18. KAPITEL 1953
Nach fünf Jahren und drei Wochen hatte Allan natürlich ganz gut Russisch gelernt, aber auch sein Chinesisch aufgefrischt. Im Hafen war ja immer viel Betrieb, und Allan unterhielt Kontakte zu mehreren Matrosen, die regelmäßig nach Wladiwostok kamen und ihn über die neuesten Geschehnisse auf der Weltbühne auf dem Laufenden hielten.
Geschehen war unter anderem, dass die Sowjetunion anderthalb Jahre nach Allans Treffen mit Stalin, Berija und dem sympathischen Julij Borissowitsch ihre eigene Atombombe gezündet hatte. Im Westen vermutete man Spionage, denn die Bombe schien nach genau demselben Prinzip gebaut worden zu sein wie die amerikanische Trinity-Bombe. Allan jedoch versuchte sich zu erinnern, wie viele Hinweise Julij eigentlich schon bekommen hatte, als sie im U-Boot beieinandergesessen und den Wodka direkt aus der Flasche getrunken hatten.
»Ich glaube, du beherrschst die Kunst, zu saufen und gleichzeitig zuzuhören, mein lieber Julij Borissowitsch«, meinte er.
Ansonsten hatte Allan aufgeschnappt, dass die USA, Frankreich und Großbritannien ihre Besatzungszonen zusammengelegt und eine deutsche Bundesrepublik geschaffen hatten. Darauf reagierte der erboste Stalin mit der Gründung eines eigenen Deutschland. So hatten Ost und West jeweils ein eigenes Deutschland, was Allan ganz praktisch vorkam.
Außerdem war der schwedische König gestorben, das konnte Allan einer britischen Tageszeitung entnehmen, die aus ungeklärten Gründen in die Hände eines chinesischen Seemanns geraten war. Dieser dachte gleich an den schwedischen Gefangenen in Wladiwostok, mit dem er immer so gerne plauderte, und nahm ihm die Zeitung mit. Der König war zwar schon seit einem Jahr tot, als Allan davon erfuhr, aber das machte ja nichts. Es war ja auch sofort wieder ein neuer König eingesetzt worden, das Land war also versorgt.
Ansonsten redeten die Seeleute im Hafen vor allem über den Krieg in Korea. Kein Wunder, Korea war ja gerade mal zweihundert Kilometer entfernt.
Wenn Allan das richtig verstanden hatte, war ungefähr Folgendes passiert:
Die koreanische Halbinsel blieb mehr oder weniger übrig, als der Weltkrieg zu Ende war. Stalin und Truman besetzten brüderlich jeweils einen Teil und bestimmten den achtunddreißigsten Breitengrad zur Grenze zwischen Nord und Süd. Danach wurde ewig verhandelt, inwiefern Korea sich selbst regieren dürfe, doch da die politischen Anschauungen von Stalin und Truman nicht ganz übereinstimmten (eigentlich überhaupt nicht), endete es ungefähr so wie mit Deutschland. Zuerst schufen die USA ein Südkorea, woraufhin die Sowjetunion ihren Teil Nordkorea taufte. Und dann überließen die USA und die Sowjetunion die Koreaner sich selbst.
Das lief allerdings nicht ganz glatt. Sowohl Kim Il-sung im Norden als auch Rhee Syng-man im Süden fanden, dass sie die besseren Voraussetzungen dafür mitbrachten, die gesamte Halbinsel zu regieren. Und über diese Frage entbrannte gleich wieder ein Krieg.
Doch drei Jahre und ungefähr vier Millionen Tote später war immer noch nichts passiert (außer, dass eben Menschen gestorben waren). Der Norden war immer noch der Norden, der Süden war der Süden. Getrennt durch den achtunddreißigsten Breitengrad.
Was den Schnaps anging, also den Hauptgrund, aus dem Gulag zu fliehen, lag es natürlich nahe, sich auf eines der vielen Schiffe zu stehlen, die im Hafen von Wladiwostok anlegten und ausliefen. Doch im Laufe der Jahre hatten sich mindestens sieben von Allans Freunden aus der Baracke etwas Ähnliches vorgenommen, und alle sieben waren entdeckt und hingerichtet worden. Dann trauerten die Kameraden in den Baracken – am meisten Herbert Einstein, wie es schien. Nur Allan begriff, was Herbert bedauerte, nämlich dass es wieder nicht ihn getroffen hatte.
Wenn man ein Schiff entern wollte, war das erste Problem schon mal, dass jeder Sträfling seine typische schwarzweiße Lagerkleidung trug. Damit war es unmöglich, in der Menge unterzutauchen. Obendrein konnte man so eine Gangway ja leicht bewachen, und jede Kiste, die mit dem Kran auf ein Schiff gehievt wurde, wurde zuvor von gut ausgebildeten Wachhunden beschnüffelt.
Dazu kam, dass es gar nicht so einfach war, ein Schiff zu finden, auf dem man Allan ohne Weiteres aufgenommen hätte. Viele Transporte gingen nach Festlandchina, andere nach Wonsan an der nordkoreanischen Ostküste. Sollte ein chinesischer oder nordkoreanischer Kapitän einen Gulagsträfling in seinem Frachtraum entdecken, gab es durchaus Grund zu der Annahme, dass er entweder beidrehen oder ihn einfach über Bord werfen würde (weniger Bürokratie, gleiches Ergebnis).
Nein, der Seeweg war schwierig, wenn man fliehen wollte – und das wollte man ja. Der Landweg schien an und für sich nicht viel einfacher. Nordwärts ins sibirische Binnenland und in die unmenschliche Kälte zu marschieren, war natürlich auch keine gute Idee. Und nach China im Westen ebenso wenig.
Blieb nur noch der Süden, da lag Südkorea, wo man sich sicher eines Lagerflüchtlings annehmen würde, der obendrein ein mutmaßlicher Feind des Kommunismus war. Zu schade, dass man davor erst noch Nordkorea durchqueren musste.
Noch bevor Allan sich einen einigermaßen brauchbaren Plan für eine Flucht Richtung Süden zurechtbasteln konnte, war ihm klar, dass er unterwegs auf mehr als ein Hindernis treffen würde. Aber es lohnte sich nicht, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, denn dann würde es nie mehr was werden mit dem Schnaps.
Sollte er es allein versuchen oder zusammen mit jemandem?
Das müsste dann Herbert sein, der Unselige. Allan glaubte, dass Herbert ihm bei den Vorbereitungen durchaus von Nutzen sein könnte. Außerdem war es sicher lustiger, zu zweit zu fliehen statt ganz allein.
»Fliehen?«, sagte Herbert Einstein. »Auf dem Landweg? Nach Südkorea? Via Nordkorea?«
»So ungefähr«, sagte Allan. »Das ist jedenfalls meine Arbeitshypothese.«
»Die Chance, dass wir durchkommen, geht doch wahrscheinlich gegen null«, sagte Herbert.
»Genau«, sagte Allan.
»Ich bin dabei!«, sagte Herbert.
Nach fünf Jahren wusste jeder im Lager, dass im Schädel von Nummer 133 gedanklich nicht viel los war, und die wenigen Gedanken, die ab und an darin herumkullerten, kollidierten hoffnungslos miteinander.
Aufgrund dessen hatten die Wachleute eine eher nachsichtige Einstellung zu Herbert Einstein. Wenn irgendein Gefangener in der Schlange bei der Essensausgabe zur festgelegten Zeit nicht so dastand, wie er dastehen sollte, wurde er im günstigsten Falle angeschnauzt, im nächstgünstigsten Fall bekam er einen Gewehrkolben in den Magen, während es im allerschlimmsten Fall Danke und auf Wiedersehen hieß.
Doch Herbert fand sich nach fünf Jahren immer noch nicht zwischen den Baracken zurecht. Die waren doch alle gleich braun und gleich groß – für ihn war das schrecklich verwirrend. Essen wurde immer zwischen Baracke dreizehn und vierzehn ausgegeben, aber Nummer 133 fand man dann gerne mal, wie er bei Baracke sieben umherirrte. Oder neunzehn. Oder fünfundzwanzig.
»Verdammt noch mal, Einstein«, sagten die Wachen dann. »Die Essensschlange ist da hinten. Nein, nicht da! DA! Wo sie schon immer war, verflucht und zugenäht!«
Allan dachte, dass Herbert und er von diesem Ruf durchaus profitieren könnten. Man konnte zwar in Gefangenenkleidung fliehen, aber in derselben Gefangenenkleidung länger als ein paar Minuten am Leben zu bleiben, das würde schon schwieriger werden. Allan und Herbert brauchten jeder eine Soldatenuniform. Und der einzige Gefangene, der sich den Kleiderkammern der Soldaten nähern konnte, ohne sofort erschossen zu werden, wenn man ihn entdeckte – das war Sträftling Nummer 133, Einstein.
Daher gab Allan seinem Freund genaue Anweisungen, was er tun sollte. Sobald es Essen gab, musste er sich »verlaufen«. Zu dem Zeitpunkt hatte ja auch das Personal in der Kleiderkammer Mittagspause. Während dieser halben Stunde wurde die Kleiderkammer nur vom Soldaten an der MG in Wachtturm vier bewacht. Doch der wusste wie alle anderen auch von den Eigenheiten des Gefangenen 133, und wenn er Herbert entdeckte, würde er ihm eher etwas zubrüllen, als ihm eine Ladung Blei zu verpassen. Nun, und falls Allan sich darin täuschte, war das ja auch kein Weltuntergang für Herbert mit seinem nicht nachlassenden Todeswunsch.
Herbert fand, dass Allan sich das ganz toll ausgedacht hatte. Aber – was genau musste er jetzt noch mal machen?
Natürlich ging alles schief. Herbert verlief sich nämlich wirklich und landete daher zum ersten Mal seit Langem ganz richtig in der Essensschlange. Dort stand schon Allan, der aufseufzte und Herbert Richtung Kleiderkammer schubste. Doch das half auch nichts, denn Herbert verirrte sich erneut, und bevor er wusste, wie ihm geschah, stand er in der Waschküche. Und was fand er dort? Einen ganzen Stapel frisch gewaschene, frisch gebügelte Soldatenuniformen!
Er griff sich zwei, versteckte sie unter seiner Jacke und trat wieder hinaus. Wie nicht anders zu erwarten, wurde er sofort vom Soldaten in Wachtturm vier entdeckt, der sich aber gar nicht erst die Mühe machte, den Gefangenen anzubrüllen. Außerdem kam es ihm so vor, als wäre der Trottel tatsächlich mal auf dem richtigen Weg zu seiner Baracke.
»Sensationell«, murmelte er, um sich dann wieder seinen Tagträumen hinzugeben.
Jetzt hatten Allan und Herbert also jeder eine Uniform, die jedem sagte, dass es sich hier um stolze Rekruten der Roten Armee handelte. Nur der Rest musste noch organisiert werden.
In letzter Zeit war Allan aufgefallen, dass wesentlich mehr Schiffe als früher ins nordkoreanische Wonsan fuhren. Die Sowjetunion beteiligte sich an diesem Krieg offiziell zwar nicht auf der Seite Nordkoreas, aber es trafen immer mehr Waffenlieferungen mit dem Zug in Wladiwostok ein, um hier auf Schiffe verladen zu werden, die alle dasselbe Ziel hatten. Es stand zwar nicht drauf, wohin sie fuhren, aber manche Seeleute schwatzten gerne mal, und Allan wusste zu fragen. In manchen Fällen sah man sogar, woraus die Fracht bestand, zum Beispiel aus Geländefahrzeugen oder sogar Panzern, in anderen Fällen aber auch einfach nur aus neutralen Holzcontainern.
Allan hatte sich ein Ablenkungsmanöver überlegt, das dem in Teheran vor sechs Jahren nicht ganz unähnlich war. In Übereinstimmung mit der alten römischen Weisheit, dass der Schuster bei seinen Leisten bleiben sollte, dachte sich Allan, dass ein bisschen Feuerwerk wohl seinen Zweck erfüllen dürfte. Und da kamen die Container mit Bestimmungsort Wonsan ins Spiel. Er wusste es zwar nicht mit Sicherheit, aber er ahnte, dass einige von ihnen explosives Material enthielten, und wenn so ein Container im Hafen Feuer fing und es daraufhin hie und da zu unkontrollierten Explosionen kam, dann … ja, dann hätten Herbert und er vielleicht genug Spielraum, sich um die Ecke zu schleichen, die sowjetischen Uniformen anzuziehen … und … na ja, dann mussten sie sich ein Auto besorgen … und bei dem musste natürlich der Schlüssel im Zündschloss stecken und der Tank voll sein, und der Besitzer durfte auch gerade keinen Anspruch darauf erheben. Auf Allans und Herberts Kommando würden sich die bewachten Tore öffnen, und vor dem Hafen und dem Lagerareal würde natürlich niemand Unrat wittern. Niemand würde das gestohlene Auto vermissen, und niemand würde sie verfolgen. Und all das mussten sie überstehen, bevor sie auch nur in die Nähe ihrer richtigen Probleme kamen, zum Beispiel der Frage, wie sie es nach Nordkorea schaffen und vor allem sich dann in den Süden durchschlagen sollten.
»Also, ich bin ja eher langsam von Begriff«, meinte Herbert, »aber mir kommt es so vor, als wäre dein Plan noch nicht ganz ausgereift.«
»Du bist überhaupt nicht langsam von Begriff«, protestierte Allan. »Na ja, gut, ein bisschen vielleicht, aber mit deinem Einwand hast du vollkommen recht. Und je mehr ich drüber nachdenke, desto mehr glaube ich, wir sollten alles so lassen, wie es ist. Du wirst sehen, es kommt, wie es kommt. So kommt es nämlich immer. Fast immer.«
Der erste und einzige Teil des Fluchtplans bestand also darin, heimlich Feuer an einen passenden Container zu legen. Dafür brauchte man 1. einen passenden Container und 2. etwas, womit man Feuer legen konnte. Während sie darauf warteten, dass ein Schiff anlegte, das mit Ersterem beladen werden sollte, schickte Allan den bekanntermaßen doofen Herbert Einstein erneut mit einem Auftrag los. Und verdienstvollerweise konnte Herbert eine Leuchtrakete in seinen Besitz bringen, die er in seiner Hose versteckte, bevor eine sowjetische Wache ihn an einem Ort entdeckte, an dem sich Herbert definitiv nicht aufhalten durfte. Doch statt ihn hinzurichten oder zumindest zu leibesvisitieren, ließ die Wache die soundsovielte Strafpredigt vom Stapel, dass 133 nach fünf Jahren wohl mal aufhören könnte, sich ständig zu verlaufen. Herbert entschuldigte sich und trippelte unsicheren Schrittes davon. In die falsche Richtung, versteht sich, um das Schauspiel perfekt zu machen.
»Zu deiner Baracke geht’s nach links, Einstein«, rief ihm der Mann hinterher. »Wie dumm kann ein Mensch eigentlich sein?«
Allan belobigte Herbert für die gute Arbeit und seine Schauspielerei. Herbert errötete ob des Lobes, wehrte aber bescheiden ab mit der Begründung, es sei ja keine besondere Leistung, den Dummen zu spielen, wenn man tatsächlich dumm ist. Allan meinte, er wisse nicht, wie schwer das sei, denn die Dummköpfe, die er bis jetzt kennengelernt hatte, hätten grundsätzlich versucht, ihrer Umwelt das Gegenteil vorzuspielen.
Schließlich schien der rechte Tag gekommen zu sein. Am 1. März 1953, einem kalten Morgen, kam ein Zug an, der mehr Waggons führte, als Allan – oder zumindest Herbert – zählen konnte. Es handelte sich ganz offensichtlich um einen militärischen Transport, und die gesamte Fracht sollte auf nicht weniger als drei Schiffe mit Bestimmungsland Nordkorea geladen werden. Acht T34-Panzer gehörten dazu, die ließen sich schwerlich verbergen, ansonsten war alles in massive Holzcontainer undeklarierten Inhalts verpackt. Doch zwischen den Holzbrettern war genug Abstand, um eine Leuchtrakete hindurchzuschieben. Und genau das tat Allan dann auch, als sich nach einem halben Arbeitstag endlich die Gelegenheit bot.
Natürlich begann Rauch aus dem Container aufzusteigen, doch glücklicherweise dauerte es ein paar Sekunden, bevor er zu brennen anfing, sodass Allan sich weit genug entfernen konnte, um nicht unmittelbar verdächtig zu wirken. Wenig später stand die Kiste bereits in Flammen, da halfen auch die fünfzehn Grad minus nichts.
Laut Plan sollte es losknallen, sobald das Feuer eine verpackte Handgranate oder Ähnliches erreichte. Dann würden die Wachen wie aufgescheuchte Hühner herumrennen, und Allan und Herbert konnten zu ihrer Baracke laufen, um sich umzuziehen.
Das Dumme war nur, dass es einfach nicht losknallen wollte. Die Rauchentwicklung hingegen war heftig, und dann kam es noch schlimmer, da die Wächter, die selbst nicht in die Nähe der Kiste gehen wollten, den Gefangenen befahlen, den brennenden Container mit Wasser zu löschen.
Daraufhin kletterten drei Gefangene im Schutz der Rauchwolken über den zwei Meter hohen Zaun, um die offene Seite des Hafens zu erreichen. Doch der Soldat in Wachtturm zwei entdeckte sie sofort. Er saß hinter seiner MG bereit und ließ eine Garbe nach der anderen auf die drei Sträflinge los. Da er Leuchtspurgeschosse einsetzte, hatte er binnen Kurzem alle drei getroffen, und die Männer stürzten tot zu Boden. Und falls sie da noch nicht tot waren, waren sie es mit Sicherheit eine Sekunde später, denn nicht nur sie waren von den MG-Salven perforiert worden, sondern auch der Container, der links von dem brennenden stand. Allans Container enthielt fünfzehnhundert Armeedecken. Der Container daneben fünfzehnhundert Handgranaten. Leuchtspurgeschosse enthalten Phosphor, und sobald die erste Kugel die erste Granate getroffen hatte, detonierte diese – und eine Sekunde später auch ihre vierzehnhundertneunundneunzig Schwestergranaten. Die Explosion war so heftig, dass die vier nächsten Container in die Luft geschleudert wurden und dreißig bis achtzig Meter ins Lager hinein flogen.
Container Nummer fünf enthielt siebenhundert Landminen, und ehe man sich’s versah, folgte eine Explosion, die ebenso heftig war wie die vorige, mit der Folge, dass der Inhalt weiterer vier Container in alle Himmelsrichtungen verteilt wurde.
Allan und Herbert hatten Chaos stiften wollen, und nun hatten sie weiß Gott Chaos gestiftet. Doch das war erst der Anfang. Denn jetzt griffen die Flammen von einem Container auf den nächsten über. Einer enthielt Diesel und Benzin, und das sind ja nicht gerade die Substanzen, mit denen man Brände löschen würde. Der nächste enthielt Munition, die prompt ein Eigenleben entfaltete. Zwei Wachttürme und acht Baracken brannten bereits lichterloh, bevor die Panzerfäuste auf den Plan traten. Die erste schoss Wachtturm Nummer drei ab, die zweite landete mitten im Verwaltungsgebäude am Lagereingang, und wo sie schon mal in Fahrt war, nahm sie gleich noch den Schlagbaum mit.
Am Kai lagen vier Schiffe, die beladen werden sollten, und die nächsten Panzerfäuste steckten alle vier in Brand.
Dann explodierte noch ein Container mit Handgranaten und löste die nächste Kettenreaktion aus, die schließlich auch noch den letzten Container in der Reihe erfasste. Zufällig enthielt auch dieser Panzerfäuste, die nun in die andere Richtung losgingen, zum offenen Hafenbereich, wo gerade ein Tanker mit fünfundsechzigtausend Tonnen Öl anlegen wollte. Ein Volltreffer auf der Kommandobrücke machte den Tanker führerlos, und weitere drei Treffer in die Längsseite entfesselten ein Feuer, das gewaltiger war als alle anderen zusammengenommen.
Der lichterloh brennende Öltanker trieb an der Kaimauer entlang auf die Stadt zu. Auf dieser seiner letzten Reise steckte er auf einer Strecke von 2,2 Kilometern sämtliche Häuser in Brand. Obendrein kam der Wind an diesem Tag von Südost. Es dauerte also keine zwanzig Minuten, bis buchstäblich ganz Wladiwostok in Flammen stand.
* * * *
In der Residenz in Krylatskoje wollte Genosse Stalin gerade ein gemütliches Abendessen mit seinen Untergebenen Berija, Melankow, Bulganin und Chruschtschow beenden, als ihn die Nachricht erreichte, dass Wladiwostok im Großen und Ganzen nicht mehr existierte, da der Brand eines Containers mit Armeedecken außer Kontrolle geraten war.
Bei dieser Nachricht wurde Stalin ganz blümerant zumute.
Sein neuer Günstling, der tatkräftige Nikita Sergejewitsch Chruschtschow, fragte, ob er einen guten Rat geben dürfe, und Stalin meinte lahm, das dürfe Nikita Sergejewitsch ganz bestimmt.
»Lieber Genosse Stalin«, hob Chruschtschow an. »Ich würde vorschlagen, dass das, was dort passiert ist, einfach nicht passiert ist. Ich würde vorschlagen, dass Wladiwostok sofort von der Umwelt abgeschlossen wird, dass wir die Stadt geduldig wiederaufbauen und sie zur Basis für unsere Pazifikflotte machen, genau wie Genosse Stalin es geplant hat. Doch das Wichtigste ist: Was dort passiert ist, ist nicht passiert. Alles andere würde eine Schwäche verraten, die zu verraten wir uns nicht leisten können. Versteht der Genosse Stalin, was ich meine? Ist Genosse Stalin in dieser Sache derselben Meinung?«
Stalin war immer noch ganz blümerant zumute. Außerdem hatte er einen Schwips. Nichtsdestoweniger nickte er und meinte, auf Stalins ausdrücklichen Wunsch solle Nikita Sergejewitsch selbst die Verantwortung dafür übernehmen, dass das, was dort passiert war … nicht passiert war. Dann meinte er, es sei an der Zeit, dass Stalin sich zurückziehe, denn es gehe ihm nicht besonders gut.
Wladiwostok, dachte Marschall Berija. Hatten sie dort nicht diesen schwedischen faschistischen Sprengstoffexperten hingeschickt, damit sie auf ihn zurückgreifen konnten, wenn sie die Bombe nicht in eigener Regie hinkriegten? Den hatte ich ja schon ganz vergessen. Ich hätte den verfluchten Kerl gleich liquidieren lassen sollen, nachdem Julij Borissowitsch Popow das Rätsel verdienstvollerweise selbst geknackt hatte. Nun ja, vielleicht war er ja mitverbrannt. Freilich hätte er nicht gleich eine ganze Stadt mit in den Tod reißen müssen.
An der Tür zum Schlafzimmer teilte Stalin noch mit, dass er unter gar keinen Umständen gestört werden wolle. Dann schloss er sich ein, setzte sich auf die Bettkante und knöpfte sich das Hemd auf, während er überlegte.
Wladiwostok … Die Stadt, die Stalin zur Basis der sowjetischen Pazifikflotte auserkoren hatte! Wladiwostok … das in der bevorstehenden Offensive im Koreakrieg so eine wichtige Rolle spielen sollte! Wladiwostok …
Existierte nicht mehr!
Stalin konnte sich noch fragen, wie zur Hölle ein Container mit Armeedecken bei fünfzehn bis zwanzig Grad unter null überhaupt hatte Feuer fangen können. Irgendjemand musste dafür verantwortlich sein … und dieser Schuft … soll … soll …
Stalin fiel vornüber zu Boden. So blieb er volle vierundzwanzig Stunden mit seinem Schlaganfall liegen, denn wenn Genosse Stalin gesagt hatte, dass er nicht gestört werden wollte, dann störte man ihn nicht.
* * * *
Allans und Herberts Baracke gehörte zu den ersten, die Feuer fingen, womit die Freunde ihren Plan, darin heimlich ihre Uniformen anzuziehen, gleich vergessen konnten.
Doch der Lagerzaun war bereits eingestürzt, und da kein einziger Wachtturm mehr stand, war auch keiner mehr da, der ihn bewachte. Es war also gar kein Problem, sich aus dem Lager zu entfernen. Das Problem war vielmehr, wie es danach weitergehen sollte. Ein Armeefahrzeug konnten sie nicht stehlen, denn die standen samt und sonders in Flammen. In die Stadt zu marschieren, um sich dort ein Fluchtfahrzeug zu beschaffen, war ebenfalls sinnlos. Aus irgendeinem Grund brannte nämlich ganz Wladiwostok.
Die meisten Lagerinsassen, die das Feuer und die Explosionen überlebt hatten, blieben in kleinen Grüppchen auf der Landstraße stehen, in sicherem Abstand zu explodierenden Granaten und Panzerfäusten und diversen anderen Sachen, die immer noch munter durch die Luft zischten. Ein paar Glücksritter liefen davon, alle in nordwestliche Richtung, denn das war die einzige Richtung, die einem fliehenden Russen sinnvoll vorkam. Im Osten war Wasser, im Süden Koreakrieg, im Westen lag China, und direkt im Norden brannte gerade eine Stadt ab. Blieb nur noch der Weg direkt ins richtige, richtig kalte Sibirien. Doch die Soldaten rechneten sich das natürlich ebenso aus, und bevor der Tag um war, hatten sie die Fliehenden wieder eingefangen und allesamt in die Ewigkeit befördert.
Die einzigen Ausnahmen hießen Allan und Herbert. Ihnen gelang es, sich auf einen Hügel südwestlich von Wladiwostok zu retten. Dort rasteten sie kurz und betrachteten das Bild der Verwüstung, das sich ihren Augen bot.
»Diese Leuchtrakete hatte ja ganz schön Pfeffer«, meinte Herbert.
»Eine Atombombe hätte kaum gründlichere Arbeit leisten können«, meinte Allan.
»Was machen wir denn jetzt?«, wollte Herbert wissen. Ihm war so kalt, dass er sich fast nach dem Lager zurücksehnte, das nicht mehr stand.
»Jetzt, mein Freund, machen wir uns auf nach Nordkorea«, sagte Allan. »Da es weit und breit keine Autos gibt, müssen wir wohl zu Fuß gehen. Aber egal, das hält schön warm.«
* * * *
Kirill Afanassjewitsch Merezkow war einer der fähigsten und höchstdekorierten Kommandeure der Roten Armee. Unter anderem war er »Held der Sowjetunion« und nicht weniger als siebenmal mit dem Lenin-Orden ausgezeichnet worden.
Als Befehlshaber der vierten Armee kämpfte er bei Leningrad erfolgreich gegen die Deutschen, und nach neunhundert schrecklichen Tagen konnte die Belagerung der Stadt beendet werden. Kein Wunder, dass Merezkow zum »Marschall der Sowjetunion« ernannt wurde, zusätzlich zu all den Orden, Titeln und Medaillen, die er ansonsten bekommen hatte.
Als Hitler zurückgedrängt war, zog der Marschall Richtung Osten, neuntausendsechshundert Kilometer per Zug. Man brauchte ihn an der ersten Fernostfront, um die Japaner aus der Mandschurei zu verjagen. Man war nicht überrascht, als ihm auch das gelang.
Dann endete der Weltkrieg, und Merezkow war am Ende seiner Kräfte. Da in Moskau niemand auf ihn wartete, blieb er einfach im Osten. Dort landete er hinter einem Schreibtisch der Armee in Wladiwostok. Ein schöner Schreibtisch. Echt Teak.
Als der Winter 1953 sich dem Ende zuneigte, war Merezkow fünfundsechzig und saß immer noch hinter seinem Tisch. Von dort verwaltete er die sowjetische Nichtteilnahme am Koreakrieg. Sowohl Merezkow als auch Genosse Stalin hielten es für strategisch wichtig, dass die Sowjetunion im Moment nicht unmittelbar gegen die amerikanischen Soldaten kämpfte. Zwar verfügten jetzt beide über die Bombe, aber die Amerikaner waren ihnen ein Stück voraus. Alles hatte seine Zeit, jetzt galt es, nicht zu provozieren – was allerdings nichts daran änderte, dass der Koreakrieg gewonnen werden musste.
Doch Merezkow erlaubte sich, es zwischendurch auch mal ruhig angehen zu lassen. Unter anderem hatte er eine Jagdhütte bei Kraskino, ein paar Fahrtstunden südlich von Wladiwostok. Dort fuhr er hin, sooft er konnte, gerade im Winter. Und am allerliebsten allein. Abgesehen von seinem Adjutanten, denn Marschälle fahren ja nicht selbst Auto, wie würde das denn aussehen?
Marschall Merezkow und sein Adjutant hatten noch fast eine ganze Stunde Fahrt nach Wladiwostok vor sich, als sie von der kurvenreichen Küstenstraße aus zum ersten Mal die schwarze Rauchsäule im Norden entdeckten. Was war denn da passiert? Brannte da etwas?
Sie waren zu weit entfernt, als dass es sich gelohnt hätte, das Fernglas aus dem Kofferraum des standesgemäßen Autos herauszuholen. Stattdessen befahl Merezkow seinem Fahrer, Vollgas zu geben und innerhalb der nächsten zwanzig Minuten eine Stelle mit klarer Sicht auf die Bucht ausfindig zu machen, an der sie halten konnten. Was war dort bloß passiert? Da brannte auf jeden Fall etwas …
Allan und Herbert marschierten bereits seit einer geraumen Weile an der Landstraße entlang, als sich auf einmal ein eleganter khakigrüner Pobeda von Süden näherte. Doch der Wagen verlangsamte und blieb in einer Entfernung von knapp fünfzig Metern stehen. Ihm entstiegen ein ordenbehangener Offizier und sein Adjutant. Der Adjutant holte das Fernglas des Ordenbehangenen aus dem Gepäck, woraufhin die beiden den Wagen verließen, um sich einen günstigen Aussichtspunkt über die Bucht zu suchen, an der bis vor Kurzem noch Wladiwostok gelegen hatte.
Daher war es kinderleicht für Allan und Herbert, sich zum Auto zu schleichen und die Pistole des Ordenbehangenen und das Maschinengewehr des Adjutanten zu entwenden, um die beiden anschließend darauf aufmerksam zu machen, dass sie dummerweise gerade in eine etwas unangenehme Situation geraten waren. Oder, wie Allan es ausdrückte:
»Meine Herren, darf ich Sie höflichst ersuchen, Ihre Kleidung abzulegen?«
Marschall Merezkow war empört. So behandelte man keinen Marschall der Sowjetunion, nicht einmal, wenn man Lagerhäftling war. Ob die Herren etwa meinten, er – Marschall Kirill Afanassjewitsch Merezkow – solle in Unterhosen nach Wladiwostok marschieren? Allan erwiderte, das dürfte schwer werden, da Wladiwostok gerade bis auf die Grundmauern abbrenne, aber ansonsten, doch, ansonsten hätten sein Freund und er sich das tatsächlich in etwa so vorgestellt. Die Herren konnten natürlich zum Tausch ein paar schwarzweiße Sträflingsanzüge haben. Außerdem würde es sowieso immer wärmer werden, je näher sie an Wladiwostok kamen – oder wie auch immer man die Ruinen unter der Rauchwolke da unten nennen mochte.
Daraufhin schlüpften Allan und Herbert in die gestohlenen Uniformen und ließen ihre Sträflingskleidung auf dem Boden liegen. Allan hielt es für das Sicherste, wenn er den Wagen fuhr, also würde er den Adjutanten spielen und Herbert den Marschall. Der nahm also auf dem Beifahrersitz Platz, während Allan sich hinters Steuer setzte. Zum Abschied rief er dem Marschall zu, er solle doch nicht so wütend sein, denn damit sei keinem geholfen. Außerdem war ja bald Frühling, und der Frühling in Wladiwostok … Ach nein, das wohl doch nicht. Trotzdem empfahl Allan dem Marschall, positiv zu denken, fügte aber hinzu, das müsse der Marschall freilich selbst entscheiden. Wenn er unbedingt in Unterhosen dorthin laufen und die Dinge möglichst schwarz sehen wolle, werde er ihn selbstverständlich nicht davon abhalten.
»Also, adieu, Herr Marschall. Und Herr Adjutant.«
Der Marschall antwortete nicht, er starrte Allan nur weiter wütend an, während der den Pobeda wendete. Und dann fuhren Herbert und er Richtung Süden.
Nächster Halt Nordkorea.
* * * *
Der Grenzübertritt von der Sowjetunion nach Nordkorea verlief problemlos und rasch. Zuerst schlugen die russischen Grenzbeamten die Hacken zusammen und salutierten stramm, dann taten die Nordkoreaner es ihnen nach. Ohne dass ein Wort gewechselt wurde, öffneten sich die Schlagbäume für den sowjetischen Marschall (Herbert) und seinen Adjutanten (Allan). Der besonders ergebene der beiden nordkoreanischen Beamten bekam ganz glänzende Augen, als ihm aufging, wie sehr sich diese Sowjetrussen doch persönlich engagierten. Korea konnte einfach keinen besseren Nachbarn haben als die sozialistischen Sowjetrepubliken. Der Marschall war bestimmt auf dem Weg nach Wonsan, um dafür zu sorgen, dass die Materiallieferungen aus Wladiwostok eintrafen und ordnungsgemäß weitergeleitet wurden.
Doch dem war nicht so. Dieser Marschall verschwendete keinen Gedanken an Nordkoreas Wohl und Wehe. Man kann nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob er wusste, in welchem Land er sich gerade befand. Er war vollauf damit beschäftigt herauszufinden, wie man eigentlich dieses Handschuhfach aufkriegte.
Von den Matrosen im Hafen von Wladiwostok hatte Allan aufgeschnappt, dass der Koreakrieg gerade zum Stillstand gekommen war und die Parteien sich jeweils auf ihre Seite des achtunddreißigsten Breitengrades zurückgezogen hatten. Das hatte er auch Herbert vermitteln müssen, der sich den Übertritt von Nord- nach Südkorea offensichtlich so vorgestellt hatte, dass sie einmal Anlauf nahmen und hinübersprangen – vorausgesetzt, dieser Breitengrad war nicht allzu breit. Es bestünde zwar das Risiko, meinte er, dass man noch im Sprung erschossen werde, aber das wäre ja auch kein Weltuntergang.
Doch nun, in etwa dreißig, vierzig Kilometern Entfernung von der Grenze, stellte sich heraus, dass der Krieg rundherum in vollem Gange war. Amerikanische Flugzeuge kreisten und schienen alles zu bombardieren, was ihnen vor die Linse kam. Allan kam zu dem Schluss, dass sie einen russischen khakifarbenen Luxus-Pkw wahrscheinlich als besonders attraktives Ziel betrachten würden, daher verließ er die Hauptstraße Richtung Süden (ohne vorher seinen Marschall um Erlaubnis zu bitten) und bog ins Binnenland ab, auf kleinere Straßen. Hier fanden sie auch schneller Deckung, wenn über ihren Köpfen wieder das Dröhnen der Flugzeugmotoren erklang.
Allan fuhr in südwestlicher Richtung weiter, während Herbert die Brieftasche des Marschalls, die er in der Innentasche der Jacke entdeckt hatte, durchging und ihren Inhalt laut kommentierte. Sie enthielt eine beträchtliche Menge Rubel, aber auch Informationen, wie der Marschall wirklich hieß, sowie Teile einer Korrespondenz, der man entnehmen konnte, womit er sich in Wladiwostok beschäftigt hatte, als die Stadt noch in besserer Verfassung war.
»Ich frag mich ja, ob er nicht sogar diesen Eisenbahntransport befehligt hat«, überlegte Herbert laut.
Allan lobte Herbert für diesen Gedankengang, der kam ihm wirklich klug vor. Da wurde Herbert wieder rot. Es war schon nicht ganz blöd, etwas von sich zu geben, was nicht ganz blöd war.
»Sag mal, glaubst du, du kannst dir den Namen von Marschall Kirill Afanassjewitsch Merezkow merken?«, erkundigte sich Allan. »Das wäre für die nächste Zukunft ganz praktisch.«
»Ich bin absolut sicher, dass ich das nicht kann«, meinte Herbert.
Bei Einbruch der Dämmerung bogen Allan und Herbert auf den Hof eines Bauernguts, dessen Besitzer einigermaßen wohlhabend sein musste. Der Bauer, seine Frau und ihre zwei Kinder umringten die hohen Gäste und das feine Auto. Adjutant Allan entschuldigte sich auf Russisch und Chinesisch dafür, dass der Marschall und er sich so aufdrängten, aber ob es wohl möglich wäre, dass sie etwas zu essen bekämen? Sie wollten auch gern bezahlen, allerdings könnten sie nur Rubel anbieten.
Der Bauer und seine Frau hatten kein Wort von Allans Ansprache verstanden. Doch ihr ungefähr zwölfjähriger Sohn lernte in der Schule Russisch und übersetzte für seinen Vater, woraufhin Adjutant Allan und Marschall Herbert sofort ins Haus gebeten wurden.
Vierzehn Stunden später waren Allan und Herbert bereit, ihre Reise fortzusetzen. Zuerst hatten sie mit dem Bauern, seiner Frau und den Kindern zu Abend gegessen. Es gab ein chili- und knoblauchinspiriertes Gericht aus Schweinefleisch und dazu – halleluja! – koreanischen Reisschnaps. Der schmeckte zwar nicht so wie der schwedische, aber nach fünf Jahren und drei Wochen unfreiwilliger Abstinenz war er mehr als befriedigend.
Nach dem Essen wurden der Marschall und der Adjutant bei der Familie einquartiert. Mutter und Vater schliefen bei den Kindern, damit Marschall Herbert das große Schlafzimmer für sich hatte. Der Adjutant landete auf dem Küchenboden.
Am Morgen gab es Frühstück mit gedämpftem Gemüse, Trockenfrüchten und Tee. Und dann füllte der Bauer den Tank des Autos mit Benzin, das er aus einem Fass im Stall holte.
Das Geldbündel, das man ihm dafür anbot, wollte er partout nicht annehmen, bis der Marschall ihn auf Deutsch anbrüllte:
»Jetzt nimm das Geld endlich, du Scheißbauer!«
Das schüchterte den Bauern so ein, dass er tat, was Herbert verlangte, auch wenn er kein Wort verstanden hatte.
Allan und Herbert winkten der Familie freundlich zum Abschied, und dann fuhren sie in südwestlicher Richtung weiter, ohne auf der gewundenen Straße irgendjemandem zu begegnen. Doch aus der Ferne tönte das drohende Brummen der Bomber.
Je näher sie Pjöngjang kamen, umso angestrengter dachte Allan über einen neuen Plan nach. Der alte taugte jetzt ja nicht mehr allzu viel, denn nach seiner Einschätzung war es ausgeschlossen, von hier einen Grenzübergang zu versuchen.
Stattdessen fasste er den Entschluss, sich um ein Treffen mit Ministerpräsident Kim Il-sung zu bemühen. Herbert war immerhin sowjetischer Marschall, das dürfte doch wohl reichen, oder?
Herbert entschuldigte sich, dass er sich in Allans Pläne einmischte, aber was solle denn der Witz an einem Treffen mit Kim Il-sung sein?
Allan meinte, das wisse er noch nicht, aber er versprach, darüber nachzudenken. Einen Grund konnte er Herbert aber schon mal nennen: Wenn man sich immer schön an die hohen Tiere hielt, wurde tendenziell auch das Essen immer besser. Und der Schnaps übrigens auch.
Doch Allan wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis Herbert und er angehalten und wirklich kontrolliert werden würden. Nicht einmal ein Marschall konnte einfach durch ein Land fahren, in dem gerade Krieg herrschte, ohne vorher zumindest befragt zu werden. Deshalb verwendete Allan ein paar Stunden darauf, Herbert einzutrichtern, was er in so einem Fall sagen sollte: »Ich bin Marschall Merezkow aus der Sowjetunion. Bringen Sie mich zu Ihrem Anführer!«
Pjöngjang wurde in dieser Zeit von einem äußeren und einem inneren Militärring geschützt. Der äußere war zwanzig Kilometer von der Stadt entfernt und bestand aus Flakgeschützen und Straßenposten, während der innere Ring eine reine Barrikade war, fast schon eine Frontlinie, zum Schutz gegen einen Angriff auf dem Landweg. Allan und Herbert blieben also bei einem der Außenposten hängen, wo sie ein hoffnungslos betrunkener nordkoreanischer Soldat mit entsicherter MP vor der Brust empfing. Marschall Herbert hatte seinen einzigen Satz immer und immer wieder geprobt, und jetzt sagte er:
»Ich bin Ihr Anführer, bringen Sie mich … in die Sowjetunion!«
Zum Glück verstand der Mann kein Russisch, dafür aber Chinesisch. Daher konnte Adjutant Allan für seinen Marschall dolmetschen, sodass diesmal die vollständige Botschaft übermittelt wurde, und zwar in der richtigen Reihenfolge.
Doch der Soldat hatte solche Unmengen von Alkohol im Blut, dass ihm einfach nicht einfiel, wie er auf diese Situation reagieren sollte. Er bat die beiden auf jeden Fall schon mal in die Wachstube, und dann rief er seinen Kollegen an, der zweihundert Meter weiter am nächsten Schlagbaum stand. Danach setzte er sich in einen abgewetzten Sessel und zog eine Flasche Reisschnaps aus der Tasche (es war seine dritte heute). Nachdem er einen Schluck genommen hatte, begann er eine Melodie vor sich hin zu summen. Dabei sah er leeren, glänzenden Blickes direkt durch die sowjetischen Besucher hindurch, irgendwo in weite Fernen.
Allan fand, dass Herbert sich vor der Wache nicht besonders gut geschlagen hatte. Eines war ihm klar: Wenn Herbert weiterhin den Marschall gab, würden sowohl Marschall als auch Adjutant nach wenigen Minuten mit Kim Il-sung ganz gewaltig hopsgenommen werden. Durchs Fenster sah er die andere Wache näher kommen. Jetzt hieß es schnell handeln.
»Los, Herbert, wir tauschen die Uniformen«, befahl Allan.
»Warum das denn?«, fragte Herbert.
»Sofort«, kommandierte Allan.
Und so wurde in Windeseile aus dem Marschall der Adjutant und aus dem Adjutanten ein Marschall. Der hoffnungslos betrunkene Soldat verfolgte das Ganze mit unstetem Blick und gurgelte dazu etwas auf Koreanisch.
Sekunden später betrat Soldat Nummer zwei die Stube. Er nahm Haltung an und salutierte, als er sah, was sie für prominente Gäste hatten. Auch Soldat Nummer zwei sprach Chinesisch, sodass Allan in Gestalt des Marschalls abermals den Wunsch nach einem Treffen mit Ministerpräsident Kim Il-sung vorbrachte. Bevor ihm Soldat Nummer zwei antworten konnte, unterbrach ihn Nummer eins mit neuerlichem Gegurgel.
»Was sagt er?«, wollte Marschall Allan wissen.
»Er sagt, Sie hätten sich gerade nackt ausgezogen und dann wieder angezogen«, antwortete Soldat zwei ehrlich.
»Der Alkohol, der Alkohol.« Allan schüttelte den Kopf.
Soldat zwei drückte sein Bedauern über das Benehmen seines Kollegen aus, und als Nummer eins darauf beharrte, dass Allan und Herbert sich gerade aus- und wieder angezogen hatten, bekam er von Nummer zwei was auf die Fresse, verbunden mit der Warnung, dass er jetzt ein für alle Mal die Klappe halten solle, wenn er nicht wegen Trunkenheit im Dienst angezeigt werden wollte.
Da entschied sich Soldat eins zu schweigen (und noch einen Schluck zu nehmen), während Nummer zwei ein paar Telefonate führte. Dann stellte er ihnen einen koreanischen Passierschein aus, unterschrieb, stempelte ihn an zwei Stellen und überreichte ihn Marschall Allan mit den Worten:
»Das zeigen Sie einfach bei der nächsten Kontrolle vor, Herr Marschall. Dann werden Sie zum engsten Vertrauten des engsten Vertrauten des Ministerpräsidenten geführt.«
Allan bedankte sich, salutierte und ging zurück zum Auto, wobei er Herbert vor sich her schubste.
»Du bist gerade Adjutant geworden, also muss du jetzt fahren«, erklärte Allan.
»Ist ja interessant«, meinte Herbert. »Ich bin nicht mehr Auto gefahren, seit mir die Schweizer Polizei verboten hat, mich jemals wieder hinters Steuer zu setzen.«
»Ich glaube, du erzählst mir jetzt lieber nichts mehr darüber«, sagte Allan.
»Ich tu mich immer so schwer mit rechts und links«, versuchte es Herbert noch einmal.
»Wie gesagt, ich glaube, du erzählst mir jetzt lieber nichts mehr darüber«, sagte Allan.
Die Reise ging weiter, nur jetzt mit Herbert am Steuer, und es lief viel besser, als Allan geglaubt hatte. Mit Hilfe ihres Passierscheins war es überhaupt kein Problem, bis in die Stadt zu fahren und dort bis zum Palast des Premiers.
Dort empfing sie der engste Vertraute des engsten Vertrauten und teilte ihnen mit, der engste Vertraute selbst könne ihnen frühestens in drei Tagen eine Audienz gewähren. Während sie darauf warteten, würde man die Herren in der Gästewohnung des Palastes einquartieren. Abendessen werde übrigens um acht Uhr serviert, wenn es recht sei.
»Sieh an, sieh an«, sagte Allan zu Herbert.
* * * *
Kim Il-sung wurde im April 1912 als Kind einer christlichen Familie am Stadtrand von Pjöngjang geboren. Die Familie stand damals unter japanischer Oberhoheit, wie alle koreanischen Familien. Im Laufe der Jahre hatten sich die Japaner angewöhnt, mit der Bevölkerung ihrer Kolonie umzuspringen, wie es ihnen passte. Hunderttausende von koreanischen Mädchen und Frauen wurden als Sexsklavinnen für die kaiserlichen Soldaten geraubt. Koreanische Männer wurden für die Armee zwangsrekrutiert, um für den Kaiser zu kämpfen, der sie unter anderem zwang, japanische Namen anzunehmen und auch ansonsten alles dafür tat, dass die koreanische Sprache und Kultur baldigst ausstarb.
Kim Il-sungs Vater war ein stiller Apotheker, aber seine kritischen Bemerkungen zu den japanischen Manieren sprach er laut genug aus, um das Missfallen der Besatzer zu erregen, sodass die Familie eines Tages vorsichtshalber Richtung Norden zog, in die chinesische Mandschurei.
Doch der Frieden hielt nicht lange an, denn 1931 stießen die japanischen Truppen auch hierher vor. Kim Il-sungs Vater war zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben, doch die Mutter ermutigte den Sohn, sich der chinesischen Guerilla anzuschließen, die die Japaner aus der Mandschurei vertreiben wollten – und auf lange Sicht auch aus Korea.
Kim Il-sung machte Karriere im Dienst der chinesischen kommunistischen Guerilla. Er erwarb sich den Ruf, tatkräftig und mutig zu sein. Schließlich wurde er sogar zum Anführer einer ganzen Division ernannt und kämpfte mit solch bedingungslosem Einsatz gegen die Japaner, dass zum Schluss nur noch er und eine Handvoll Mitstreiter am Leben waren. Das war 1941, mitten während des Zweiten Weltkriegs, und Kim Il-sung sah sich gezwungen, über die Grenze in die Sowjetunion zu fliehen.
Doch auch dort machte er Karriere. Schon bald war er Hauptmann und kämpfte bis 1945 in der Roten Armee.
Mit Kriegsende musste Japan Korea räumen. Kim Il-sung kehrte aus dem Exil zurück, jetzt freilich als Nationalheld. Nun galt es nur noch, offiziell einen koreanischen Staat zu gründen – dass das Volk ihn als seinen großen Führer haben wollte, stand ganz außer Frage.
Aber die Siegermächte, die Sowjetunion und die USA, hatten Korea in zwei Interessensgebiete aufgeteilt. Und in den USA war man nicht der Meinung, dass ein nachweislich kommunistisch gesinnter Widerstandskämpfer zum Chef über die ganze Halbinsel taugte. Also flogen sie ihren eigenen Staatschef ein, einen Exilkoreaner, den sie im südlichen Landesteil einsetzten. Kim Il-sung musste sich mit dem Norden begnügen, aber eben dazu war er nicht bereit, sondern eröffnete den Koreakrieg. Wenn er die Japaner verjagt hatte, konnte er doch wohl auch die Amerikaner und ihre (aus den Reihen der Vereinten Nationen rekrutierte) Gefolgschaft verjagen, oder etwa nicht?
Kim Il-sung hatte also Waffendienst für die Chinesen und die Russen geleistet. Und jetzt kämpfte er für seine eigene Sache. Auf seinem dramatischen Lebensweg hatte er unter anderem eines gelernt: Man sollte sich immer nur auf sich selbst verlassen und niemandem trauen.
Von dieser Regel machte er nur eine Ausnahme. Und diese Ausnahme hatte er zu seinem engsten Vertrauten gemacht.
Wer mit Ministerpräsident Kim Il-sung sprechen wollte, musste zuerst um eine Audienz bei seinem Sohn bitten.
Kim Jong-il.
Elf Jahre alt.
»Und du musst deine Besucher immer erst mindestens zweiundsiebzig Stunden warten lassen, bevor du sie empfängst. Dadurch wahrst du deine Autorität, mein Sohn«, hatte Kim Il-sung ihm beigebracht.
»Ich glaube, ich verstehe schon, Papa«, log Kim Jong-il. Hinterher holte er sich ein Lexikon und schlug das Wort nach, das er nicht verstanden hatte.
* * * *
Die dreitägige Wartezeit störte Allan und Herbert überhaupt nicht, denn im Palast des Ministerpräsidenten war das Essen gut und die Betten weich. Außerdem gelangten nur selten amerikanische Bomber nach Pjöngjang, da gab es einfachere Ziele.
Doch schließlich war es so weit. Allan wurde vom engsten Vertrauten des engsten Vertrauten des Premiers abgeholt und durch die Korridore des Palastes zum Büro des engsten Vertrauten geführt. Allan war darauf vorbereitet, dass der engste Vertraute ein Junge war.
»Ich bin der Sohn des Ministerpräsidenten, Kim Jong-il«, erklärte Kim Jong-il. »Und ich bin der engste Vertraute meines Vaters.«
Er streckte dem Marschall die Hand hin, und wenn seine kleine Hand auch völlig in Allans riesiger Faust verschwand, hatte er doch einen festen Händedruck.
»Und ich bin Marschall Kirill Afanassjewitsch Merezkow«, sagte Allan. »Vielen Dank, dass der junge Herr Kim mich empfängt. Würde der junge Herr Kim auch gestatten, dass ich mein Anliegen vorbringe?«
Das gestattete Kim Jong-il, also fuhr Allan mit seiner Lügengeschichte fort. Der Marschall überbringe dem Ministerpräsidenten eine Nachricht direkt vom Genossen Stalin in Moskau: Da man den Verdacht hegte, dass die USA – diese kapitalistischen Hyänen – das sowjetische Kommunikationssystem infiltriert hatten (wenn der junge Herr Kim entschuldigen wolle, werde der Marschall hier nicht weiter ins Detail gehen), hatte Genosse Stalin beschlossen, die Nachricht unmittelbar durch einen Boten übermitteln zu lassen. Und diese ehrenvolle Aufgabe sei dem Marschall und seinem Adjutanten zugefallen (den der Marschall sicherheitshalber in seinem Zimmer gelassen hatte).
Misstrauisch musterte Kim Jong-il Marschall Allan. Es hörte sich an, als würde er seine Worte vom Blatt ablesen, als er verkündete, seine Aufgabe bestehe darin, seinen Vater um jeden Preis zu schützen. Dazu gehörte, dass er niemandem traute, das hatte sein Vater ihm beigebracht, erklärte der Junge. Daher konnte Kim Jong-il den Marschall auch nicht zu seinem Vater, dem Ministerpräsidenten, vorlassen, bevor die Geschichte von sowjetischer Seite bestätigt worden war. Kim Jong-il wollte also in Moskau anrufen und fragen, ob der Marschall tatsächlich von Onkel Stalin geschickt worden war.
Das war freilich eine unerwünschte Entwicklung. Aber jetzt saß Allan nun mal hier, und ihm blieb nichts anderes übrig als ein Versuch, den Anruf bei Stalin abzubiegen.
»Einem einfachen Marschall steht es natürlich nicht zu, dem jungen Herrn Kim zu widersprechen, aber ich erlaube mir dennoch die Bemerkung, dass es vielleicht nicht so sinnvoll wäre, das Telefon zu benutzen, um nachzufragen, ob es wirklich stimmt, dass man das Telefon nicht benutzen sollte.«
Der junge Herr Kim dachte über Allans Worte nach. Doch auch die Worte seines Vaters hallten in seinem Kopf nach: »Traue niemandem, mein Sohn.« Schließlich fiel ihm eine Lösung ein. Er würde Onkel Stalin anrufen, aber codiert sprechen. Der junge Herr Kim hatte ihn schon ein paarmal getroffen, und Onkel Stalin hatte ihn immer »den kleinen Revolutionär« genannt.
»Also rufe ich Onkel Stalin einfach an, melde mich als ›der kleine Revolutionär‹ und frage ihn, ob er jemanden zu meinem Vater geschickt hat. Ich glaube, auf die Art sage ich nicht zu viel, auch wenn die Amerikaner uns abhören sollten. Oder wie denkt der Marschall darüber?«
Der Marschall dachte, dass dieser Junge ein listiger kleiner Bengel war. Wie alt mochte er sein? Zehn? Allan war selbst sehr früh erwachsen geworden. In Kim Jong-ils Alter hatte er schon Dynamit für die AB Nitroglycerin in Flen geschleppt wie ein erwachsener Arbeiter. Außerdem dachte Allan, dass diese Sache eventuell ins Auge gehen könnte, aber das konnte er natürlich schlecht ansprechen. Nun ja, es war nun mal, wie es war und so weiter.
»Ich glaube, dass der junge Herr Kim ein sehr kluger Junge ist und es weit bringen wird«, antwortete Allan und überließ alles Weitere dem Schicksal.
»Ja, ich soll später auch die Aufgaben meines Vaters übernehmen. Der Marschall könnte mit seiner Annahme also recht behalten. Aber nehmen Sie sich doch noch eine Tasse Tee, während ich Onkel Stalin anrufe.«
Der junge Herr Kim schlenderte zu dem Schreibtisch, der in der Ecke des Audienzsaales stand, während Allan sich Tee einschenkte und überlegte, ob er vielleicht einfach aus dem Fenster springen sollte. Doch diese Idee verwarf er gleich wieder. Zum einen befanden sie sich im dritten Stock des Präsidentenpalastes, und zum andern konnte Allan seinen Kameraden nicht einfach im Stich lassen. Herbert wäre sicher nur zu gern gesprungen (wenn er sich denn getraut hätte), aber der war jetzt ja nicht hier.
Plötzlich wurde Allan aus seinen Gedanken gerissen, denn der junge Herr Kim brach in Tränen aus, legte auf und rannte zurück zu Allan, während er laut schluchzte:
»Onkel Stalin ist tot! Onkel Stalin ist tot!«
Was er immer für einen Massel hatte, das war schon fast nicht mehr zu glauben, dachte Allan. Dann sagte er:
»Na, na, junger Herr Kim. Wenn er zu mir kommt, dann kann der Onkel Marschall den jungen Herrn Kim ganz fest in den Arm nehmen. Ist ja schon gut, schon gut …«
Als der junge Herr Kim einigermaßen getröstet war, war er schon nicht mehr so altklug. Es sah so aus, als schaffte er es nicht mehr, den Erwachsenen zu spielen. Schniefend berichtete er, dass Onkel Stalin vor ein paar Tagen einen Schlaganfall erlitten hatte. Nach den Worten von Tante Stalin (so nannte er sie) war er kurz vor dem Anruf des jungen Herrn Kim verstorben.
Während der junge Herr Kim immer noch auf Allans Schoß kauerte, erzählte Allan einfühlsam von den schönen Erinnerungen an seine letzte Begegnung mit Genosse Stalin. Sie hatten zusammen ein Festmahl eingenommen, und die Stimmung war so gut gewesen, wie sie nur zwischen echten Freunden sein kann. Genosse Stalin hatte getanzt und gesungen bis zuletzt. Allan summte sogar das georgische Volkslied, das Stalin zum Besten gegeben hatte, bevor er plötzlich seinen Kurzschluss im Kopf erlitt. Tatsächlich erkannte der junge Herr Kim das Lied wieder! Das hatte Onkel Stalin ihm auch immer vorgesungen. Damit waren endgültig alle Zweifel ausgeräumt. Der Onkel Marschall war offensichtlich der, für den er sich ausgab. Der junge Herr Kim würde dafür sorgen, dass sein Vater, der Präsident, ihn schon am nächsten Tag empfing. Aber ob er ihn jetzt wohl noch mal ganz fest in den Arm nehmen könnte …?
* * * *
Der Ministerpräsident regierte sein halbes Land natürlich nicht in einem Büro gleich nebenan. Das hätte ein zu hohes Risiko für ihn bedeutet. Nein, um Kim Il-sung zu treffen, musste man eine längere Fahrt unternehmen, und zwar aus Sicherheitsgründen in einem SU-122-Sturmgeschütz, da der engste Vertraute des Präsidenten, nämlich sein Sohn, auch mitfahren sollte.
Die Fahrt war kein bisschen bequem, aber das ist ja auch nicht der vorrangige Zweck von Panzerkampfwagen. Unterwegs hatte Allan jede Menge Zeit, um über zweierlei nicht ganz unwichtige Fragen nachzudenken. Erstens, was er zu Kim Il-sung sagen, und zweitens, wo das hinführen sollte.
Vor dem engsten Vertrauten und Sohn des Präsidenten hatte Allan ja behauptet, er käme mit einer wichtigen Botschaft von Stalin, und das erwies sich jetzt als eine sehr praktikable Ausrede. Nun konnte sich der falsche Marschall aus den Fingern saugen, was er wollte, Stalin war schließlich tot und konnte nichts mehr dementieren. Also beschloss Allan, Kim Il-sung die Botschaft zu übermitteln, dass Stalin ihm zweihundert Panzer für den kommunistischen Kampf in Korea schenken wolle. Oder dreihundert. Je mehr Panzer, desto mehr würde sich der Ministerpräsident freuen.
Die zweite Frage war da schon heikler. Allan war nur mäßig geneigt, nach Erfüllung seines Auftrags in die Sowjetunion zurückzufahren. Doch es würde sicher nicht leicht werden, Kim Il-sung dazu zu bringen, Allan und Herbert auf ihrem Weg nach Südkorea zu helfen. Und in Kim Il-sungs Nähe zu bleiben, würde bestimmt mit jedem Tag ungesünder, den die versprochenen Panzer nicht auftauchten.
Ob China womöglich eine Alternative sein konnte? Solange Allan und Herbert schwarzweiße Sträflingskleidung angehabt hatten, musste die Antwort Nein lauten, aber die hatten sie jetzt ja nicht mehr an. Seit Allan zum Marschall geworden war, hatte sich Koreas riesiger Nachbar von einer Bedrohung vielleicht in eine Verheißung verwandelt. Besonders, wenn Allan Kim Il-sung einen schönen Empfehlungsbrief abschmeicheln konnte.
Nächste Station also China. Und dann kam es eben so, wie es kam. Wenn ihm unterwegs nichts Besseres einfiel, konnte man ja immer noch ein zweites Mal über den Himalaya marschieren.
Damit erklärte Allan seine Überlegungen für abgeschlossen. Kim Il-sung sollte erst mal dreihundert Panzer bekommen, oder vierhundert – es gab ja keinen Grund, an diesem Ende zu sparen. Danach würde der falsche Marschall den Ministerpräsidenten untertänigst ersuchen, ihm mit einem Fahrzeug und Visa für die Reise nach China behilflich zu sein, denn er habe auch noch eine Botschaft an Mao Tse-tung zu überbringen. Mit diesem Plan war Allan vollauf zufrieden.
In der Abenddämmerung rollte das Sturmgeschütz mit den Passagieren Allan, Herbert und dem jungen Kim Jong-il auf ein Gelände, das auf Allan wie eine Art militärische Anlage wirkte.
»Meinst du, wir sind schon in Südkorea?«, fragte Herbert voller Hoffnung.
»Wenn es einen Ort auf Erden gibt, an dem sich Kim Il-sung nicht versteckt, dann wohl Südkorea«, gab Allan zurück.
»Ach so, nein, ist ja klar … ich dachte bloß … nein, gedacht hab ich wohl eher nicht«, räumte Herbert ein.
Dann blieb das zehnrädrige Sturmgeschütz mit einem Ruck stehen, und die drei Passagiere krabbelten heraus auf festen Boden. Sie waren auf einem Militärflughafen gelandet und standen jetzt vor etwas, was vielleicht ein Stabsgebäude sein mochte.
Der junge Herr Kim hielt Allan und Herbert die Tür auf und überholte sie rasch, um ihnen auch noch die nächste aufzuhalten. Damit war das Trio bis ins Allerheiligste vorgedrungen. Darin stand ein großer Schreibtisch, der unter Unmengen von Papier verschwand. An der Wand dahinter hing eine Koreakarte, rechts daneben stand eine Sitzgruppe. Auf dem einen Sofa saß Ministerpräsident Kim Il-sung, auf dem anderen sein Gast. An der Wand standen außerdem noch zwei mit MPs bewaffnete Soldaten in Habachtstellung.
»Guten Abend, Herr Ministerpräsident«, begann Allan. »Ich bin Marschall Kirill Afanassjewitsch Merezkow aus der Sowjetunion.«
»Der sind Sie ganz sicher nicht«, erwiderte Kim Il-sung ruhig. »Ich kenne Marschall Merezkow nämlich sehr gut.«
»Oje«, sagte Allan.
Sofort standen die Soldaten nicht mehr Habacht, sondern richteten ihre Waffen auf den falschen Marschall und seinen höchstwahrscheinlich ebenso falschen Adjutanten. Kim Il-sung war immer noch ganz ruhig, aber sein Sohn erlitt einen kombinierten Heul- und Wutanfall. Vielleicht zerfiel in diesem Augenblick das letzte Fragment seiner Kindheit zu Staub. Traue niemandem! Und er hatte sich auf den Schoß dieses falschen Marschalls geschmiegt. Traue niemandem! Nie, nie wieder würde er irgendeinem Menschen trauen.
»Du wirst sterben!«, schrie er Allan unter Tränen an. »Und du auch!« Das war an Herbert gerichtet.
»Ja, sterben werdet ihr«, sagte Kim Il-sung immer noch ganz ruhig. »Aber erst wollen wir herausfinden, wer euch geschickt hat.«
Das sieht ja gar nicht gut aus, dachte Allan.
Das sieht ja richtig gut aus, dachte Herbert.
* * * *
Der echte Marschall Kirill Afanassjewitsch Merezkow und sein Adjutant hatten keine andere Wahl gehabt, als sich zu Fuß auf den Weg zu dem zu machen, was von Wladiwostok vielleicht übrig geblieben sein mochte.
Nach ein paar Stunden waren sie auf ein Zeltlager der Roten Armee vor der zerstörten Stadt gestoßen. Zunächst erreichte die Demütigung ihren absoluten Gipfel, als man nämlich den Marschall verdächtigte, ein entflohener Gefangener zu sein, der es sich anders überlegt hatte. Aber dann erkannte man ihn rasch und behandelte ihn so respektvoll, wie es seiner Stellung zukam.
Marschall Merezkow hatte erst einmal in seinem Leben ein Unrecht hingenommen, und zwar als Stalins engster Vertrauter Berija ihn völlig grundlos verhaften und foltern ließ und ihn sicher auch hätte sterben lassen, wäre ihm nicht Stalin höchstpersönlich zu Hilfe gekommen. Vielleicht hätte Merezkow sich hinterher mit Berija anlegen sollen, aber dann gab es plötzlich einen Weltkrieg zu gewinnen, und Berija war trotz allem immer noch in einer sehr starken Position. Deswegen ließ er die Sache auf sich beruhen. Doch Merezkow hatte sich geschworen, sich nie wieder erniedrigen zu lassen. Deswegen blieb ihm jetzt auch nichts anderes übrig, als die beiden Männer zu finden und unschädlich zu machen, die ihm und seinem Adjutanten Auto und Uniform abgenommen hatten.
Allerdings konnte Merezkow nicht sofort die Verfolgung aufnehmen, weil er ja keine Marschallsuniform mehr hatte. Es war auch nicht so leicht, in den Zeltlagern einen Schneider aufzutreiben, und als man endlich einen gefunden hatte, stand man vor dem trivialen Problem, sich überhaupt Nadel und Faden zu besorgen. Sämtliche Schneiderwerkstätten Wladiwostoks waren ja mit der Stadt verschwunden.
Nach drei Tagen war die Marschallsuniform schließlich fertig. Wenn auch ohne die Orden – von denen profitierte ja gerade der falsche Marschall. Doch davon konnte sich Merezkow nicht abhalten lassen, sonst hätte er die Schlacht verloren geben müssen.
Also organisierte er mit einiger Mühe einen neuen Pobeda für sich und seinen Adjutanten (die meisten Militärfahrzeuge waren ja ebenfalls verbrannt) und fuhr am frühen Morgen Richtung Süden, fünf Tage nachdem das ganze Elend begonnen hatte.
An der Grenze zu Nordkorea wurde sein Verdacht bestätigt. Ein Marschall – genau so einer wie der Marschall – hatte in einem Pobeda – so einem wie dem, den der Marschall jetzt hatte – die Grenze passiert und war weiter gen Süden gefahren. Mehr wussten die Grenzbeamten nicht zu berichten.
Marschall Merezkow zog dieselbe Schlussfolgerung wie Allan fünf Tage vor ihm, dass es nämlich Selbstmord wäre, sich weiter auf die Front zuzubewegen. Daher schlug er die Straße nach Pjöngjang ein und wusste schon nach ein paar Stunden, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Vom ersten Wachposten erfuhr er, dass ein Marschall Merezkow nebst Adjutant ein Treffen mit Kim Il-sung verlangt und daraufhin eine Audienz beim engsten Vertrauten des engsten Vertrauten des Ministerpräsidenten bekommen hatte. Daraufhin begannen die beiden Wachen zu streiten. Hätte Marschall Merezkow Koreanisch gekonnt, dann hätte er gehört, wie der eine sagte, er habe doch gleich gemerkt, dass mit diesen beiden etwas faul war, und die Männer hätten sehr wohl die Kleider getauscht, während sein Kollege erwiderte, wenn der andere ab und zu nach zehn Uhr morgens noch nüchtern bleiben könnte, dann könnte man ihm auch mal etwas glauben. Anschließend beschimpften sich Wache eins und Wache zwei als Volltrottel, doch da waren Marschall Merezkow und sein Adjutant schon auf dem Weg nach Pjöngjang.
Der echte Marschall Merezkow durfte den engsten Vertrauten des engsten Vertrauten des Ministerpräsidenten noch am selben Tag nach dem Mittagessen sprechen. Mit all der Autorität, die nur ein echter Marschall besitzt, hatte er den engsten Vertrauten des engsten Vertrauten des Ministerpräsidenten bald überzeugt, dass sowohl der Premier als auch sein Sohn in unmittelbarer Lebensgefahr schwebten und dass der engste Vertraute des engsten Vertrauten ihm jetzt unverzüglich den Weg zum Hauptquartier des Ministerpräsidenten beschreiben musste. Da man keine Zeit zu verlieren hatte, sollte der Transport im Pobeda des Marschalls erfolgen, einem Fahrzeug, das sicher viermal so schnell fuhr wie der Panzer, in dem Kim Jong-il und die Verbrecher befördert worden waren.
* * * *
»Aaaalso«, begann Kim Il-sung herablassend, aber interessiert. »Wer seid ihr, wer hat euch geschickt, und was habt ihr mit eurem kleinen Betrug im Schilde geführt?«
Allan kam gar nicht zu einer Antwort, denn im nächsten Moment wurde die Tür aufgerissen und der echte Marschall Merezkow kam hereingestürmt und brüllte, die beiden Männer seien kriminelle Lagerinsassen und hätten ein Attentat auf den Präsidenten vor.
Für die beiden Soldaten mit den MPs waren es vorübergehend einfach ein paar zu viele Marschälle und Adjutanten. Doch sowie der Ministerpräsident bestätigt hatte, dass der soeben eingetroffene Marschall der richtige war, konnten sich die Wachen wieder auf die Betrüger konzentrieren.
»Nur die Ruhe, lieber Kirill Afanassjewitsch«, sagte Kim Il-sung. »Wir haben die Situation absolut unter Kontrolle.«
»Du wirst sterben«, sagte der empörte Marschall Merezkow, als er Allan in der Marschallsuniform mit sämtlichen Orden auf der Brust sah.
»Ja, das hat man mir bereits mitgeteilt«, antwortete Allan. »Erst der junge Kim hier, dann der Ministerpräsident, und jetzt also auch der Herr Marschall. Der Einzige, der noch nicht meinen Kopf gefordert hat, sind Sie«, sagte Allan an den Gast des Ministerpräsidenten gewandt. »Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber es gibt wohl nicht viel Hoffnung, dass Sie in dieser Frage eine andere Auffassung vertreten?«
»Ganz sicher nicht«, lächelte der Gast zurück. »Ich bin Mao Tse-tung, der Führer der Volksrepublik China, und eines kann ich mit Sicherheit sagen: Ich hege keine übertriebenen Sympathien für Leute, die meinem Genossen Kim Il-sung Böses wollen.«
»Mao Tse-tung!«, rief Allan aus. »Was für eine Ehre! Na, auch wenn ich demnächst hingerichtet werden sollte, dürfen Sie auf keinen Fall versäumen, Ihre schöne Frau recht herzlich von mir zu grüßen.«
»Sie kennen meine Frau?«, wunderte sich Mao Tse-tung.
»Ja – das heißt, wenn Sie in letzter Zeit nicht die Frau gewechselt haben, Herr Mao. Früher hatten Sie ja die Angewohnheit. Jiang Qing und ich sind uns vor ein paar Jahren in der Sichuan-Provinz begegnet. Wir sind dort mit einem Jungen namens Ah Ming durch die Berge gewandert.«
»Sind Sie Allan Karlsson?«, fragte Mao Tse-tung verblüfft. »Der Retter meiner Frau?«
Herbert Einstein kapierte nicht allzu viel, aber er begriff immerhin, dass sein Freund Allan neun Leben haben musste und dass ihr sicherer Tod wieder in etwas anderes umgewandelt werden würde! Das durfte nicht geschehen! Herbert stand unter Schock.
»Ich fliehe, ich fliehe! Erschießt mich, erschießt mich!«, schrie er und rannte panisch durchs Zimmer. Leider verwechselte er die Türen und galoppierte direkt in die Garderobe, wo er prompt über einen Mopp und einen Putzeimer stürzte.
»Also, Ihr Genosse …«, meinte Mao Tse-tung. »Ein Einstein scheint der ja nicht gerade zu sein.«
»Sagen Sie das nicht«, erwiderte Allan. »Sagen Sie das nicht.«
* * * *
Dass Mao Tse-tung zufällig im Raum war, war kein Wunder, denn Kim Il-sung hatte sein Hauptquartier im mandschurischen China einrichten lassen, kurz vor Shenyang in der Liaoning-Provinz, ungefähr fünfhundert Kilometer nordwestlich der nordkoreanischen Hauptstadt Pjöngjang. Mao fühlte sich in dieser Gegend wohl, denn hier hatte er schon immer den stärksten Rückhalt gehabt. Und er traf sich gern mit seinem nordkoreanischen Freund.
Es dauerte jedoch eine gute Weile, alle Zusammenhänge zu klären und die Anwesenden, die Allans Kopf auf einem Silbertablett gefordert hatten, auf andere Gedanken zu bringen.
Marschall Merezkow reichte ihm als Erster die Hand zur Versöhnung. Allan Karlsson war ja ebenso wie Merezkow ein Opfer von Marschall Berijas Wahnsinn geworden. (Allerdings verschwieg Allan sicherheitshalber das unwichtige Detail, dass er Wladiwostok abgefackelt hatte.) Und als Allan vorschlug, dass sie doch die Uniformjacken tauschen sollten, sodass der Marschall seine ganzen Orden zurückbekam, war Merezkows Zorn endgültig verraucht.
Kim Il-sung fand auch nicht, dass er Grund zur Verärgerung hätte, denn Allan hatte ja nie vorgehabt, ihm etwas anzutun. Kim Il-sungs einziger Kummer war, dass sein Sohn sich so betrogen fühlte.
Der junge Kim heulte und schrie immer noch und forderte hartnäckig Allans sofortigen und möglichst gewaltsamen Tod. Zum Schluss wusste sich Kim Il-sung keinen anderen Rat, als seinem Sohn eine zu scheuern und ihm zu befehlen, er solle augenblicklich still sein, wenn er sich nicht gleich noch eine einfangen wolle.
Man bot Allan und Marschall Merezkow einen Platz auf Kim Il-sungs Sofa an. Nachdem Herbert Einstein sich aus der Garderobe herausgearbeitet hatte, setzte er sich mit hängendem Kopf dazu.
Allans Identität wurde endgültig bestätigt, als Mao Tse-tungs zwanzigjähriger Chefkoch hereingerufen wurde. Allan und Ah Ming umarmten sich lange, bis Mao den jungen Mann wieder in die Küche abkommandierte, damit er die Nudeln für ein spätes Abendessen zubereitete.
Mao Tse-tungs Dankbarkeit für die Rettung seiner Frau Jiang Qing kannte keine Grenzen. Er erklärte sich bereit, Allan und seinem Genossen in jeder Form behilflich zu sein, ohne Einschränkung. Dazu gehörte auch, dass sie in China bleiben durften, wo Mao Tse-tung dafür sorgen wollte, dass Allan und sein Genosse ein Leben mit allen Bequemlichkeiten führen konnten.
Doch Allan antwortete, der Herr Mao möge entschuldigen, aber ihm stehe der Kommunismus langsam bis hier oben, und er sehne sich danach, sich irgendwo zu erholen, wo man seinen Longdrink schlürfen konnte, ohne dass einem politische Belehrungen dazuserviert wurden.
Mao erwiderte, das könne er auf jeden Fall entschuldigen, aber Herr Karlsson solle sich keine allzu großen Hoffnungen machen, dem Kommunismus langfristig aus dem Wege gehen zu können, denn der feiere überall Erfolge, und es würde nicht mehr lange dauern, bis er die ganze Welt erobert habe.
Darauf fragte Allan, ob ihm die Herren möglicherweise einen Tipp geben könnten, wohin der Kommunismus ihrer Meinung nach als Letztes vordringen würde? Er hätte nichts dagegen, wenn dort auch die Sonne schien, es weiße Strände gab und man sich etwas anderes einschenken lassen konnte als grünen Bananenlikör aus Indonesien.
»Ich bin ganz sicher, dass ich mich nach ein bisschen Ferien sehne«, stellte Allan fest. »So was hatte ich nämlich noch nie.«
Mao Tse-tung, Kim Il-sung und Marschall Merezkow berieten sich. Die Karibikinsel Kuba wurde vorgeschlagen, denn etwas Kapitalistischeres als Kuba wollte den Herren fast nicht einfallen. Allan bedankte sich für den Tipp, meinte aber, die Karibik sei doch schrecklich weit weg, außerdem sei ihm gerade eingefallen, dass er ja weder Geld noch Pass besaß, also wolle er seine Erwartungen lieber etwas herunterschrauben.
Was Pass und Geld anging, solle sich der Herr Karlsson mal keine Sorgen machen. Mao Tse-tung versprach, seinen Freund und ihn mit falschen Papieren zu versehen, sodass sie hinreisen konnten, wo immer sie wollten. Er würde ihnen auch einen Riesenhaufen Dollahs schicken, denn davon hatte er mehr als genug. Das Geld hatte Präsident Truman aus den USA damals den Kuomintang geschickt, und die Kuomintang hatten es bei ihrer Flucht nach Taiwan in der Eile zurückgelassen. Doch die Karibik lag ja wirklich auf der anderen Seite des Erdballs, es konnte also nicht schaden, noch einmal gründlich nachzudenken.
Während die drei Erzkommunisten ihr Brainstorming zu dem Thema fortsetzten, wohin man jemanden in Urlaub schicken könnte, der allergisch auf ihre Ideologie war, dankte Allan im Stillen Harry Truman für die finanzielle Unterstützung.
Jemand schlug die Philippinen vor, aber die wurden als politisch zu instabil abgelehnt. Schließlich kam von Mao der Vorschlag Bali. Allan hatte ja Anstoß am indonesischen Bananenlikör genommen, und da war Mao eben Indonesien eingefallen. Dort war der Kommunismus auch noch nicht angekommen, obwohl er natürlich schon um die Ecke lauerte, so wie überall – ausgenommen Kuba vielleicht. Dass man auf Bali aber auch andere Getränke hatte als Bananenlikör, meinte der Vorsitzende Mao sicher zu wissen.
»Dann sagen wir Bali«, beschloss Allan. »Kommst du auch mit, Herbert?«
Herbert Einstein hatte sich langsam mit dem Gedanken ausgesöhnt, noch eine Weile zu leben, also nickte er Allan nur ergeben zu. Ja, ja, er kam mit. Was blieb ihm anderes übrig?