14. KAPITEL Montag, 9. Mai 2005

Nachdem Kommissar Aronsson den Staatsanwalt Conny Ranelid in Eskilstuna über die neuesten Entwicklungen aufgeklärt hatte, beschloss dieser, Allan Karlsson, Julius Jonsson, Benny Ljungberg und Gunilla Björklund in Abwesenheit zu verhaften.

Aronsson und Ranelid hatten in ständigem Kontakt gestanden, seitdem der Hundertjährige aus dem Fenster geklettert und verschwunden war, und seitdem war das Interesse des Staatsanwalts immer weiter gestiegen. Gerade dachte er über die spektakuläre Möglichkeit nach, Allan Karlsson wegen Mordes – oder zumindest Totschlags – zu verurteilen, auch wenn man einfach keine Leichen fand. Es gab eine Handvoll Beispiele in der schwedischen Rechtsgeschichte, bei denen das funktioniert hatte. Aber dafür war eine außergewöhnlich gute Beweislage erforderlich sowie ein besonders geschickter Staatsanwalt. Bei Letzterem sah Conny Ranelid keine Probleme, und für Ersteres gedachte er eine Indizienkette aufzubauen, in der das erste Glied das stärkste war und keines der anderen Glieder wirklich schwach.

Kommissar Aronsson stellte fest, dass er von der Entwicklung der Dinge enttäuscht war. Es wäre viel lustiger gewesen, einen Alten aus den Klauen einer kriminellen Gang zu retten, als daran zu scheitern, die Kriminellen vor dem Alten zu retten.

»Können wir Allan Karlsson und die anderen wirklich mit Bylunds, Hulténs und Gerdins Tod in Verbindung bringen, solange wir keine Leichen haben?«, fragte Aronsson und hoffte, die Antwort würde Nein lauten.

»Nur nicht die Flinte ins Korn werfen, Göran«, erwiderte Staatsanwalt Ranelid. »Sobald Sie mir den Tattergreis gebracht haben, werden Sie schon sehen, dann erzählt der sowieso alles. Und wenn er zu senil ist, haben wir immer noch die anderen, die sich wahrscheinlich widersprechen werden, dass es nur so kracht.«

Und dann ging der Staatsanwalt den Fall noch einmal mit seinem Kommissar durch. Zuerst erklärte er ihm seine Strategie. Er glaubte nicht, dass er sie alle für Mord hinter Gitter bringen konnte, aber nach Mord kamen in diesem Falle Totschlag, Beihilfe zu dem einen oder anderen, Mord beziehungsweise Totschlag durch Unterlassen sowie Strafvereitelung. Sogar Störung der Totenruhe mochte in Frage kommen, doch darüber musste der Staatsanwalt noch einmal nachdenken.

Je später einer der Verhafteten ins Bild gekommen war, desto schwerer würde es werden, ihn oder sie für ein schwereres Verbrechen dranzubekommen (es sei denn, er gestand). Daher wollte sich der Staatsanwalt auf die Person konzentrieren, die die ganze Zeit dabei gewesen war, nämlich auf den hundertjährigen Allan Karlsson.

»In seinem Fall werden wir dafür sorgen, dass er lebenslänglich bekommt, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes«, gackerte Ranelid.

Der Alte hatte zum Ersten ein Motiv, zunächst Bylund und dann Hultén und Gerdin zu töten. Das Motiv bestand darin, dass die Sache sonst umgekehrt ausgegangen wäre – das heißt, dass Bylund, Hultén und Gerdin den Alten getötet hätten. Für die Tatsache, dass die drei Mitglieder der Organisation Never Again zu Gewalttätigkeit neigten, hatte Staatsanwalt Ranelid aktuelle und, falls es erforderlich werden sollte, auch ältere Zeugenaussagen.

Doch der Alte konnte sich nicht auf Notwehr berufen, denn zwischen Karlsson auf der einen Seite und den drei Opfern auf der anderen stand ein Koffer mit einem Inhalt, der dem Staatsanwalt vorläufig noch unbekannt war. Wie es aussah, war es von Anfang an um diesen Koffer gegangen, also hatte der Alte eine Alternative zur Ermordung der genannten Personen gehabt – er hätte den Koffer gar nicht erst stehlen dürfen oder ihn zumindest zurückgeben müssen, wenn er ihn denn doch gestohlen hatte.

Des Weiteren konnte der Staatsanwalt mehrere geografische Verbindungen zwischen Herrn Karlsson – dem Tattergreis – und den Opfern herstellen. Das erste Opfer war genau wie Herr Karlsson an der Haltestelle Byringe Bahnhof ausgestiegen, vielleicht sogar gleichzeitig. Genau wie Herr Karlsson war Opfer Nummer eins auf der Draisine gefahren, und zwar nachweislich gleichzeitig. Und im Unterschied zu Herrn Karlsson und seinem Komplizen war Opfer Nummer eins nach der Draisinenfahrt nicht mehr aufgetaucht. Hingegen hatte »jemand« Spuren hinterlassen, als er die Leiche über den Boden schleifte. Wer dieser Jemand war, lag auf der Hand: Sowohl der Alte als auch der Gelegenheitsdieb Jonsson waren am selben Tag nachweislich noch am Leben gewesen.

Die geografische Verbindung zwischen Karlsson und Opfer Nummer zwei war nicht so tragfähig. So waren sie zum Beispiel nie zusammen gesehen worden. Doch ein silberner Mercedes einerseits und ein zurückgelassener Revolver andererseits verrieten dem Staatsanwalt Ranelid – und sicher auch bald dem Gericht –, dass sich Herr Karlsson und das Opfer Hultén, genannt »Humpen«, beide auf Sjötorp in Småland aufgehalten hatten. Hulténs Fingerabdrücke auf dem Revolver waren zwar noch nicht bestätigt, aber das war nach Erachten des Staatsanwalts nur noch eine Frage der Zeit.

Das Auftauchen dieser Waffe war ein Geschenk des Himmels gewesen. Abgesehen davon, dass sie Humpen Hultén mit Sjötorp in Verbindung brachte, untermauerte sie auch das Motiv, Opfer Nummer zwei zu töten.

Was Karlssons Beteiligung an den Verbrechen anging, konnte man ja auch noch auf die großartige Erfindung des DNA-Tests zurückgreifen. DNA hatte der Alte im Mercedes sowie in dem Häuschen in Småland reichlich hinterlassen. Und schon war man bei der Formel: Humpen + Karlsson = Sjötorp!

Per DNA-Test musste natürlich auch der Beweis erbracht werden, dass das Blut in dem zu Schrott gefahrenen BMW zu Nummer drei gehörte, Per-Gunnar Gerdin, auch »Chef« genannt. Eine gründliche Untersuchung des havarierten Autos stand unmittelbar bevor, und dann würde sich sicherlich herausstellen, dass Karlsson und seine Komplizen ebenfalls darin zugange gewesen waren. Wie hätten sie die Leiche sonst dort herausholen sollen?

Somit hatte der Staatsanwalt das Motiv sowie die zeitliche und räumliche Verbindung zwischen Allan Karlsson einerseits und den drei Ganoven andererseits.

Der Kommissar gestattete sich die Frage, wie der Staatsanwalt so sicher sein konnte, dass alle drei Opfer tatsächlich Opfer waren, sprich: tot? Staatsanwalt Ranelid schnaubte und meinte, im Falle von Nummer eins und Nummer drei sei ja wohl kaum noch eine Erklärung nötig. Was Nummer zwei anging, hatte Ranelid vor, sich auf das Gericht zu verlassen – denn wenn es erst einmal akzeptiert hatte, dass Nummer eins und drei von hinnen gegangen waren, wurde Nummer zwei automatisch ein Glied in der berühmten Indizienkette.

»Oder meinen Sie vielleicht, dass Nummer zwei der Person, die gerade seinen Freund getötet hatte, aus freien Stücken den Revolver überlassen hat, um sich dann freundlich zu verabschieden und wegzufahren, ohne auf seinen Chef zu warten, der wenige Stunden später dort eintraf?«, fragte Staatsanwalt Ranelid ironisch.

»Nee, das glaub ich nun auch nicht«, ruderte der Kommissar zurück.

Der Staatsanwalt räumte zwar ein, dass er mit seiner Anklage auf dünnem Eis stand, aber es gab ja wie gesagt eine Kette von Ereignissen, die seine Theorie stützte. Er hatte zwar weder Leichen noch Mordwaffe (abgesehen von dem gelben Bus). Doch er musste Karlsson nur im Fall von Opfer Nummer eins überführen. Die Beweise zu Nummer drei und – vor allem – Nummer zwei reichten an und für sich zwar nicht, stützten aber unabweisbar die Verurteilung für Nummer eins. Wie gesagt, vielleicht nicht unbedingt für Mord, aber …

»Aber ich werde den alten Knacker mindestens für Totschlag oder Beihilfe einsperren lassen. Und wenn ich es schaffe, dass der Alte verurteilt wird, dann müssen die anderen auch mit dran glauben – in verschiedenem Maße, aber dran glauben müssen sie auf jeden Fall!«

Selbstverständlich konnte der Staatsanwalt nicht mehrere Personen auf der Basis seiner These verhaften, dass sie sich bei ihren Aussagen schon ausreichend widersprechen würden und man sie dann tatsächlich allesamt in Untersuchungshaft nehmen konnte. Doch es spielte ihm definitiv in die Hände, dass sie samt und sonders solche Amateure waren. Ein Hundertjähriger, ein Gelegenheitsdieb, ein Imbissbudenbesitzer und eine Alte. Wie um alles in der Welt sollten die ihm im Vernehmungsraum irgendetwas entgegensetzen?

»Fahren Sie jetzt mal schön nach Växjö, Aronsson, und nehmen Sie sich ein vernünftiges Hotel. Ich werde heute Abend die Nachricht durchsickern lassen, dass der Hundertjährige höchstwahrscheinlich eine Killermaschine ist, und morgen haben Sie so viele Hinweise zu seinem momentanen Aufenthaltsort, dass Sie ihn noch vor Mittag einsammeln können, verlassen Sie sich drauf.«

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