl mal das Brot reichen?«, bat Allan.
Das konnte Polizeiobermeister Krook nicht. Stattdessen begann er, seinen Assistenten zu beschimpfen, der sich dazu hatte hinreißen lassen, dem Delinquenten auf dessen Bitte ein Abendessen zu bringen. Unterdessen hatte Allan fertig gegessen und ließ sich in dieselbe Zelle führen wie beim letzten Mal.
»Sie hätten nicht zufällig eine Zeitung rumliegen?«, fragte Allan. »So als Bettlektüre?«
Statt einer Antwort machte Polizeiobermeister Krook das Licht aus und knallte die Tür zu. Am nächsten Morgen rief er sofort »dieses Irrenhaus« in Uppsala an, sie sollten kommen und Allan Karlsson abholen.
Aber auf dem Ohr war Bernhard Lundborgs Mitarbeiter taub. Karlsson war austherapiert, jetzt wurden andere Leute kastriert und analysiert. Oh, wenn der Polizeiobermeister wüsste, vor wie vielen Leuten man diese Nation beschützen musste: Juden und Zigeuner, Voll- und Halbneger, Geistesschwache und anderes Kroppzeugs. Dass Herr Karlsson sein eigenes Haus in die Luft gesprengt hatte, qualifizierte ihn nicht für einen weiteren Ausflug nach Uppland. Mit dem eigenen Haus dürfe man doch wohl machen, was man wolle, oder denke der Polizeiobermeister da anders? Wir leben schließlich in einem freien Land, oder?
Zu guter Letzt legte Krook einfach auf. Gegen diese Großstadtmenschen konnte er nichts ausrichten. Jetzt ärgerte er sich, dass er Karlsson nicht einfach hatte davonradeln lassen, wie es der Mann tags zuvor ja auch vorgehabt hatte.
So kam es denn, dass Allan Karlsson nach erfolgreichen Verhandlungen am Vormittag wieder auf sein Fahrrad mit dem Anhänger stieg. Diesmal hatte er Proviant für drei Tage dabei und doppelte Decken zum Schutz vor Kälteeinbrüchen. Er winkte Polizeiobermeister Krook zum Abschied – der freilich nicht zurückwinkte –, und dann strampelte er nordwärts davon, denn diese Himmelsrichtung dünkte Allan ebenso gut wie jede andere.
Bis zum Nachmittag hatte er es schon bis Hälleforsnäs geschafft, was ihm fürs Erste reichte. Er hielt bei einer Wiese, breitete eine Decke auf dem Gras aus und machte sich über seinen Proviant her. Während er eine Schnitte Melassebrot mit Mettwurst kaute, musterte er das Fabrikgebäude, das sich in unmittelbarer Nähe befand. Vor der Fabrik lag ein ganzer Haufen Kanonenrohre. Allan dachte sich, einer, der Kanonen baute, brauchte sicher auch jemanden, der dafür sorgte, dass es richtig knallte, wenn es richtig knallen sollte. Und er wollte ja nicht zum Selbstzweck so weit wie möglich von Yxhult wegfahren. Warum sollte er also nicht einfach in Hälleforsnäs bleiben? Immer unter der Voraussetzung natürlich, dass er hier auch Arbeit fand.
Der Zusammenhang, den Allan zwischen Kanonenrohren und dem eventuellen Bedarf an seinen speziellen Fähigkeiten herstellte, war vielleicht ein klein wenig naiv. Und doch verhielt es sich genau so und nicht anders. Nach einem kurzen Gespräch mit dem Fabrikanten, in dem Allan gewisse Teile seines Lebenslaufs geflissentlich unter den Tisch fallen ließ, hatte er eine Festanstellung als Sprengstofftechniker.
Hier würde er sich wohlfühlen, dachte Allan.
* * * *
Die Kanonenherstellung in der Gießerei Hälleforsnäs lief nur noch auf Sparflamme, und die Bestellungen wurden stetig weniger statt mehr. Verteidigungsminister Per Albin Hansson hatte nach dem Ersten Weltkrieg den Militäretat beträchtlich zusammengestrichen, und Gustav V. blieb nichts anderes übrig, als im Schloss zu sitzen und mit den Zähnen zu knirschen. Per Albin, ein analytisch denkender Mann, argumentierte damit, dass Schweden in der Rückschau betrachtet vor dem Krieg tatsächlich besser hätte gerüstet sein müssen, aber dass es auch nichts mehr nützte, jetzt, ganze zehn Jahre später, in die Rüstung zu investieren. Außerdem gab es ja jetzt den Völkerbund.
Für die Gießerei in Sörmland sahen die Konsequenzen so aus, dass man zum einen der Tätigkeit eine friedliche Ausrichtung gab, zum andern aber auch Arbeitern kündigte.
Allan allerdings nicht, denn Sprengstofftechniker wie er waren Mangelware. Der Fabrikant hatte kaum seinen Augen und Ohren getraut, als Allan eines Tages vor ihm stand und sich als Experte für Sprengstoffe aller Art erwies. Bis dahin hatte sich der Fabrikbesitzer ganz auf seinen einen Sprengstofftechniker verlassen müssen, was wirklich nicht so gut war, denn der war Ausländer, sprach kaum ein Wort Schwedisch und hatte pechschwarze Haare – und das auch noch am ganzen Körper. Damals hatte er ihn eben notgedrungen einstellen müssen, auch wenn nicht ganz klar war, ob man ihm trauen konnte.
Allan hingegen beurteilte die Menschen nicht nach ihrer Hautfarbe, und das Gerede eines Professor Lundborg war ihm schon immer ein bisschen seltsam vorgekommen. Er war vielmehr neugierig auf die Begegnung mit seinem ersten Neger, oder auch der ersten Negerin, das war ihm egal. Sehnsüchtig las er die Anzeigen, die Josephine Bakers Besuch in Stockholm ankündigten, aber vorerst musste er mit Estebán vorliebnehmen, seinem weißen, wenn auch dunkel geratenen Arbeitskollegen aus Spanien.
Allan und Estebán verstanden sich auf Anhieb. Außerdem wohnten sie zusammen in einem schäbigen Loch in der Arbeitersiedlung neben der Fabrik. Der Spanier erzählte seine dramatische Vorgeschichte. Er hatte auf einem Fest in Madrid ein Mädchen kennengelernt und heimlich ein – wenn auch recht unschuldiges – Verhältnis mit ihr angefangen, ohne zu wissen, dass sie die Tochter des Premierministers Miguel Primo de Rivera war. Der freilich war nicht die Person, mit der man sich ungestraft anlegte. Er regierte das Land ganz nach eigenem Gutdünken, mit dem hilflosen König am Gängelband. »Premierminister«, das war schon bald ein beschönigender Ausdruck für »Diktator«, meinte Estebán. Aber seine Tochter war so unglaublich schön!
Estebáns Herkunft aus der Arbeiterklasse wollte dem potenziellen Schwiegervater überhaupt nicht gefallen. Bei seinem ersten und einzigen Treffen mit Primo de Rivera erfuhr Estebán, dass er zwei Optionen hatte: Entweder das Land verlassen, und zwar so weit weg wie nur irgend möglich, oder sich auf der Stelle einen Genickschuss verpassen lassen.
Während Primo de Rivera sein Gewehr entsicherte, antwortete Estebán, dass er sich bereits für die erste Option entschieden habe, und zog sich hastig rückwärts zurück, sorgfältig darauf achtend, dem Mann nicht das Genick zuzuwenden und auch keinen Blick mehr auf das schluchzende Mädchen zu werfen.
So weit weg wie irgend möglich, dachte Estebán und machte sich auf den Weg in den Norden, und dann noch weiter in den Norden, bis er zum Schluss so weit im Norden war, dass die Seen dort im Winter zu Eis gefroren. Da glaubte er endlich, weit genug weg zu sein. Und hier war er seitdem geblieben. Die Stelle in der Gießerei hatte er vor drei Jahren mit Hilfe eines dolmetschenden katholischen Priesters bekommen und der – Gott mochte es ihm verzeihen – wild zusammengelogenen Geschichte, in Spanien hätte er mit Sprengstoffen gearbeitet, wo er in Wirklichkeit doch nur Tomaten gepflückt hatte.
Mit der Zeit hatte Estebán nicht nur Schwedisch gelernt, sondern war auch ein recht fähiger Sprengstofftechniker geworden. Und jetzt, da er Allan an seiner Seite hatte, entwickelte er sich nachgerade zu einem wahren Fachmann.
* * * *
Allan lebte sich in der Arbeitersiedlung prächtig ein. Nach einem Jahr hatte Estebán ihm so viel beigebracht, dass er sich auch auf Spanisch verständigen konnte. Nach zwei Jahren sprach er es fast schon fließend. Doch es dauerte drei Jahre, bis Estebán den Versuch aufgab, ihm seine spanische Variante des internationalen Sozialismus aufzudrängen. Er ließ nichts unversucht, aber Allan zeigte sich gänzlich unbeeindruckt. Dieser Teil der Persönlichkeit seines besten Freundes blieb Estebán ein Rätsel. Allan vertrat ja keine entgegengesetzte Auffassung von den Dingen oder hing anderen Ideen an, er hatte ganz einfach überhaupt keine Auffassung. Oder vielleicht war ja gerade das Allans Auffassung? Estebán blieb nichts anderes übrig, als sich damit abzufinden, dass er seinen Freund nicht verstand.
Allan seinerseits sah sich einem ganz ähnlichen Problem gegenüber. Estebán war ein guter Kamerad. Dass ihn die vermaledeite Politik vergiftet hatte, konnte man nicht mehr ändern – da war er ja auch weiß Gott nicht der Einzige.
Die Jahreszeiten wechselten einander noch ein paarmal ab, bis Allans Leben eines Tages eine neue Wendung nahm. Es begann damit, dass Estebán die Nachricht erreichte, Primo de Rivera sei zurückgetreten und außer Landes geflohen. Jetzt kehrte also wirklich Demokratie ein, vielleicht sogar Sozialismus, und das wollte Estebán sich nicht entgehen lassen.
Daher wollte er so schnell wie möglich in die Heimat zurückkehren. Die Gießerei lief sowieso immer schlechter, da Señor Per Albin beschlossen hatte, dass es keinen Krieg mehr geben würde. Estebán meinte, dass den beiden Sprengstofftechnikern jederzeit gekündigt werden könne. Er erkundigte sich, was sein Freund Allan denn für Pläne habe. Ob er sich vielleicht vorstellen könnte, mit ihm zu kommen?
Allan überlegte. Einerseits interessierte er sich nicht für Revolutionen, ganz gleich, ob spanische oder sonst welche. So etwas konnte zwangsläufig immer nur zu einer neuen Revolution führen, die in die entgegengesetzte Richtung ausschlug. Andererseits lag Spanien ja im Ausland, so wie alle Länder, abgesehen von Schweden. Und nachdem er sein Leben lang immer nur vom Ausland gelesen hatte, war es vielleicht gar keine dumme Idee, wenn er sich die Sache mal aus der Nähe ansah. Vielleicht würden unterwegs ja sogar ein, zwei Neger dabei herausspringen?
Als Estebán ihm versprach, dass sie auf dem Weg nach Spanien mindestens einen Neger treffen würden, konnte Allan nicht Nein sagen. Daraufhin machten sich die Freunde an die praktischen Überlegungen. Dabei kamen sie rasch zu dem Schluss, dass der Fabrikant (wie sie es ausdrückten) »ein mieser Schuft« war, der keinerlei Rücksichten verdiente. Also verabredeten sie, noch die nächste Lohntüte abzuwarten und sich dann heimlich, still und leise davonzumachen.
So kam es also, dass Allan und Estebán am nächsten Sonntag um fünf Uhr morgens aufstanden, um mit einem Fahrrad mit Anhänger gen Süden aufzubrechen, Richtung Spanien. Unterwegs wollte Estebán noch am Haus des Fabrikbesitzers anhalten, um seine komplette morgendliche Notdurft in der Milchkanne zu hinterlassen, die in aller Frühe geliefert und vor dem Grundstückstor abgestellt wurde. Als Grund gab er an, dass der Fabrikant und seine beiden Söhne ihn jahrelang als »Affen« gehänselt hätten.
»Rache ist nicht gut«, verkündete Allan. »Mit der Rache geht es wie mit der Politik, da gibt auch eins das andere, bis das Schlechte zum Schlechteren geworden ist, und das Schlechtere zum Allerschlechtesten.«
Doch Estebán gab nicht nach. Nur weil man behaarte Arme hatte und die Sprache des Fabrikanten nicht so toll sprach, war man doch wohl noch lange kein Affe?
Da musste Allan ihm zustimmen, und so einigten sich die Freunde auf einen Kompromiss: Estebán durfte in die Milchkanne pissen, aber nicht kacken.
So kam es also, dass die Gießerei in Hälleforsnäs statt zwei Sprengstofftechnikern plötzlich gar keinen mehr hatte. Zeugen hatten dem Fabrikanten noch am selben Morgen hinterbracht, dass Allan und Estebán mit Fahrrad und Anhänger auf dem Weg nach Katrineholm waren oder vielleicht sogar ein noch weiter im Süden gelegenes Ziel ansteuerten. Daher war der Unternehmer immerhin auf den bevorstehenden Personalmangel vorbereitet, als er am Sonntagvormittag auf der Veranda seiner Villa saß und nachdenklich an dem Glas Milch nippte, das Sigrid ihm freundlicherweise mit etwas Mandelbiskuit serviert hatte. Seine Laune sackte noch weiter in den Keller, als er zu dem Schluss kam, dass mit den Biskuits irgendetwas nicht in Ordnung war. Die schmeckten ganz eindeutig nach Ammoniak.
Der Fabrikant beschloss, bis nach dem Gottesdienst zu warten, dann würde er Sigrid die Ohren langziehen. Aber erst bestellte er sich noch ein Glas Milch, um sich den widerlichen Geschmack aus dem Mund zu spülen.
* * * *
Und so landete Allan Karlsson in Spanien. Drei Monate waren sie quer durch Europa unterwegs, und dabei traf er mehr Neger, als er sich jemals hätte träumen lassen. Allerdings hatte er schon nach dem ersten das Interesse verloren. Wie sich herausstellte, lag der einzige Unterschied in der Hautfarbe – abgesehen davon, dass sie sich allesamt seltsamer Sprachen bedienten, aber das machten Weiße ja auch. Man denke nur an die Bevölkerung in Småland oder in den ganz südlichen Regionen Schwedens. Diesen Lundborg musste in seiner frühen Kindheit wohl mal ein Neger erschreckt haben, anders konnte Allan es sich nicht erklären.
Als sein Freund und er schließlich Spanien erreichten, fanden sie das Land im Chaos vor. Der König war nach Rom geflohen, jetzt hatte man eine Republik ausgerufen. Die Linke schrie revolución, während das rechte Lager von den Geschehnissen im stalinistischen Russland erschreckt wurde. Würde es hier am Ende genauso aussehen?
Im ersten Moment vergaß Estebán völlig, dass sein Freund heillos unpolitisch war, und versuchte, Allan mit dem revolutionären Geist anzustecken. Doch der sträubte sich wie gewohnt. Er hatte das alles schon in seiner Jugend zu hören bekommen, und es wollte ihm immer noch nicht in den Kopf, warum sich die Leute ständig wünschten, dass alles genau umgekehrt sein sollte.
Es kam zu einem missglückten Militärputsch der Rechten, gefolgt von einem Generalstreik der Linken. Dann wurde gewählt. Die Linken gewannen, die Rechten waren beleidigt – oder war es andersrum? Allan wusste es nicht genau. Auf jeden Fall gab es am Ende Krieg.
Allan fiel in diesem fremden Land nichts Besseres ein, als sich immer einen halben Schritt hinter Estebán zu halten. Dieser ließ sich anwerben und wurde sofort zum Feldwebel befördert, als der Zugführer merkte, dass Estebán wusste, wie man alles Mögliche in die Luft sprengen konnte.
Allans Freund trug die Uniform mit Stolz und freute sich schon auf seinen ersten Kampfeinsatz. Seine Einheit bekam den Auftrag, ein paar Brücken in einem Tal in Aragonien zu sprengen, und Estebáns Trupp wurde die erste Brücke zugeteilt. Estebán war so begeistert von diesem Vertrauensbeweis, dass er sich auf einen Felsen stellte, das Gewehr mit der Linken gen Himmel reckte und rief:
»Tod dem Faschismus! Tod allen Faschist…«
Er konnte den Satz nicht mehr zu Ende bringen, denn im nächsten Moment wurden ihm Schädel und Teile einer Schulter von der möglicherweise allerersten feindlichen Granate dieses Krieges weggerissen. Allan stand vielleicht zwanzig Meter von ihm entfernt, als es geschah. So bekam er immerhin nichts von den matschigen Einzelteilen seines Freundes ab, die sich rund um diesen Felsen verteilten, auf den er sich unvernünftigerweise gestellt hatte. Einer der gemeinen Soldaten von Estebáns Truppe begann zu weinen. Allan selbst nahm die Überreste seines Freundes in Augenschein und beschloss, dass es sich nicht lohnte, sie zu beerdigen.
»Wärst du doch in Hälleforsnäs geblieben«, sagte Allan. Und auf einmal sehnte er sich ganz schrecklich danach, vor der Hütte in Yxhult Brennholz zu hacken.
* * * *
Die Granate, die Estebán zerfetzt hatte, war möglicherweise die erste dieses Krieges gewesen, aber es war ganz sicher nicht die letzte. Allan zog in Erwägung, nach Hause zu fahren, aber plötzlich war der Krieg überall. Außerdem war es ein ziemlicher Gewaltmarsch heim nach Schweden, und dort gab es ja im Grunde auch nichts, was auf ihn wartete.
Daher suchte Allan die Kommandanten von Estebáns Einheit auf, präsentierte sich als der führende Pyrotechniker des Kontinents und erklärte, dass er sich vorstellen könnte, Brücken und andere infrastrukturelle Konstruktionen in die Luft zu jagen. Als Entgelt forderte er nur drei Mahlzeiten am Tag und, wenn die Umstände es zuließen, genug Wein, um sich zwischendurch einen gepflegten Rausch anzutrinken.
Der Kompaniechef war drauf und dran, Allan erschießen zu lassen, weil dieser sich weigerte, das Loblied des Sozialismus und der Republik zu singen, und außerdem verlangte, in Zivilkleidung arbeiten zu dürfen. Oder, wie Allan sich ausdrückte:
»Und noch was … Wenn ich für Sie Brücken sprengen soll, dann mach ich das in meinen eigenen Sachen. Ansonsten können Sie Ihre Brücken von mir aus selber in die Luft jagen.«
Der Kompaniechef, der sich von einem Zivilisten so anreden lässt, muss erst noch geboren werden. Nur hatte dieser leider das Problem, dass der einzige seiner Soldaten, der für diese Aufgabe getaugt hätte, vor Kurzem in seine Einzelteile zerlegt und über einen Felsen auf einer Anhöhe ganz in der Nähe verteilt worden war.
Während der Kompaniechef auf seinem Feldstuhl saß und überlegte, ob er Allan nun anheuern oder füsilieren lassen sollte, nahm sich einer der Zugführer die Freiheit, ihm ins Ohr zu flüstern, dass der junge Feldwebel, der unseligerweise gerade in Stücke gerissen worden war, ihnen diesen seltsamen Schweden als Meister der Sprengkunst vorgestellt hatte.
Damit war die Sache entschieden. Señor Karlsson durfte a) am Leben bleiben, b) drei Mahlzeiten am Tag erhalten, c) seine Zivilkleidung tragen und d) genau wie alle anderen ab und zu Wein in vertretbaren Mengen trinken. Im Gegenzug sollte er alles sprengen, was ihm die Offiziere zu sprengen befahlen. Außerdem trug man zwei gemeinen Soldaten auf, den Schweden gut im Auge zu behalten, denn es war nach wie vor nicht auszuschließen, dass er vielleicht doch ein Spion war.
So vergingen die Monate und wurden zu Jahren. Allan sprengte, was man ihm auftrug, und er tat es mit größter Geschicklichkeit. Das war beileibe keine ungefährliche Arbeit. Oft musste er zum betreffenden Objekt schleichen und kriechen, einen Zeitzünder anbringen und sich anschließend robbend wieder in Sicherheit bringen. Nach drei Monaten musste einer von Allans Bewachern das Leben lassen (er war versehentlich direkt ins feindliche Lager gerobbt). Nach einem weiteren halben Jahr ging auch der zweite drauf (er war aufgestanden, um den Rücken durchzustrecken, woraufhin ihm selbiger mittendurch geschossen wurde). Der Kompaniechef verzichtete darauf, sie durch neue Wachen zu ersetzen, dazu hatte Señor Karlsson sich bis dahin viel zu gut geführt.
Allan sah allerdings nicht ein, warum er unnötig Menschen in den Tod reißen sollte, daher sorgte er meistens dafür, dass die zu sprengende Brücke leer war, wenn es knallte. Wie zum Beispiel auch die allerletzte Brücke vor Kriegsende. Doch gerade als er diesmal mit seinen Vorbereitungen fertig war und ins Gebüsch zurückkroch, kam eine feindliche Patrouille daher, in Begleitung eines mit unzähligen Orden behangenen Herrn. Sie kamen von der anderen Seite und schienen keine Ahnung zu haben, dass sich die Republikaner in unmittelbarer Nähe befanden, geschweige denn, dass sie selbst gerade auf bestem Wege waren, Estebán und Tausenden anderer Spanier in der Ewigkeit Gesellschaft zu leisten.
Da beschloss Allan, dass es jetzt mal genug war. Er stand also aus dem Gebüsch auf, in dem er Deckung gesucht hatte, und begann mit den Armen zu fuchteln.
»Gehen Sie da weg!«, schrie er dem Ordenbehangenen und seinen Begleitern zu. »Schnell, verschwinden Sie, bevor Sie in die Luft fliegen!«
Der kleine Ordenbehangene wich erschrocken zurück, doch seine Begleiter nahmen ihn in die Mitte und schleiften ihn über die Brücke, bis sie bei Allans Gebüsch angekommen waren. Dort richteten sich acht Gewehre auf den Schweden, und mindestens eines davon wäre mit Sicherheit abgefeuert worden, wäre nicht plötzlich die Brücke hinter ihnen in die Luft geflogen. Die Druckwelle warf den kleinen Ordenbehangenen in Allans Gebüsch, und in dem ganzen Tumult wagte keiner eine Kugel auf Allan abzufeuern, denn man hätte dabei nur zu leicht den Falschen treffen können. Außerdem schien er ja Zivilist zu sein. Als sich die Staubwolken legten, war schon nicht mehr die Rede davon, Allan zu erschießen. Der kleine Ordenbehangene ergriff Allans Hand und erklärte, dass ein echter General wisse, wie man sich erkenntlich zeigt, und dass sich die Gruppe jetzt wohl besser auf die andere Seite zurückziehen sollte, mit oder ohne Brücke. Wenn sein Retter mitkommen wolle, sei er mehr als willkommen, denn am Ziel würde der General ihn zu gern zum Essen einladen.
»Paella Andaluz«, sagte der General. »Mein Koch kommt nämlich aus dem Süden. ¿Comprende?«
O ja, das verstand Allan. Ihm war außerdem klar, dass er wohl gerade dem generalísimo höchstpersönlich das Leben gerettet hatte und dass es ihm wohl zum Vorteil gereichte, hier in seinem dreckigen Zivilanzug zu stehen statt in republikanischer Uniform. Ihm war klar, dass seine Freunde auf dem hundert Meter entfernten Hügel das Ganze durch ihre Ferngläser verfolgten, und ihm war auch klar, dass es im Interesse der eigenen Gesundheit wohl das Beste war, wenn er die Seiten wechselte in diesem Krieg, dessen Sinn und Zweck sich ihm im Grunde nie ganz erschlossen hatte.
Außerdem hatte er Hunger.
»Sí, por favor, mí general«, sagte Allan. So eine Paella käme ihm jetzt wirklich gelegen. Und dazu vielleicht sogar ein Glas Rotwein? Oder zwei?
* * * *
Vor zehn Jahren hatte Allan sich als Sprengstofftechniker in einer Rüstungsfabrik in Hälleforsnäs beworben. Damals hatte er beschlossen, gewisse Einzelheiten aus seinem Lebenslauf zu unterschlagen, zum Beispiel die Tatsache, dass er vier Jahre im Irrenhaus gesessen und anschließend sein eigenes Haus in die Luft gesprengt hatte. Vielleicht war sein Einstellungsgespräch gerade deswegen so erfolgreich verlaufen.
Daran dachte Allan, während er mit General Franco plauderte. Einerseits sollte man ja nicht lügen. Andererseits dürfte es ihm in seiner Situation kaum zugutekommen, wenn er dem General verriet, dass er selbst den Sprengsatz unter der Brücke gelegt hatte und seit drei Jahren einen zivilen Posten in der republikanischen Armee innehatte. Er fürchtete sich zwar nicht, aber nun standen eben doch ein Abendessen und ein nettes kleines Trinkgelage auf dem Spiel. Für eine Mahlzeit und etwas Schnaps konnte man die Wahrheit schon mal kurzfristig unter den Tisch fallen lassen, entschied Allan, und log dem General die Hucke voll.
Er behauptete, er habe sich auf der Flucht vor den Republikanern im Gebüsch versteckt und beobachtet, wie die Sprengladung gelegt wurde. Gott sei Dank, denn sonst hätte er den General ja nicht warnen können.
In Spanien und mitten in diesem Krieg sei er nur gelandet, weil ihn ein Freund mitgenommen habe, ein Mann mit engen Verbindungen zum jüngst verstorbenen Primo de Rivera. Doch seit sein Freund durch eine feindliche Granate ums Leben gekommen war, habe Allan sich alleine durchkämpfen müssen.
Dann wechselte er rasch das Thema und erzählte stattdessen, dass sein Vater ein enger Vertrauter des russischen Zaren Nikolaj gewesen war, der im hoffnungslosen Kampf gegen den Bolschewikenführer Lenin den Märtyrertod gestorben war.
Das Essen wurde im Zelt des Generalstabs serviert. Je mehr Rotwein Allan trank, umso anschaulicher wurden die Schilderungen des väterlichen Heldentods. General Franco hätte kaum ergriffener sein können. Erst wurde ihm das Leben gerettet, und dann stellte sich heraus, dass sein Retter fast schon verwandt war mit Zar Nikolaj II.
Die Speisen schmeckten vorzüglich – alles andere hätte der andalusische Koch nicht gewagt. Und der Wein floss in Strömen, während man einen Trinkspruch nach dem anderen ausbrachte: auf Allan, auf Allans Vater, auf Zar Nikolaj und auf die Familie des Zaren. Schließlich wurde der General vom Schlaf übermannt, während er gerade dazu ansetzte, Allan zu umarmen, um das soeben beschlossene brüderliche Du zu besiegeln.
Als die Herren wieder aufwachten, war der Krieg vorbei. General Franco übernahm die Regierung des neuen Spanien und bot Allan an, als erste Leibwache in seinen Dienst zu treten. Der bedankte sich für das Angebot, antwortete jedoch, wenn Francisco ihn entschuldigen wolle, würde er langsam doch gern in die Heimat zurückkehren. Francisco entschuldigte ihn, und er gab ihm auch noch ein Schreiben mit, in dem er Allan den bedingungslosen Schutz des generalísimo zusicherte (»zeig das vor, wenn du Hilfe brauchst«). Dann stellte er Allan noch eine fürstliche Eskorte bis nach Lissabon an die Seite, von wo seines Wissens Schiffe Richtung Norden fuhren.
Wie sich herausstellte, fuhren von Lissabon Schiffe in alle möglichen Richtungen. Allan stand am Kai und überlegte eine Weile. Dann suchte er sich ein Schiff mit spanischer Flagge, wedelte dem Kapitän mit dem Brief des Generals vor der Nase herum, und schon bekam er einen Freiplatz. Dass er für seinen Unterhalt auf dem Schiff arbeitete, kam natürlich überhaupt nicht in Frage.
Der Kahn fuhr zwar nicht nach Schweden, aber während Allan so am Kai stand, hatte er sich ohnehin gefragt, was er dort eigentlich sollte – und ihm hatte einfach keine gute Antwort einfallen wollen.