4. KAPITEL 1905–1929

Allan Emmanuel Karlsson wurde am 2. Mai 1905 geboren. Tags zuvor war seine Mutter noch zur Maidemonstration in Flen gegangen, um sich für das Frauenwahlrecht, den Acht-Stunden-Arbeitstag und andere utopische Ideen starkzumachen. Die Demonstration bewirkte auf jeden Fall, dass die Wehen einsetzten, und kurz nach Mitternacht gebar sie ihren ersten und einzigen Sohn. Das geschah in einer kleinen Kate in Yxhult, mit Hilfe der alten Nachbarin, die zwar kein besonderes Talent zur Hebamme hatte, jedoch ein gewisses Ansehen genoss, weil sie sich als Neunjährige einmal vor Karl XIV. Johann hatte verbeugen dürfen, welcher wiederum ein guter Freund (na ja!) von Napoleon Bonaparte gewesen war. Zur Verteidigung der Nachbarin muss außerdem gesagt werden, dass das Kind der Frau, der sie bei der Entbindung half, das Erwachsenenalter erreichte, und ein recht stolzes Alter noch dazu.

Allan Karlssons Vater war ein ebenso fürsorglicher wie zorniger Mann. Fürsorglich gegenüber seiner Familie, zornig auf die Gesellschaft im Allgemeinen und auf alle, die man irgendwie als ihre Repräsentanten betrachten konnte. Außerdem war er bei den feineren Herrschaften nicht wohlangesehen, nicht zuletzt deswegen, weil er sich einmal in Flen auf den Marktplatz gestellt und für Verhütungsmittel geworben hatte. Dafür wurde er mit einem Bußgeld von zehn Kronen belegt, und er musste sich mit diesem Thema nie mehr persönlich auseinandersetzen, weil ihm Allans Mutter ab da nämlich vor lauter Scham jeglichen Zutritt verwehrte. Damals war ihr Sohn sieben und damit alt genug, seine Mutter um eine genauere Erklärung zu bitten, warum das Bett des Vaters plötzlich im Holzschuppen neben der Küche stand. Doch die Antwort lautete nur, wenn er sich keine Ohrfeige einfangen wolle, solle er nicht so viele Fragen stellen. Da Allan, wie die Kinder aller Generationen vor und nach ihm, wenig Lust auf eine Ohrfeige verspürte, ließ er die Sache also auf sich beruhen.

Ab diesem Tage tauchte Allans Vater jedoch immer seltener im eigenen Zuhause auf. Tagsüber verrichtete er leidlich seine Arbeit bei der Eisenbahn, abends diskutierte er auf allen möglichen Versammlungen über den Sozialismus. Nur wo er seine Nächte verbrachte, wurde Allan nie so ganz klar.

Seine wirtschaftliche Verantwortung trug der Vater aber weiterhin. Den Großteil seines Lohns lieferte er allwöchentlich bei seiner Frau ab, bis er eines Tages gefeuert wurde, weil er gegen einen Reisenden gewalttätig geworden war, der auf dem Weg nach Stockholm war, um mit Tausenden anderer Bürger dem König seine Bereitschaft zur Landesverteidigung zu demonstrieren.

»Dann verteidige dich doch erst mal hiergegen«, sagte Allans Vater und beförderte den Mann mit einer rechten Geraden in den nächsten Graben.

Nach seiner fristlosen Kündigung konnte Allans Vater die Familie nicht mehr ernähren. Da es ihm gelungen war, sich einen Ruf als Gewalttäter und Verhütungsmittelbefürworter einzuhandeln, hatte es gar keinen Zweck mehr, dass er sich um eine andere Arbeit bewarb. Er konnte nur noch auf die Revolution warten oder diese beschleunigen, denn die Dinge entwickelten sich ja immer so schrecklich langsam. Allans Vater konnte sehr zielstrebig sein, wenn er wollte. Der schwedische Sozialismus brauchte ein internationales Vorbild. Erst dann würde die Sache ins Rollen kommen und Großhändler Gustavsson und seinesgleichen ins Schwitzen bringen.

Also packte Allans Vater seinen Koffer und fuhr nach Russland, um den Zaren zu stürzen. Allans Mutter fehlte natürlich der ausbleibende Eisenbahnerlohn, aber ansonsten war sie ganz glücklich damit, dass ihr Mann nicht nur die Gegend, sondern gleich das Land verlassen hatte.

Nachdem der Familienernährer emigriert war, mussten die Mutter und ihr knapp zehnjähriger Sohn allein für sich sorgen. Die Mutter ließ die vierzehn ausgewachsenen Birken rund um ihre Hütte fällen, um sie anschließend zu zersägen und zu spalten und als Feuerholz zu verkaufen. Allan ergatterte eine unterbezahlte Stelle als Laufbursche in der Produktionsstätte der Nitroglycerinfabrik bei Flen.

Den regelmäßig eintreffenden Briefen aus St. Petersburg (das wenig später in Petrograd umbenannt wurde) konnte Allans Mutter mit steigender Verwunderung entnehmen, dass Allans Vater nach einer Weile doch nicht mehr so überzeugt von den Segnungen des Sozialismus schien.

In seinen Briefen erzählte er nicht selten von politisch aktiven Freunden und Bekannten in Petrograd. Am öftesten nannte er einen Mann namens Carl. Kein sonderlich russisch klingender Name, wie Allan fand, und er wurde auch dadurch nicht russischer, dass Allans Vater ihn stattdessen Fabbe nannte, zumindest in seinen Briefen.

Wie Allans Vater berichtete, vertrat Fabbe die These, dass die Menschheit im Allgemeinen nicht wusste, was das Beste für sie war, und daher jemanden brauchte, der sie bei der Hand nahm. Daher sei die Autokratie der Demokratie überlegen, solange die gebildete, verantwortungsbewusste Gesellschaftsschicht einer Nation darauf achtete, dass der betreffende Autokrat sich gut benahm. Man müsse sich doch nur mal vor Augen halten, dass sieben von zehn Bolschewiken nicht mal lesen können, hatte Fabbe verächtlich geschnaubt. Wir können die Macht doch nicht diesen Analphabeten überlassen, oder?

In den Briefen an seine Lieben in Yxhult hatte Allans Vater in diesem Punkt allerdings die Bolschewiken in Schutz genommen, denn die Familie sollte mal sehen, wie dieses russische Alphabet aussah – kein Wunder, dass die Leute da nicht lesen lernten!

Da war es schon schlimmer, wie die Bolschewiken sich benahmen. Schmutzig waren sie, und sie soffen Wodka wie die Streckenarbeiter zu Hause, die in Sörmland die Eisenbahnschienen legten. Allans Vater hatte sich schon immer gewundert, wie die Gleise so gerade werden konnten, wenn man bedachte, was für einen Schnapskonsum diese Arbeiter so hatten – er hatte immer einen gewissen Argwohn gehegt, wenn eine schwedische Schiene eine Kurve machte.

Bei den Bolschewiken war es mindestens genauso schlimm. Fabbe behauptete, der Sozialismus werde darauf hinauslaufen, dass sich alle gegenseitig totschlagen wollten, bis nur noch einer übrig war, der die Regeln diktierte. Da war es doch besser, sich von vornherein auf jemanden wie Zar Nikolaj zu besinnen, immerhin ein guter, gebildeter Mann mit gewissen Visionen.

Fabbe wusste durchaus, wovon er redete, denn er hatte den Zaren tatsächlich getroffen, sogar mehr als einmal. Er behauptete, dass Nikolaj II. von Grund auf gutherzig war. Der Mann habe nur eine Menge Pech gehabt in seinem Leben, aber das konnte ja nicht ewig anhalten. Die Missernten und Bolschewikenaufstände waren schuld. Und dann muckten auch noch die Deutschen auf, weil der Zar die Truppen mobilgemacht hatte. Dabei hatte er doch nur den Frieden wahren wollen. Schließlich hatte nicht der Zar den Erzherzog und seine Frau in Sarajevo erschossen. Oder?

So argumentierte Fabbe, wer auch immer er nun sein mochte, und irgendwie überzeugte er auch Allans Vater von seinen Argumenten. Außerdem hatte der Vater Mitleid mit dem vom Pech verfolgten Zaren, er konnte es ihm so gut nachfühlen. Früher oder später musste sich das Blatt ja wenden, sowohl für russische Zaren als auch für ganz normale, ehrbare Leute aus der Gegend um Flen.

Geld schickte der Vater nie aus Russland, aber nach ein paar Jahren kam einmal ein Paket mit einem Osterei aus Emaille, das der Vater beim Kartenspiel von seinem russischen Freund gewonnen hatte. Denn abgesehen von Trinken, Diskutieren und Kartenspielen tat Fabbe nicht viel mehr, als solche Eier herzustellen.

Der Vater schenkte Fabbes Osterei seiner »lieben Frau«, die nur wütend wurde und meinte, der verdammte Dummkopf hätte wenigstens ein richtiges Ei schicken können, damit die Familie sich satt essen konnte. Sie war schon drauf und dran, das Ei zum Fenster hinauszuwerfen, bevor sie sich eines Besseren besann. Großhändler Gustavsson könnte ja vielleicht etwas dafür hinblättern, der wollte doch immer etwas Besonderes sein, fand sie, und besonders selten war dieses Ei ja auch.

Man stelle sich die Verwunderung von Allans Mutter vor, als Großhändler Gustavsson ihr nach zweitägigem Überlegen achtzehn Kronen für Fabbes Ei bot. Und die bekam sie auch nicht in bar, sie wurden ihr nur von ihren Schulden abgezogen. Aber immerhin etwas.

Danach hoffte die Mutter auf weitere Eier, aber stattdessen erfuhr sie in dem folgenden Brief, dass die Generäle des Zaren ihren Autokraten verraten hatten und er abdanken musste. In seinem Brief verfluchte Allans Vater seinen Eier produzierenden Freund, der prompt in die Schweiz geflohen war. Er selbst wollte selbstverständlich bleiben und gegen diesen Emporkömmling und Clown kämpfen, der jetzt an die Macht gekommen war, ein Mann namens Lenin.

Für Allans Vater nahm das Ganze überdies eine persönliche Dimension an, da Lenin jegliches Privateigentum verboten hatte – genau einen Tag nachdem Allans Vater zwölf Quadratmeter erworben hatte, auf denen er schwedische Erdbeeren anbauen wollte. »Der Boden hat zwar nur vier Rubel gekostet, aber mein Erdbeerfeld verstaatlicht man mir nicht ungestraft!«, schrieb Allans Vater in seinem allerletzten Brief in die Heimat. Und er schloss mit den Worten: »Jetzt ist Krieg!«

Ja, Krieg war zweifellos. So gut wie überall auf der Welt, und das schon seit ein paar Jahren. Er war ausgebrochen, kurz nachdem der kleine Allan seine Stelle als Laufbursche bei der Nitroglycerinfabrik bekommen hatte. Während der Junge die Dynamitkartons auf die Wägen lud, lauschte er den Kommentaren der Arbeiter zum Weltgeschehen. Er fragte sich immer, woher sie das alles wussten, aber vor allem wunderte er sich, wie viel Elend erwachsene Männer so anrichten konnten. Österreich erklärte Serbien den Krieg. Deutschland erklärte Russland den Krieg. Dann nahm Deutschland innerhalb eines Nachmittags Luxemburg ein, um anschließend Frankreich den Krieg zu erklären. Daraufhin erklärte Großbritannien Deutschland den Krieg, und die Deutschen reagierten, indem sie Belgien den Krieg erklärten. Da erklärte Österreich Russland den Krieg und Serbien Deutschland.

So ging es seitdem ununterbrochen. Die Japaner mischten sich auch noch ein, und die Amerikaner ebenfalls. Die Briten nahmen aus irgendeinem Grund Bagdad ein und dann Jerusalem. Die Griechen und die Bulgaren begannen sich ebenfalls zu bekriegen, und dann musste der russische Zar abdanken, während die Araber Damaskus eroberten …

»Jetzt ist Krieg«, hatte der Vater geschrieben. Wenig später ließ einer von Lenins Handlangern Zar Nikolaj und seine ganze Familie hinrichten. Allan stellte fest, dass das Pech des Zaren wohl doch angehalten hatte.

Noch ein paar Wochen später schickte die schwedische Botschaft in Petrograd ein Telegramm nach Yxhult und teilte mit, dass Allans Vater tot war. Eigentlich war es nicht Sache des zuständigen Beamten, die Angelegenheit weiter auszuführen, aber vielleicht konnte er es sich einfach nicht verkneifen.

Nach seinen Angaben hatte Allans Vater ein Grundstück von zehn bis fünfzehn Quadratmetern eingezäunt und es zur unabhängigen Republik erklärt. Er hatte seinen Staat »Das richtige Russland« getauft und war bei dem Handgemenge gestorben, das entstand, als zwei Regierungssoldaten seinen Zaun einreißen wollten. Allans Vater hatte die Grenzen seines Landes mit bloßen Fäusten verteidigt und wollte partout nicht mit sich reden lassen. Schließlich wusste man sich keinen anderen Rat, als ihm eine Kugel zwischen die Augen zu verpassen, damit man den Abrissauftrag ausführen konnte.

»Hättest du dir nicht eine etwas weniger dämliche Todesart aussuchen können?«, meinte Allans Mutter zu diesem Botschaftstelegramm.

Sie hatte nie damit gerechnet, dass ihr Mann noch einmal heimkehren würde, aber in letzter Zeit hatte sie doch wieder darauf gehofft, weil sie es mit der Lunge hatte und nicht mehr den rechten Schwung zum Holzhacken aufbrachte. Doch nun stieß sie nur einen rasselnden Seufzer aus, und damit war das Kapitel Trauer für sie erledigt. Sie teilte Allan mit, dass die Dinge nun einmal waren, wie sie waren, und dass es eben immer so kommt, wie es kommt. Dann zerzauste sie ihrem Sohn zärtlich das Haar, bevor sie hinausging, um weiter Holz zu hacken.

Allan verstand nicht so recht, was die Mutter damit gemeint hatte. Aber er begriff, dass sein Vater tot war, seine Mutter Blut spuckte und der Krieg vorbei war. Mit seinen dreizehn Jahren wusste er schon sehr gut, wie man es knallen lassen konnte, indem man Nitroglycerin, Zellulosenitrat, Ammoniumnitrat, Natriumnitrat, Sägemehl, Dinitrobenzol und noch ein paar andere Zutaten zusammenmischte. Das konnte einem eines Tages sicher von Nutzen sein, dachte Allan und ging hinaus, um der Mutter mit dem Holzhacken zu helfen.

* * * *

Zwei Jahre später hatte Allans Mutter ausgehustet und kam ebenfalls in den eventuellen Himmel, in dem der Vater schon angekommen war. Auf der Schwelle ihrer Hütte stand jetzt ein mürrischer Großhändler und meinte, sie hätte zumindest noch ihre neuerlich aufgelaufenen Schulden in Höhe von 8,40 Kronen bezahlen können, bevor sie einfach unangekündigt starb. Allan hatte jedoch nicht vor, Gustavsson mehr als nötig zu mästen.

»Das muss der Herr Großhändler schon selbst mit meiner Mutter ausmachen. Möchten Sie sich vielleicht einen Spaten leihen?«

Der Großhändler war zwar Großhändler, aber körperlich eher klein geraten im Unterschied zum fünfzehnjährigen Allan. Der Junge war schon fast ein Mann, und wenn er nur halb so verrückt war wie sein Vater, konnte er auf alle möglichen dummen Gedanken kommen, dachte sich Großhändler Gustavsson. Weil er aber lieber noch eine Weile am Leben bleiben und sein Geld zählen wollte, wurden die Schulden nie wieder erwähnt.

Wie die Mutter mehrere hundert Kronen Erspartes zusammengescharrt hatte, war dem jungen Allan schier unbegreiflich. Doch das Geld war da, und es reichte für die Beerdigung der Mutter sowie als Startkapital für die Firma Dynamit-Karlsson. Bei ihrem Tod war der Junge zwar erst fünfzehn, aber in der Nitroglycerinfabrik hatte er alles Nötige gelernt.

Außerdem experimentierte er fleißig in der Kiesgrube hinter der Hütte – bei einer Gelegenheit gleich so fleißig, dass die zwei Kilometer entfernt grasende Kuh seines Nachbarn eine Fehlgeburt erlitt. Aber davon erfuhr Allan nie etwas, denn genau wie Großhändler Gustavsson hatte der Nachbar ein bisschen Angst vor dem womöglich genauso verrückten Sohn des verrückten Karlsson.

Sein Interesse für die Geschehnisse in Schweden und in der Welt hatte sich Allan aus seinen Tagen als Laufbursche bewahrt. Mindestens einmal pro Woche radelte er zur Bibliothek in Flen, um sich auf den neuesten Stand zu bringen. Dort lernte er diskussionsfreudige junge Männer kennen, die Allan zu gern in ihre politischen Bewegungen gelockt hätten. Doch so sehr sich Allan für alles interessierte, was auf der Welt passierte, so wenig interessierte er sich dafür, selbst mitzumachen und Einfluss zu nehmen.

Seine Kindheit war ja in höchstem Maße politisch geprägt gewesen. Einerseits stammte er aus der Arbeiterklasse – anders kann man es wohl kaum nennen, wenn einer als Neunjähriger von der Schule abgeht, um eine Arbeit in der Fabrik anzunehmen. Andererseits respektierte er die Erinnerung an seinen Vater, und der hatte während seines allzu kurzen Lebens ja alles Mögliche geglaubt: Nachdem er sich zunächst an der Linken orientiert hatte, hatte er anschließend Zar Nikolaj verehrt, um zu guter Letzt sein Leben im Streit mit Vladimir Iljitsch Lenin zu lassen.

Die Mutter hingegen hatte zwischen ihren Hustenanfällen alle verflucht, die ihr einfielen – vom König bis zu den Bolschewiken, und dazu noch Ministerpräsident Hjalmar Branting, Großhändler Gustavsson und nicht zuletzt Allans Vater.

Allan selbst war alles andere als ein Dummkopf. Er war zwar nur drei Jahre zur Schule gegangen, aber das reichte ja vollauf, um Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen. Die politisch bewussten Arbeitskollegen in der Nitroglycerinfabrik hatten in ihm außerdem die Neugierde auf die Welt geweckt.

Was die Lebensphilosophie des jungen Allan jedoch auf immer prägte, waren die Worte, die seine Mutter gesagt hatte, als sie die Nachricht vom Tod ihres Mannes bekam. Es dauerte zwar eine Weile, bis sie ganz in das Bewusstsein des jungen Mannes eingesickert waren, aber dann stand dieser Satz dort für alle Zeiten:

Es ist, wie es ist, und es kommt, wie es kommt.

Dazu gehörte unter anderem auch, dass man kein großes Trara machte, zumindest nicht, wenn man Grund dazu hatte. Wie zum Beispiel, als die Nachricht vom Tod des Vaters die Hütte in Yxhult erreichte. Ganz im Sinne der Familientradition reagierte Allan, indem er Feuerholz hacken ging, wenn auch sehr lange und sehr schweigsam. Oder als die Mutter denselben Weg ging und zum Leichenwagen getragen wurde, der vor dem Haus wartete. Da stand Allan in der Küche und verfolgte das Schauspiel durchs Fenster. Ganz leise, sodass nur er es hören konnte, sagte er:

»Auf Wiedersehen, Mutter.«

Damit war dieses Kapitel in seinem Leben abgeschlossen.

* * * *

Allan schuftete für seine Dynamitfirma und baute sich in den frühen Zwanzigern einen beträchtlichen Kundenstamm in ganz Sörmland auf. Am Samstagabend, wenn seine Altersgenossen zum Tanz gingen, blieb Allan zu Hause sitzen und bastelte an neuen Formeln, um die Qualität seines Dynamits zu verbessern. Und am Sonntag ging er zu seiner Kiesgrube und führte neue Probesprengungen durch. Allerdings nicht zwischen elf und ein Uhr – das hatte er dem Pfarrer in Yxhult schließlich versprechen müssen, damit der nicht so viel darüber lamentierte, dass Allan dem Gottesdienst fernblieb.

Er fühlte sich allein recht wohl, und das war auch gut so, denn er lebte ziemlich einsam. Da er sich nicht der Arbeiterbewegung anschloss, verachtete man ihn in sozialistischen Kreisen, doch er war zu sehr Arbeiter und Sohn seines Vaters, als dass man ihn in irgendwelchen bürgerlichen Salons empfangen hätte. In denen saß außerdem Großhändler Gustavsson, und der wollte auf keinen Fall Umgang mit der Karlsson-Rotznase pflegen. Nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn der Kerl am Ende noch aufschnappte, was für einen Preis Gustavsson für dieses Ei erzielt hatte, das er Allans Mutter zu einem Spottpreis abgenommen und an einen Diplomaten in Stockholm weiterverkauft hatte. Dank diesem Geschäft war Gustavsson jetzt der dritte stolze Automobilbesitzer der Gegend.

Da hatte er damals wirklich Glück gehabt. Aber das Glück lachte Großhändler Gustavsson nicht so lange, wie er es sich gewünscht hätte. Eines Sonntags im August 1925 machte er sich nach dem Gottesdienst mit seinem Auto zu einem Ausflug auf, in erster Linie, um sich in seinem Gefährt zu zeigen. Dummerweise schlug er den Weg ein, der bei Allan Karlsson in Yxhult vorbeiführte. In der Kurve bei Allans Hütte musste Gustavsson nervös geworden sein (falls nicht sogar Gott oder die Vorsehung irgendwie eingriffen), jedenfalls bockte die Schaltung, und Gustavsson fuhr mitsamt seinem Automobil geradewegs in die Kiesgrube hinter der kleinen Hütte, statt rechts daran vorbeizusteuern. Schlimm genug, wenn Gustavsson sich einfach nur auf Allans Grund und Boden begeben und eine Erklärung hätte abgeben müssen, aber es sollte noch viel schlimmer kommen: Gerade als Gustavsson sein hochglanzpoliertes Automobil zum Stehen gebracht hatte, führte Allan nämlich die erste Probesprengung an diesem Sonntag durch.

Der junge Karlsson war hinter dem Plumpsklo in Deckung gegangen und sah und hörte nichts. Dass irgendwas schiefgegangen sein musste, wurde ihm erst klar, als er zur Kiesgrube zurückkehrte, um das Ergebnis der Sprengung in Augenschein zu nehmen. Da lag das Automobil des Großhändlers über die halbe Grube verteilt, und hier und da auch Teile des Großhändlers selbst.

Der Kopf des Großhändlers war kurz vor dem Wohnhaus ganz weich auf einem kleinen Rasenstückchen gelandet. Dort lag er nun und richtete seinen leeren Blick auf das Bild der Verwüstung.

»Was hatten Sie in meiner Kiesgrube zu suchen?«, fragte Allan.

Der Großhändler antwortete nicht.

* * * *

In den nächsten vier Jahren hatte Allan genug Zeit, um zu lesen und sich ausführlich in die gesellschaftlichen Entwicklungen einzuarbeiten. Er wurde umgehend eingesperrt, obwohl man gar nicht so leicht hätte sagen können, wofür eigentlich. Irgendwie hatte Allans Vater damit zu tun, der alte Umstürzler. Da beschloss ein junger und hungriger Lehrjunge des Rassenbiologen Professor Bernhard Lundborg in Uppsala, auf Allan seine Karriere aufzubauen. Nach einigem Hin und Her landete Allan in Lundborgs Klauen und wurde kurzerhand zwangssterilisiert aufgrund »eugenischer und sozialer Indikation«, was bedeutete, dass Allan wohl ein wenig zurückgeblieben war und dass jedenfalls noch genug von seinem Vater in ihm steckte, dass der Staat ein Recht hatte, jede weitere Fortpflanzung der Familie Karlsson zu unterbinden.

Die Sterilisierung an sich störte Allan nicht so sehr, er fand sogar, dass er in Professor Lundborgs Klinik sehr freundlich aufgenommen worden war. Dort musste er ab und zu Fragen zu allen möglichen Themen beantworten, unter anderem, warum er Dinge und Menschen in die Luft sprengte und ob seines Wissens Negerblut in seinen Adern floss. Darauf erwiderte Allan, dass es ihm zwar Freude bereite, eine Ladung Dynamit hochzujagen, dass er aber schon einen gewissen Unterschied zwischen Dingen und Menschen sehe. Einen Stein zu spalten, der einem im Weg stand, könne sich ganz gut anfühlen. Wenn einem aber statt eines Steins ein Mensch im Weg stehe, reiche es nach Allans Erachten, den Betreffenden zu bitten, ein Stück zur Seite zu gehen. Ob Professor Lundborg nicht derselben Meinung sei?

Doch Bernhard Lundborg gehörte nicht zu den Ärzten, die sich mit ihren Patienten auf philosophische Diskussionen einließen. Stattdessen wiederholte er die Frage nach dem Negerblut. Allan antwortete, das könne man nicht wissen, aber seine Eltern seien ebenso weißhäutig gewesen wie er, und ob diese Antwort für den Herrn Professor nicht ausreichend sei? Er fügte hinzu, dass er unheimlich gern mal einen richtigen Neger sehen würde, ob der Herr Professor wohl zufällig gerade einen auf Lager habe?

Professor Lundborg und seine Assistenten beantworteten Allans Gegenfragen nicht, sondern machten sich Notizen und brummten etwas in sich hinein, und dann ließen sie ihn wieder in Frieden, manchmal sogar tagelang. Diese Tage verbrachte Allan dann mit unterschiedlichster Lektüre. Zum einen las er natürlich die Tageszeitungen, zum andern aber auch Literatur aus der bemerkenswert umfangreichen Krankenhausbibliothek. Dazu kamen noch drei Mahlzeiten täglich, eine Toilette im Haus und ein eigenes Zimmer – Allan fühlte sich wohl in seiner Zwangsbetreuung. Nur einmal wurde die Stimmung getrübt, als Allan nämlich den Professor neugierig fragte, was denn eigentlich so schlimm daran sei, wenn einer Neger oder Jude war. Da antwortete der Professor ausnahmsweise nicht mit Schweigen, sondern brüllte, dass Herr Karlsson sich gefälligst um seinen eigenen Kram kümmern und sich nicht in die Angelegenheiten anderer Leute mischen solle. Die Situation erinnerte Allan ein wenig an die, in der ihm seine Mutter damals mit einer Ohrfeige gedroht hatte.

Die Jahre gingen ins Land, und die Befragungen wurden immer seltener. Dann gab der Reichstag eine Untersuchung zur Sterilisierung »biologisch minderwertiger Personen« in Auftrag, und als der Bericht veröffentlicht wurde, verschaffte er Professor Lundborgs Tätigkeit einen solchen Aufschwung, dass Allans Bett von anderen benötigt wurde. Im Frühsommer 1929 wurde Allan also für rehabilitiert erklärt und auf die Straße gesetzt. Man drückte ihm ein Taschengeld in die Hand, das mit knapper Not für den Zug nach Flen reichte. Die letzten zehn Kilometer nach Yxhult musste er zu Fuß gehen, aber das machte Allan nichts aus. Nach vier Jahren hinter Schloss und Riegel musste er sich auch mal wieder die Beine vertreten.

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