11. KAPITEL 1945–1947

Wenn es denn überhaupt möglich ist, dass jemand nach Konsum einer ganzen Flasche Tequila von einer Sekunde auf die andere stocknüchtern wird, dann gelang dieses Kunststück dem Vizepräsidenten Harry S. Truman in diesem Moment.

Präsident Roosevelts plötzliches Ableben setzte dem gemütlichen Essen ein jähes Ende, denn Truman musste jetzt sofort nach Washington ins Weiße Haus. Allan blieb allein im Restaurant und musste sich eine ganze Weile mit dem Oberkellner herumstreiten, damit er die Rechnung nicht aus eigener Tasche begleichen musste. Schließlich ließ sich der Mann von Allans Argument überzeugen, dass der zukünftige Präsident der USA wohl als kreditwürdig gelten konnte und dass man nun jedenfalls auch seine Anschrift kannte.

Allan machte einen erfrischenden Spaziergang zurück zur Militärbasis, wo er weiter als Assistent von Amerikas besten Physikern, Mathematikern und Chemikern arbeitete, die sich in Allans Anwesenheit jetzt jedoch etwas befangen fühlten. Irgendwann kippte die Stimmung, und nach ein paar Wochen überlegte sich Allan, dass er sich nach einem neuen Wirkungskreis umsehen sollte. Ein Anruf aus Washington für Mr. Karlsson löste das Problem:

»Hallo, Allan. Hier ist Harry.«

»Welcher Harry?«, fragte Allan.

»Truman, Allan. Harry S. Truman, der Präsident, zum Kuckuck!«

»Ach nein, das ist ja nett! Vielen Dank noch mal für den netten Abend neulich, Herr Präsident. Ich hoffe, Sie mussten sich auf der Heimfahrt nicht selbst hinters Steuer klemmen.«

Nein, das hatte der Präsident nicht tun müssen. Trotz der ernsten Lage war er auf einem Sofa in der Air Force 2 sofort eingeschlafen und erst wieder aufgewacht, als die Maschine fünf Stunden später zur Landung ansetzte.

Doch jetzt sah die Lage so aus, dass Harry Truman einige Angelegenheiten von seinem Vorgänger geerbt hatte, und bei einer davon könnte der Präsident eventuell Allans Hilfe brauchen. Ob Allan das wohl einrichten könnte?

Das meinte Allan auf jeden Fall, und schon am nächsten Morgen checkte er zum letzten Mal aus der Militärbasis Los Alamos aus.

* * * *

Das Oval Office war ungefähr genauso oval, wie Allan es sich vorgestellt hatte. Jetzt saß er in ebendiesem seinem Trinkkumpan aus Los Alamos gegenüber und hörte sich dessen Geschichte an.

Die Sache war die, dass der Präsident von einer Frau belästigt wurde, die er aus politischen Gründen nicht ignorieren konnte. Sie hieß Song Meiling, ob Allan wohl zufällig mal von ihr gehört hatte? Nicht?

Wie auch immer, sie war die Frau des Kuomintang-Anführers Chiang Kai-shek in China. Außerdem war sie umwerfend schön, hatte in Amerika studiert, war sehr gut mit Frau Roosevelt befreundet, zog Tausende von Zuschauern an, wo immer sie auftrat, und hatte sogar schon einmal eine Rede im Kongress gehalten. Und jetzt setzte sie Präsident Truman ganz schrecklich zu, weil sie von ihm erwartete, dass er die mündlichen Versprechen einhielt, die Präsident Roosevelt ihr angeblich für ihren Kampf gegen die Kommunisten gegeben hatte.

»Wusst ich’s doch, dass es wieder auf Politik rauslaufen würde«, sagte Allan.

»Das lässt sich schwerlich vermeiden, wenn man Präsident der Vereinigten Staaten ist«, meinte Harry Truman.

Momentan lag der Kampf zwischen Kuomintang und Kommunisten auf Eis, weil sie in der Mandschurei einigermaßen dieselben Interessen verfolgten. Doch die Japaner würden sich sicher bald zurückziehen müssen, und dann würden sich die Chinesen wieder untereinander bekriegen.

»Woher weißt du, dass die Japaner sich zurückziehen?«, erkundigte sich Allan.

»Na, wenn sich das einer ausrechnen kann, dann ja wohl du«, erwiderte Truman und wechselte rasch das Thema.

Der Präsident langweilte Allan mit einer ausführlichen Schilderung der Entwicklungen in China. Die Meldungen des Nachrichtendienstes besagten, dass die Kommunisten im Bürgerkrieg mehr Unterstützung hatten, und im Office of Strategic Services zweifelte man an Chiang Kai-sheks militärischer Strategie. Ganz offensichtlich hatte Chiang Kai-shek sich darauf eingeschossen, die Städte zu kontrollieren, während er zuließ, dass sich auf dem Land der Kommunismus ungehindert ausbreitete. Den Kommunistenführer Mao Tse-tung könnten die amerikanischen Agenten sicher schnell eliminieren, doch es bestand die Gefahr, dass sich seine Ideen in den Köpfen der Bevölkerung festsetzten. Sogar Chiang Kai-sheks Frau, die allzu nervige Song Meiling, begriff, dass man hier etwas unternehmen musste. Sie verfolgte in dieser Sache sogar eine komplett andere militärische Strategie als ihr Mann.

Der Präsident erklärte ihm, wie diese alternative Strategie aussah, doch Allan hörte ihm schon gar nicht mehr zu. Stattdessen sah er sich zerstreut im Oval Office um, überlegte, ob die Fenster wohl schusssicher waren, dachte nach, wohin die Tür auf der linken Seite wohl führen mochte, und kam zu dem Schluss, dass dieser riesige Teppich im Bedarfsfall wahrscheinlich ganz schön schwer zu waschen war … Schließlich sah er sich gezwungen, den Präsidenten zu unterbrechen, bevor er ihm Kontrollfragen stellte, um zu sehen, ob Allan auch begriffen hatte, worum es ging.

»Entschuldige, Harry, aber was soll ich denn nun eigentlich für dich tun?«

»Also, wie gesagt, es geht darum, die Tätigkeit der Kommunisten auf dem Land …«

»Was soll ich dabei tun?«

»Song Meiling drängt auf verstärkte Unterstützung mit amerikanischer Rüstungstechnik, und sie möchte, dass die bereits geleisteten Waffenlieferungen vervollständigt werden.«

»Und was soll ich dabei tun?«

Als Allan seine Frage zum dritten Mal gestellt hatte, verstummte der Präsident, als müsste er innerlich Anlauf nehmen, bevor er fortfuhr:

»Ich will, dass du nach China fährst und Brücken sprengst.«

»Warum sagst du das denn nicht gleich?« Allans Miene hellte sich schlagartig auf.

»So viele Brücken wie möglich. Du sollst den Kommunisten so viele Wege abschneiden, wie du nur kannst.«

»Prima, dann lerne ich wieder ein neues Land kennen«, sagte Allan.

»Ich will, dass du Song Meilings Männer in der Kunst des Brückensprengens unterweist und dass …«

»Wann geht’s los?«

* * * *

Auch wenn Allan Sprengstoffexperte war und sich bei einem Tequilagelage im Handumdrehen mit dem amerikanischen Präsidenten angefreundet hatte, so war er doch trotz allem noch Schwede. Hätte er sich auch nur im Geringsten für Politik interessiert, hätte er den Präsidenten vielleicht gefragt, warum ausgerechnet er für diesen Auftrag ausgewählt worden war. Tatsächlich war der Präsident auf diese Frage vorbereitet, und wäre sie ihm gestellt worden, hätte er wahrheitsgemäß geantwortet, dass die USA nicht gut zwei parallele, einander potenziell zuwiderlaufende militärische Projekte in China betreiben konnten. Offiziell unterstützte man Chiang Kai-shek und seine Kuomintang-Partei. Jetzt machte man die Unterstützung stillschweigend komplett, indem man eine ganze Schiffsladung mit Ausrüstung für Brückensprengungen in großem Stil schickte, angefordert von Chiang Kai-sheks Frau, der schönen, schlangengleichen (wie der Präsident fand), halb amerikanisierten Song Meiling. Und das Schlimmste war, Truman konnte nicht ausschließen, dass das Ganze bei einer Tasse Tee zwischen Song Meiling und Eleanor Roosevelt ausgemacht worden war. Du liebe Güte, da hatte man sich ja was Schönes eingebrockt. Jetzt musste der Präsident nur noch Allan Karlsson und Song Meiling zusammenbringen, dann war die Sache für ihn aus der Welt.

Die nächste Angelegenheit, die er auf dem Schreibtisch hatte, war nur noch eine reine Formsache, denn den Beschluss hatte er innerlich schon längst gefasst. Nichtsdestoweniger musste er jetzt sozusagen noch aufs Knöpfchen drücken. Auf einer Insel östlich der Philippinen wartete die Besatzung einer B-52 nur noch auf grünes Licht vonseiten des Präsidenten. Alle Tests waren abgeschlossen. Es konnte nichts mehr schiefgehen.

Der folgende Tag war der 6. August 1945.

* * * *

Allan Karlssons Freude darüber, dass endlich etwas Neues in seinem Leben geschah, wurde sofort wieder etwas getrübt, als er Song Meiling kennenlernte. Allan war angewiesen worden, sie in einer Hotelsuite in Washington aufzusuchen. Nachdem er sich durch mehrere Reihen Leibwachen gekämpft hatte, stand er vor der betreffenden Dame, reichte ihr die Hand und sagte:

»Guten Tag, gnädige Frau, ich heiße Allan Karlsson.«

Song Meiling ergriff die dargebotene Hand nicht, sondern zeigte auf einen Sessel.

»Setzen!«, sagte sie.

Allan hatte sich im Laufe der Jahre ja allerhand nennen lassen müssen, von verrückt bis Faschist, aber ein Hund war er ganz sicher nicht. Er überlegte, ob er den unpassenden Ton der Dame beanstanden sollte, ließ es dann aber, denn ihn interessierte, was da nachkommen würde. Außerdem sah der Sessel ja ganz bequem aus.

Kaum dass Allan sich gesetzt hatte, hob Song Meiling zum Schlimmsten an, was er sich vorstellen konnte, nämlich zu einem politischen Vortrag. Sie bezeichnete Präsident Roosevelt als Urheber des gesamten Einsatzes, was Allan freilich seltsam fand, denn wie sollte man aus dem Jenseits militärische Operationen leiten? Song Meiling ließ sich darüber aus, wie wichtig es war, die Kommunisten aufzuhalten, diese Witzfigur von Mao Tse-tung daran zu hindern, ihr politisches Gift in jeder Provinz zu verspritzen, und – komisch eigentlich, fand Allan – dass Chiang Kai-shek von alledem nichts begriff.

»Wie sieht es bei Ihnen beiden eigentlich mit der Liebe aus?«, wollte Allan wissen.

Song Meiling gab zurück, das gehe einen dummen kleinen Befehlsempfänger wie ihn überhaupt nichts an. Präsident Roosevelt habe ihr Karlsson in dieser Operation direkt unterstellt, und fernerhin solle er nur noch reden, wenn er angesprochen wurde, und ansonsten den Mund halten.

Allan wurde grundsätzlich nie wütend, diese Fähigkeit schien ihm völlig abzugehen, aber jetzt konnte er nicht umhin, der Dame zu antworten:

»Nach allem, was ich zuletzt von Roosevelt gehört habe, ist er tot. Sollte sich daran irgendetwas geändert haben, hätte es sicher in der Zeitung gestanden. Ich für meinen Teil mache bei dieser Sache mit, weil Präsident Truman mich darum gebeten hat. Aber wenn die gnädige Frau weiterhin so grob daherredet, glaube ich fast, dass ich drauf pfeife. China kann ich ein andermal besuchen, und Brücken habe ich schon so viele in die Luft gesprengt, dass es für ein Leben reicht.«

Widerspruch hatte Song Meiling nicht mehr erlebt, seit ihre Mutter versucht hatte, ihre Eheschließung mit einem Buddhisten zu verhindern, und das lag jetzt schon einige Jahre zurück. Außerdem hatte die Mutter später Abbitte leisten müssen, weil dieses Heiratsarrangement der Tochter den Weg bis ganz an die Spitze geebnet hatte.

Jetzt musste Song Meiling nachdenken. Offensichtlich hatte sie die Situation falsch eingeschätzt. Bis jetzt hatten die Amerikaner jedes Mal angefangen zu zittern, wenn sie mit ihrer persönlichen Freundschaft zu Herrn und Frau Präsident Roosevelt prahlte. Aber wie sollte man mit diesem seltsamen Menschen hier umgehen, wenn nicht wie mit allen anderen? Was für einen Stümper hatte Truman ihr da geschickt?

Song Meiling gehörte zwar nicht zu den Menschen, die sich notfalls mit jedem verbrüdern würden, aber ihre Zielstrebigkeit war stärker als ihre Prinzipien. Daher wechselte sie rasch die Taktik.

»Wir haben ganz vergessen, uns richtig zu begrüßen«, sagte sie und streckte ihm nach Art des Westens die Hand hin. »Aber besser spät als nie!«

Allan war nicht nachtragend. Er ergriff ihre ausgestreckte Hand und lächelte nachsichtig, auch wenn er sich nicht der Meinung anschließen konnte, dass man manches besser spät als nie tun sollte. Sein Vater zum Beispiel hatte seine Liebe zu Zar Nikolaj ausgerechnet am Vorabend der Russischen Revolution entdeckt.

* * * *

Schon zwei Tage später flog Allan mit Song Meiling und zwanzig ihrer persönlichen Leibwächter nach Los Alamos. Dort wartete das Schiff, das sie mitsamt einer Ladung Dynamit nach Schanghai bringen sollte.

Allan wusste, dass er Song Meiling schlecht während der gesamten langen Fahrt über den Stillen Ozean aus dem Weg gehen konnte. Dazu war das Schiff nicht groß genug. Deswegen beschloss er, es gar nicht erst zu versuchen, und nahm das Angebot eines allabendlichen festen Platzes am Kapitänstisch an. Der Vorteil war das gute Essen, der Nachteil die Tatsache, dass Allan und der Kapitän in Gesellschaft von Song Meiling essen mussten, die unfähig schien, über irgendetwas anderes als Politik zu reden.

Ehrlich gesagt gab es noch einen weiteren Nachteil, denn statt Schnaps wurde ein grünlicher Bananenlikör serviert. Allan trank, was man ihm hinstellte, und dachte dabei, dass er zum ersten Mal etwas trank, was ein Mensch eigentlich gar nicht trinken konnte. Alkoholische Getränke sollten doch am besten so schnell wie möglich in Hals und in Magen wandern und nicht ewig am Gaumen kleben bleiben.

Doch Song Meiling ließ sich den Likör schmecken, und je mehr Gläser sie im Laufe des Abends konsumierte, umso subjektiver färbten sich ihre endlosen politischen Auslassungen.

So lernte Allan bei den Abendessen auf dem Stillen Ozean unfreiwillig unter anderem, dass die Witzfigur Mao Tse-tung und seine Kommunisten den Bürgerkrieg sehr wohl gewinnen konnten, und zwar vor allem deswegen, weil Chiang Kai-shek so ein unfassbar unfähiger oberster Befehlshaber war. In diesem Moment saß er auch noch mit Mao Tse-tung in der südchinesischen Stadt Chongqing und führte Friedensverhandlungen. Ob Herr Karlsson und der Herr Kapitän schon einmal so etwas Dummes gehört hätten? Mit einem Kommunisten verhandeln! Dabei konnte doch nichts herauskommen!

Song Meiling war sicher, dass die Verhandlungen zum Scheitern verurteilt waren. In den Berichten ihrer Agenten hieß es außerdem, dass ein großer Teil der kommunistischen Armee ganz in der Nähe, in den unwegsamen Bergregionen der Sichuan-Provinz, auf ihren Anführer Mao wartete. Song Meilings handverlesene Agenten vermuteten ebenso wie Song Meiling selbst, dass sich die Witzfigur mit ihrer Truppe Richtung Nordosten aufmachen würde, Richtung Shaanxi und Henan, um ihren abscheulichen Propagandafeldzug durch die Nation fortzusetzen.

Allan schwieg die ganze Zeit, damit sich die politische Ausführung des Abends nicht noch länger als unbedingt nötig hinzog, aber der hoffnungslos höfliche Kapitän stellte eine Frage nach der anderen, während er ihnen unablässig die grüne Bananenplörre nachschenkte.

Zum Beispiel wollte der Kapitän wissen, inwiefern Mao Tse-tung eine so große Bedrohung darstellte. Die Kuomintang genoss schließlich die Unterstützung der USA und war, wenn er das richtig verstanden hatte, militärisch weit überlegen.

Die Frage verlängerte die Qualen des Abends um fast eine ganze Stunde. Song Meiling erklärte, dass ihr Versager von Ehemann die Intelligenz, das Charisma und die Führungsqualitäten einer Milchkuh besaß. Chiang Kai-shek bildete sich fälschlicherweise immer noch ein, dass es nur darauf ankam, die Städte zu halten.

Mit ihrem kleinen Nebenprojekt wollte Song Meiling mit Allan und Mitgliedern ihrer eigenen Leibwache nicht gegen Mao kämpfen, wie sollte das auch gehen? Zwanzig mangelhaft bewaffnete Männer – einundzwanzig, wenn man Herrn Karlsson einrechnete – gegen eine ganze Armee von gut ausgebildeten Gegnern in den Bergen von Sichuan … nein, da gab es sicher Schöneres.

Stattdessen sah der Plan vor, zunächst die Beweglichkeit der Witzfigur einzuschränken: Mao Tse-tung sollte seine Kommunistenarmee nur noch unter großen Schwierigkeiten von einem Ort zum anderen verlegen können. Anschließend würde man ihrem Trottel von Ehemann endlich begreiflich machen, dass er die Gelegenheit nutzen musste, seine Truppen auch in die Provinzen zu führen und das chinesische Volk davon zu überzeugen, dass es die Kuomintang brauchte, um sich vor den Kommunisten zu schützen, nicht umgekehrt. Song Meiling hatte ebenso gut wie die Witzfigur begriffen, was Chiang Kai-shek noch immer nicht kapieren wollte: Es ist viel leichter, der Anführer eines Volkes zu werden, wenn man das Volk auf seiner Seite hat.

Aber ein blindes Huhn findet auch mal ein Korn, und es war ganz gut, dass Chiang Kai-shek zu den Friedensverhandlungen in Chongqing im südwestlichen Teil des Landes eingeladen hatte. Mit ein klein wenig Glück müsste sich die Witzfigur mit ihren Soldaten nach den gescheiterten Verhandlungen immer noch südlich des Jangtsekiang befinden, wenn die Leibwachen und Karlsson eintrafen. Und dann sollte Karlsson Brücken sprengen! Und die Witzfigur würde eine ganze Weile in der Nähe von Tibet in den Bergen feststecken.

»Sollte er sich hingegen auf der falschen Seite des Flusses befinden, gruppieren wir einfach nur um. In China gibt es fünfzigtausend Flüsse. Wo auch immer dieser Parasit sich hinwendet, er wird immer irgendwelche Flussläufe im Weg haben.«

Eine Witzfigur und ein Parasit, dachte Allan, im Kampf gegen einen Trottel und Versager mit der Intelligenz einer Kuh. Und zwischen ihnen eine Schlange, die sich mit grünem Bananenlikör betrank.

»Das wird bestimmt interessant, wo sich das alles noch hinentwickelt«, meinte Allan aufrichtig. »Übrigens, der Herr Kapitän hat wohl nicht zufällig irgendwo ein bisschen Schnaps, mit dem man den Likör runterspülen könnte?«

Nein, leider hatte der Kapitän keinen Schnaps. Aber wenn Herr Karlsson Abwechslung wünsche, hätte man noch eine Menge anderer Getränke zu bieten: Zitruslikör, Sahnelikör, Minzlikör …

»Da fällt mir grade ein – sind wir eigentlich bald in Schanghai?«, erkundigte sich Allan.

* * * *

Der Jangtsekiang ist nicht einfach irgendein Wasserlauf. Der Fluss erstreckt sich über Hunderte von Kilometern und ist stellenweise kilometerbreit. Außerdem ist er im Landesinneren tief genug für Schiffe von Tausenden von Bruttoregistertonnen.

Schön ist er obendrein, wie er sich so durch die chinesische Landschaft schlängelt, vorbei an Städten, Feldern und steilen Klippen.

Allan Karlsson und die zwanzig Mann von Song Meilings Leibwache bestiegen ein Flussschiff Richtung Sichuan, mit dem Ziel, dem kommunistischen Emporkömmling Mao Tse-tung das Leben schwer zu machen. Die Fahrt traten sie am 12. Oktober 1945 an, zwei Tage nachdem die Friedensverhandlungen tatsächlich gescheitert waren.

Die Reise ging nicht übermäßig schnell, denn die zwanzig Leibwächter wollten immer gern ein bisschen feiern, wenn das Boot wieder einen Hafen anlief, einen Tag oder auch mal drei. (Die Mäuse tanzten prompt auf dem Tisch, nachdem sich die Katze in die Sicherheit ihres Sommerhäuschens bei Taipeh zurückgezogen hatte.) Und es wurden viele Häfen angelaufen. Erst Nanjing, dann Wuhu, Anqing, Jiujiang, Huangshi, Wuhan, Yueyang, Yidu, Fengjie, Wanxian, Chongqing und Luzhou. Und überall Saufgelage, Hurerei und allgemeine Sittenlosigkeit.

Da ein derartiger Lebensstil tendenziell eine Menge Geld verschlingt, erfanden die zwanzig Soldaten aus Song Meilings Leibwache eine neue Steuer. Bauern, die im Hafen Waren löschen wollten, mussten fünf Yuan Abgabe zahlen oder unverrichteter Dinge wieder davonziehen. Wer protestierte, wurde erschossen.

Diese Steuereinnahmen wurden sofort in den finstersten Kaschemmen der jeweiligen Stadt verprasst, praktischerweise immer in unmittelbarer Hafennähe. Wenn Song Meiling meinte, dass es wichtig für einen Anführer war, das Volk auf seiner Seite zu haben, dann hätte sie diesen Grundsatz vielleicht auch ihren Mitarbeitern vermitteln sollen, dachte Allan. Aber das war weiß Gott ihr Problem, nicht seines.

Es dauerte zwei Monate, bis das Flussschiff mit Allan und den zwanzig Soldaten in der Sichuan-Provinz ankam. Da hatten Mao Tse-tungs Truppen sich schon längst Richtung Norden weiterbewegt. Außerdem verzogen sie sich gar nicht in die Gebirgsregionen, sondern kamen ins Tal, wo sie mit der Kuomintang-Kompanie kämpften, die die Stadt Yibin halten sollte.

Um ein Haar wäre Yibin tatsächlich den Kommunisten in die Hände gefallen. Dreitausend Kuomintang-Soldaten wurden im Kampf getötet, davon wahrscheinlich mindestens zweitausendfünfhundert, weil sie zu betrunken waren, um Krieg zu führen. Von den Kommunisten fielen hingegen nur dreihundert, wahrscheinlich nüchtern.

Die Schlacht um Yibin war zu guter Letzt also doch noch ein Erfolg für die Kuomintang geworden, denn unter den fünfzig kommunistischen Gefangenen befand sich ein Diamant. Die neunundvierzig anderen konnte man nur erschießen und hinterher in einer Grube verscharren, aber der fünfzigste! Hmmmm! Der fünfzigste Gefangene war keine Geringere als die schöne Jiang Qing, die Schauspielerin, die nicht nur Marxistin-Leninistin war, sondern auch und – vor allem – Mao Tse-tungs vierte Frau werden sollte.

* * * *

Nun begann ein großes Palaver zwischen der Kompanieführung der Kuomintang in Yibin und den Soldaten aus Song Meilings Leibwächtertruppe. Sie stritten sich darum, wer die Verantwortung für die Stargefangene Jiang Qing haben sollte. Die Kompanieführung hatte sie bis jetzt einfach nur eingesperrt und darauf gewartet, dass das Schiff mit Song Meilings Männern eintraf. Mehr hatten sie sich nicht getraut, denn es hätte ja sein können, dass Song Meiling selbst an Bord war. Und mit der wollte sich keiner anlegen.

Doch dann stellte sich heraus, dass sie in Taipeh war, und da fand die Kompanieführung die Sache ganz einfach. Jiang Qing sollte zuerst aufs Brutalste vergewaltigt werden, und falls sie dann noch lebte, konnte man sie immer noch erschießen.

Die Soldaten aus Song Meilings Leibwache hatten an und für sich nichts gegen diese Vergewaltigung, da hätten sie durchaus selbst noch mitgeholfen. Doch Jiang Qing durfte keinesfalls daran sterben. Stattdessen sollte sie Song Meiling oder zumindest Chiang Kai-shek vorgeführt werden, die über ihr Schicksal entscheiden sollten. Hier ging es immerhin um hohe Politik, erklärten die international erfahrenen Soldaten dem hoffnungslos provinziellen Kompaniechef in überlegenem Ton.

Der wagte letztlich nicht, sich zu widersetzen, und versprach verdrossen, seinen Diamanten noch am selben Nachmittag zu übergeben. Die Besprechung war beendet, und die Soldaten beschlossen, ihren Sieg in der Stadt ordentlich zu begießen. Und danach würden sie mit dem Diamanten unterwegs schon noch ihren Spaß haben!

Die Abschlussverhandlungen waren an Deck des Flussschiffes geführt worden, mit dem Allan und die Soldaten gekommen waren. Er staunte, weil er fast alles verstand, was die Leute sagten. Während die Soldaten sich in verschiedensten Städten amüsiert hatten, hatte sich Allan auf dem Achterdeck mit dem sympathischen Schiffsjungen Ah Ming zusammengesetzt, der großes pädagogisches Talent besaß, wie sich herausstellte. Nach zwei Monaten Unterricht sprach Allan fast fließend Chinesisch (vor allem Flüche und Obszönitäten).

* * * *

Schon als Kind hatte Allan gelernt, Menschen zu misstrauen, die einen Schnaps ausschlugen. Er konnte kaum älter als sechs gewesen sein, als sein Vater ihm die Hand auf die kleine Schulter legte und sagte:

»Vor den Priestern musst du dich in Acht nehmen, mein Sohn. Und vor Leuten, die keinen Schnaps trinken. Am allerschlimmsten aber sind Priester, die keinen Schnaps trinken.«

Andererseits war Allans Vater sicher nicht ganz nüchtern gewesen, als er eines Tages einem unschuldigen Zugpassagier eine verpasste und daraufhin sofort von der staatlichen Eisenbahn gefeuert wurde. Das wiederum nahm Allans Mutter zum Anlass, ihrem Sohn auch ein paar weise Worte mitzugeben:

»Vor den Säufern musst du dich in Acht nehmen, Allan. Das hätte ich lieber auch tun sollen.«

Als der kleine Junge heranwuchs, fügte er den Lehren der Eltern seine eigenen Ansichten hinzu. Ob Priester oder Politiker, das kam im Grunde aufs selbe hinaus, fand Allan, und da war es ganz egal, ob sie Kommunisten waren, Faschisten, Kapitalisten oder was auch immer es da noch geben mochte. Doch er stimmte seinem Vater darin zu, dass anständige Leute keinen Saft trinken. Und er stimmte seiner Mutter darin zu, dass man sich anständig aufführen musste, auch wenn man einen im Tee hatte.

In praktischer Hinsicht bedeutete das, dass Allan im Laufe der Flussfahrt die Lust verloren hatte, Song Meiling und ihren zwanzig Kampftrinkern zu helfen (von denen übrigens nur noch neunzehn übrig waren, nachdem einer über Bord gegangen und ertrunken war). Er wollte auch nicht dabei sein, wenn die Soldaten sich an der Gefangenen vergingen, die jetzt unter Deck eingesperrt war, ganz egal, ob sie nun Kommunistin war oder nicht und wessen Zukünftige sie sein mochte.

Daher beschloss Allan, zu verschwinden und die Gefangene mitzunehmen. Er teilte seinem Freund Ah Ming diese Entscheidung mit und drückte den bescheidenen Wunsch aus, dass der Schiffsjunge den beiden Flüchtlingen mit etwas Reiseproviant aushalf. Ah Ming versprach es ihm, aber unter einer Bedingung – nämlich, dass er selbst mitkommen durfte.

Achtzehn von den neunzehn Soldaten aus Song Meilings Leibwache waren mit dem Schiffskoch und dem Kapitän im Vergnügungsviertel von Yibin unterwegs und amüsierten sich prächtig. Der neunzehnte Soldat hatte die Niete gezogen und stierte auf die Tür zu der Treppe, die zu Jiang Qings Zelle unter Deck führte.

Allan setzte sich zu ihm und schlug ihm vor, einen Schnaps mit ihm zu trinken. Der Mann erwiderte, er sei für die vielleicht wichtigste Gefangene der Nation verantwortlich, weswegen er sich jetzt unmöglich mit Reiswein volllaufen lassen könne.

»Da geb ich dir absolut recht«, stimmte Allan zu. »Aber ein kleines Gläschen kann doch nicht schaden, oder?«

»Nein«, meinte die Wache nachdenklich. »Ein kleines Gläschen kann natürlich nicht schaden.«

Zwei Stunden später hatten Allan und der Soldat bereits ihre zweite Flasche geleert, während Ah Ming hin und her rannte und ihnen Leckereien aus dem Schiffsproviant servierte. Allan war inzwischen auch schon reichlich beschwipst, doch der Wachmann, der unter den Tisch getrunken werden sollte, war in Ermangelung eines Tisches einfach auf den Deckplanken eingeschlummert.

»Na bitte«, sagte Allan und blickte auf den bewusstlosen chinesischen Soldaten zu seinen Füßen. »Wenn du mit einem Schweden um die Wette saufen willst, solltest du zumindest Finne oder Russe sein.«

Der Bombenexperte Allan Karlsson, der Schiffsjunge Ah Ming und die unendlich dankbare Braut des Kommunistenführers verließen das Schiff im Schutze der Dunkelheit und hatten bald die Berge erreicht, in denen sich Jiang Qing schon eine geraume Weile bei den Truppen ihres Mannes aufgehalten hatte. Da die tibetanischen Nomaden in dieser Region sie kannten, hatten die Flüchtlinge keine Schwierigkeiten, satt zu werden, auch als der von Ah Ming mitgeführte Proviant aufgezehrt war. Dass die Tibeter einer hohen Repräsentantin der Volksbefreiungsarmee freundlich gesonnen waren, verstand sich von selbst. Wenn die Kommunisten den Kampf um China gewannen, würden sie Tibet nämlich umgehend seine Unabhängigkeit bestätigen, das war allgemein bekannt.

Jiang Qing schlug vor, mit Allan und Ah Ming rasch Richtung Norden weiterzuziehen und dabei einen weiten Bogen um das von der Kuomintang kontrollierte Gebiet zu machen. Nach monatelangem Fußmarsch durch die Berge würden sie schließlich Xi’an in der Shaanxi-Provinz erreichen – und dort würde Jiang Qing ihren Verlobten finden, wenn sie nicht zu lange brauchte.

Der Schiffsjunge Ah Ming war begeistert, als Jiang Qing ihm versprach, dass er künftig Mao höchstpersönlich bedienen dürfe. Tatsächlich war er heimlich Kommunist geworden, als er sah, wie sich die Soldaten der Leibwache benahmen, und so passte es ausgezeichnet, nicht nur die Seiten zu wechseln, sondern auch gleich noch die Arbeitsstelle.

Allan hingegen meinte, der kommunistische Kampf würde sicher auch ohne ihn auskommen. Er wollte lieber die Heimreise antreten, ob das für Jiang Qing in Ordnung sei?

Ja, das sei in Ordnung, aber »zu Hause« sei doch Schweden und damit schrecklich weit weg. Wie hatte Herr Karlsson sich das denn genau vorgestellt?

Allan erwiderte, dass ein Schiff oder ein Flugzeug wahrscheinlich am praktischsten wären, aber leider lagen die Weltmeere etwas ungünstig, und Flugplätze hatte er hier oben in den Bergen auch keine gesehen. Wobei er aber sowieso über keine nennenswerte Barschaft verfügte.

»Da muss ich wohl zu Fuß gehen«, schloss Allan.

* * * *

Der Dorfälteste, der die drei Flüchtlinge so großzügig aufgenommen hatte, hatte einen weit gereisten Bruder. Dieser war schon bis nach Ulan Bator im Norden und bis nach Kabul im Westen vorgedrungen. Außerdem hatte er bei einer Südostasienreise auch schon die Zehen in den Golf von Bengalen getaucht. Doch jetzt war er gerade zu Hause im Dorf. Also rief der Alte ihn zu sich und bat ihn, eine Weltkarte für Herrn Karlsson zu zeichnen, damit dieser heim nach Schweden fand. Dazu erklärte sich der Bruder bereit, und bereits am nächsten Tag hatte er seinen Auftrag erledigt.

Selbst wenn man sich den Witterungsverhältnissen entsprechend gekleidet hat, darf man es mit Fug und Recht als kühn bezeichnen, sich mit einer von Hand gezeichneten Weltkarte und einem Kompass zu einer Himalaya-Überquerung aufzumachen. Eigentlich hätte Allan auch am nördlichen Rand des Gebirges entlangwandern können, und danach nördlich am Aralsee und am Kaspischen Meer vorbei. Doch die Wirklichkeit und die handgefertigte Karte waren nicht ganz deckungsgleich. Daher verabschiedete sich Allan von Jiang Qing und Ah Ming und brach zu seinem kleinen Marsch auf, der ihn durch Tibet, über den Himalaya, durch Britisch-Indien und Afghanistan bis in den Iran führen sollte, weiter in die Türkei und dann langsam nordwärts durch Europa.

Nach zwei Monaten Fußmarsch merkte Allan, dass er einen Gebirgskamm wohl an der falschen Seite passiert hatte, was sich nur dadurch ausbügeln ließ, dass er umkehrte und noch einmal von vorne anfing. Wieder vier Monate später (diesmal auf der richtigen Seite des Gebirgskammes) fand Allan, dass die Reise einfach zu langsam ging. Auf einem Markt in einem Bergdorf feilschte er daher um den Preis eines Kamels, mit Hilfe von Zeichensprache und seinen Chinesischkenntnissen. Zu guter Letzt wurde er sich mit dem Kamelverkäufer handelseinig, aber erst, nachdem Allan ihm ausgeredet hatte, dass die Tochter des Händlers mit ins Geschäft eingehen sollte.

Tatsächlich hatte er kurz darüber nachgedacht – nicht aus Kopulationsgründen, denn derlei Triebe hatte er nicht mehr. Die waren irgendwie in Professor Lundborgs OP geblieben. Es ging ihm eher um die Gesellschaft, denn das Leben im tibetischen Hochland konnte zuweilen ganz schön einsam werden.

Doch da die Tochter nur einen monotonen tibeto-burmesischen Dialekt sprach, von dem Allan kein Wort verstand, dachte er sich, dass er zur intellektuellen Anregung ebenso gut mit dem Kamel reden konnte. Außerdem konnte er nicht ausschließen, dass die fragliche Tochter ihrerseits gewisse sexuelle Erwartungen hegte, wenn er sich auf dieses Arrangement einließ. Er ahnte da so etwas in ihrem Blick.

Also folgten weitere zwei Monate Einsamkeit auf einem schwankenden Kamelrücken, bis er drei fremden Männern begegnete, die ebenfalls zu Kamel unterwegs waren. Er grüßte sie in sämtlichen Sprachen, die er mittlerweile beherrschte: Chinesisch, Spanisch, Englisch und Schwedisch. Zu seinem Glück hatte er mit einer Sprache Glück, Englisch nämlich.

Einer der Männer fragte Allan, wer er war und wohin er wollte. Allan erwiderte, er sei Allan und auf dem Heimweg nach Schweden. Die Männer musterten ihn mit großen Augen. Ob er auf einem Kamel bis Nordeuropa reiten wollte?

»Mit einer kurzen Unterbrechung, wenn ich das Schiff über den Öresund nehme«, erläuterte Allan.

Was der Öresund war, wussten die drei nicht. Doch nachdem sie sich vergewissert hatten, dass Allan kein Anhänger des iranischen Schahs war, dieses britisch-amerikanischen Lakaien, boten sie ihm an, mit ihnen zu reiten.

Die Männer erzählten, dass sie sich vor Jahren an der Universität Teheran kennengelernt hatten, wo sie gemeinsam Englisch studierten. Im Gegensatz zu den anderen Studenten in ihrem Kurs hatten sie die Sprache aber nicht gewählt, um später der englischen Krone besser dienen zu können. Stattdessen hatten sie nach dem Studium zwei Jahre in unmittelbarer Nähe der kommunistischen Inspirationsquelle Mao Tse-tung zugebracht, und jetzt waren sie auf dem Heimweg in den Iran.

»Wir sind Marxisten«, erklärte einer von ihnen. »Wir führen unseren Kampf im Namen des internationalen Arbeiters, und in seinem Namen werden wir eine soziale Revolution im Iran und in der ganzen Welt durchsetzen. Wir werden das kapitalistische System abschaffen, wir werden eine Gesellschaft aufbauen, die auf der wirtschaftlichen und sozialen Gleichheit aller Menschen beruht. Dann können sich alle Individuen nach ihren individuellen Fähigkeiten verwirklichen, jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen

»Aha«, sagte Allan. »Sagt mal, ihr habt nicht zufällig ein bisschen Schnaps für mich übrig?«

Die Männer hatten welchen. Die Flasche kreiste eine Weile von Kamelrücken zu Kamelrücken, und schon fand Allan, dass sich seine Reise langsam doch ganz nett entwickelte.

Elf Monate später hatten die vier Männer einander schon mindestens dreimal das Leben gerettet. Sie hatten Lawinen, Raubüberfälle, Eiseskälte und wiederholte Hungerphasen gemeinsam überstanden. Zwei Kamele waren draufgegangen, ein drittes hatten sie schlachten und aufessen müssen, und das vierte mussten sie dem afghanischen Zollbeamten überlassen, damit er sie ins Land ließ, statt sie zu verhaften.

Allan war nie davon ausgegangen, dass es ein Leichtes sein würde, den Himalaya zu überqueren. Im Nachhinein fand er, dass er wirklich Glück gehabt hatte, sich diesen drei iranischen Kommunisten anschließen zu können, denn allein wäre es recht schwer geworden, den Sandstürmen und Überschwemmungen in den Tälern und Temperaturen von minus vierzig Grad in den Bergen zu trotzen. Im Übrigen war mit den minus vierzig Grad ohnehin nicht zu spaßen: Im Winter 1946/47 musste die Gruppe tatsächlich auf zweitausend Meter Höhe ein Lager aufschlagen, um den Frühling abzuwarten.

Die drei Kommunisten hatten selbstverständlich auch versucht, Allan für ihren Kampf zu gewinnen, vor allem seit sie wussten, wie geschickt er im Umgang mit Dynamit und dergleichen war. Er antwortete ihnen, dass er ihnen viel Glück wünsche, aber er für seinen Teil wolle nur noch nach Hause zu seiner Hütte in Yxhult. In der Eile vergaß er völlig, dass er die Kate vor achtzehn Jahren ja eigenhändig in die Luft gesprengt hatte.

Schließlich gaben sie ihre Bekehrungsversuche auf und begnügten sich damit, dass Allan ein guter Kamerad war, der obendrein nicht über jedes bisschen Schneefall lamentierte. Sein Ansehen in der Gruppe stieg noch weiter, als er beim Warten auf besseres Wetter in Ermangelung einer sinnvolleren Beschäftigung austüftelte, wie man Schnaps aus Ziegenmilch herstellen könnte. Die Kommunisten begriffen nicht, wie er es angestellt hatte, aber diese Milch war ganz schön hochprozentig, und sie wärmte nicht nur, sondern vertrieb zwischendurch auch die schreckliche Langeweile.

Im Frühling 1947 waren sie endlich auf der südlichen Seite des höchsten Gebirges der Welt. Je näher sie an die iranische Grenze kamen, umso eifriger unterhielten sich die drei iranischen Kommunisten über die Zukunft ihrer Heimat. Jetzt würde man ein für alle Mal die Ausländer aus dem Land jagen. Schlimm genug, dass die Briten den korrupten Schah jahrelang unterstützt hatten. Aber als der es irgendwann satthatte, nach ihrer Pfeife zu tanzen, und aufmuckte, setzten ihn die Briten kurzerhand ab und brachten seinen Sohn auf den Thron. Allan musste an Song Meilings Beziehung zu Chiang Kai-shek denken und dachte bei sich, dass die Menschen in der weiten Welt schon wirklich seltsame Familienbande unterhielten.

Der Sohn war leichter zu bestechen als sein Vater, und so kontrollierten die Briten und Amerikaner mittlerweile das iranische Öl. Dem würden die drei von Mao Tse-tung inspirierten Kommunisten ein Ende setzen. Leider orientierten sich andere iranische Kommunisten eher an Stalins sowjetischen Ideen, und dann gab es noch jede Menge anderer störender revolutionärer Elemente, die auch noch die Religion mit hineinmischten.

»Interessant«, bemerkte Allan und meinte genau das Gegenteil.

Man antwortete ihm mit einer langen marxistischen Erklärung. Dieses Thema sei mehr als interessant! Und das Trio war entschlossen, entweder zu siegen oder zu sterben!

Schon am nächsten Tag stand fest, dass Letzteres der Fall sein würde, denn sowie die vier Freunde den Fuß auf iranischen Boden setzten, wurden sie von einer zufällig vorbeikommenden Grenzpatrouille verhaftet. Die drei Kommunisten hatten dummerweise jeder ein Exemplar des Kommunistischen Manifests in der Tasche (obendrein auch noch auf Persisch), wofür man sie auf der Stelle erschoss. Allan überlebte, weil er keine Literatur im Gepäck führte. Außerdem sah er nach Ausländer aus, da waren erst mal weitere Nachforschungen angesagt.

Mit einer Gewehrmündung im Rücken nahm Allan die Mütze ab und dankte den drei erschossenen Kommunisten dafür, dass sie ihm auf dem Weg über den Himalaya Gesellschaft geleistet hatten. Irgendwie würde er sich niemals richtig daran gewöhnen, dass alle neuen Freunde, die er fand, früher oder später vor seinen Augen sterben mussten.

Doch man ließ ihm nicht viel Zeit zum Trauern. Vielmehr fesselte man ihm die Hände auf dem Rücken und warf ihn auf eine Decke auf der Ladefläche eines Lkws. Mit der Nase in der Decke bat er die Männer auf Englisch, ihn zur schwedischen Botschaft in Teheran zu bringen, oder wahlweise zur amerikanischen, für den Fall, dass Schweden keine diplomatische Vertretung in der Stadt haben sollte.

»Khafe sho!«, lautete die drohende Antwort.

Allan verstand sie nicht, aber er begriff trotzdem. Es konnte sicher nicht schaden, wenn er jetzt eine Weile den Mund hielt.

* * * *

Auf der anderen Seite des Erdballs, in Washington, D. C., hatte Harry S. Truman so seine eigenen Sorgen. Langsam, aber sicher standen in Amerika Präsidentschaftswahlen an, und es galt, sich richtig zu positionieren. Die wichtigste strategische Frage war die, wie weit er den Negern in den Südstaaten entgegenkommen wollte. Es galt, einen Mittelweg zu finden: sich einerseits fortschrittlich geben, andererseits aber auch nicht zu nachgiebig wirken. Auf diese Weise gewann man die öffentliche Meinung für sich.

Auf der Weltbühne musste er sich mit Stalin auseinandersetzen. Hier war er allerdings zu keinerlei Kompromissen bereit. Stalin mochte den einen oder anderen eingewickelt haben, aber nicht Harry S. Truman.

China war inzwischen schon längst Geschichte. Stalin ließ diesem Mao jede erdenkliche Hilfe zukommen, und Truman konnte den Amateur Chiang Kai-shek einfach nicht in gleichem Maße weiter unterstützen. Song Meiling hatte bekommen, worum sie gebeten hatte, aber jetzt war es auch mal genug. Was wohl aus Allan Karlsson geworden war? Wirklich ein netter Kerl.

* * * *

Chiang Kai-sheks militärische Niederlagen häuften sich. Und Song Meilings eigene Unternehmungen scheiterten, als der verantwortliche Sprengstofftechniker verschwand und obendrein noch die Braut der Witzfigur mitnahm.

Song Meiling verlangte wiederholt eine Audienz bei Präsident Truman, um ihn eigenhändig dafür zu erwürgen, dass er ihr diesen Allan Karlsson geschickt hatte. Doch Truman hatte nie Zeit, sie zu empfangen. Vielmehr zeigten die USA der Kuomintang jetzt die kalte Schulter und ließen sie mit Korruption, galoppierender Inflation und Hungersnöten allein. All das spielte natürlich Mao Tse-tung in die Hände. Schließlich mussten Chiang Kai-shek, Song Meiling und ihr Hofstaat nach Taiwan fliehen. Festlandchina wurde kommunistisch.

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