8. Im Gelichterland

Hoch durch die Lüfte ritt Atréju dahin. Sein roter Mantel wehte in mächtigen Schwüngen hinter ihm drein. Der Schöpf aus blauschwarzen Haaren, der mit Lederschnüren aufgebunden war, flatterte im Wind. Fuchur, der weiße Glücksdrache, glitt in langsamen, gleichmäßigen Wellenbewegungen durch die Nebel und Wolkenfetzen des Himmels.

Auf und ab und auf und ab und auf und ab…

Wie lang waren sie nun schon so unterwegs? Tage und Nächte und wieder Tage - Atréju wußte nicht mehr wie lange. Der Drache konnte auch im Schlaf fliegen, weiter, immer weiter, und Atréju nickte bisweilen ein, festgeklammert in die weiße Mähne des Drachen. Aber es war nur ein leichter und unruhiger Schlaf. Und deshalb wurde auch sein Wachen nach und nach zu einem Traum, in dem nichts mehr deutlich war.

Unten in der Tiefe zogen schattenhaft Gebirge vorüber, Länder und Meere, Inseln und Flüsse… Atréju gab nicht mehr acht darauf und trieb auch sein Reittier nicht an, wie er es in der ersten Zeit getan hatte, als sie vom Südlichen Orakel aufgebrochen waren. Anfangs war er noch ungeduldig gewesen, denn er hatte geglaubt, auf dem Rücken eines Glücksdrachen könne es nicht allzu schwierig sein, Phantásiens Grenze zu erreichen - und hinter der Grenze das Äußere Reich, wo die Menschenkinder wohnen.

Er hatte nicht gewußt, wie groß Phantásien war.

Nun kämpfte er gegen die steinerne Müdigkeit an, die ihn bezwingen wollte. Seine dunklen Augen, sonst scharf wie die eines jungen Adlers, nahmen keine Ferne mehr wahr. Ab und zu raffte er seinen ganzen Willen zusammen, richtete sich im Sitzen hoch auf und spähte umher, aber schon bald sank er wieder in sich zusammen und starrte nur noch vor sich hin auf den langen, geschmeidigen Drachenleib, dessen perlmutterfarbene Schuppen rosig und weiß glitzerten. Auch Fuchur war erschöpft. Selbst seine Kräfte, die unermeßlich geschienen hatten, gingen nun nach und nach zu Ende.

Mehr als einmal hatten sie bei diesem langen Flug jene Stellen unter sich in der Landschaft gesehen, wo das Nichts sich ausbreitete, und auf die man nicht hinsehen konnte, ohne das Gefühl zu haben, erblindet zu sein. Viele dieser Stellen schienen aus solcher Höhe gesehen noch verhältnismäßig klein, aber es gab auch schon andere, die groß waren wie ganze Länder und sich über den weiten Horizont erstreckten. Schrecken hatte den Glücksdrachen und seinen Reiter erfaßt, und sie waren ausgewichen und in anderer Richtung weitergeflogen, um das Entsetzliche nicht anschauen zu müssen. Aber es ist eine seltsame Tatsache, daß das Entsetzliche seine Schrecken verliert, wenn es sich immer wiederholt. Und da die Stellen der Vernichtung nicht weniger wurden, sondern mehr und mehr, hatten sich Fuchur und Atréju nach und nach daran gewöhnt - oder vielmehr, es war eine Art Gleichgültigkeit über sie gekommen. Sie achteten kaum noch darauf.

Sie hatten schon seit langer Zeit nicht mehr miteinander gesprochen, als Fuchur plötzlich seine bronzene Stimme vernehmen ließ:

»Atréju, mein kleiner Herr, schläfst du?«

»Nein«, sagte Atréju, obwohl er tatsächlich in einem bangen Traum befangen gewesen war,»was gibt es, Fuchur?«

»Ich frage mich, ob es nicht klüger wäre, umzukehren.«

»Umzukehren? Wohin?«

»Zum Elfenbeinturm. Zur Kindlichen Kaiserin.«

»Du meinst, wir sollen unverrichteter Dinge zu ihr kommen?«

»Nun, so würde ich es nicht nennen, Atréju. Wie lautete denn dein Auftrag?«

»Ich sollte erforschen, was die Ursache der Krankheit ist, an der die Kindliche Kaiserin dahinsiecht, und welches Heilmittel es dagegen gibt.«

»Aber es war nicht dein Auftrag«, versetzte Fuchur,»dieses Heilmittel selbst zu bringen.«

»Wie meinst du das?«

»Vielleicht begehen wir einen großen Fehler, indem wir versuchen, Phantásiens Grenze zu überschreiten, um ein Menschenkind zu suchen.«

»Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst, Fuchur. Erkläre mir das genauer.«

»Die Kindliche Kaiserin ist todkrank«, sagte der Drache,»weil sie einen neuen Namen braucht. Das hat dir die Uralte Morla verraten. Aber diesen Namen geben, das können nur die Menschenkinder aus der Äußeren Welt. Das hat dir die Uyulála offenbart. Damit hast du deinen Auftrag erfüllt, und mir scheint, du solltest dies alles bald der Kindlichen Kaiserin berichten.«

»Aber was hilft es ihr«, rief Atréju,»wenn ich ihr all das nur mitteile und nicht gleichzeitig ein Menschenkind mitbringe, das sie retten kann?«

»Das kannst du nicht wissen«, antwortete Fuchur.»Sie vermag sehr viel mehr als du und ich. Vielleicht wäre es ihr ein leichtes, ein Menschenkind zu sich zu rufen. Vielleicht hat sie Mittel und Wege, die dir und mir und allen Wesen Phantásiens unbekannt sind. Aber dazu müßte sie eben wissen, was du nun weißt. Nimm einmal an, es wäre so. Dann wäre es nicht nur ganz unsinnig, daß wir auf eigene Faust versuchen, ein Menschenkind zu finden und zu ihr zu bringen, es wäre sogar möglich, daß sie inzwischen stirbt, während wir noch immer suchen, und wir hätten sie retten können, wenn wir nur rechtzeitig umgekehrt wären.«

Atréju schwieg. Was der Drache da gesagt hatte, war ohne Zweifel richtig. Es konnte so sein. Es konnte auch ganz anders sein. Es war durchaus möglich, daß sie ihm, wenn er jetzt mit seiner Botschaft heimkehrte, sagen würde: Was hilft mir das alles? Hättest du mir den Retter mitgebracht, so wäre ich gesund geworden. Aber nun ist es für mich zu spät, dich noch einmal auszuschicken.

Er wußte nicht, was er tun sollte. Und er war müde, viel zu müde, um irgendeinen Entschluß zu fassen.

»Weißt du, Fuchur«, sagte er leise, aber der Drache hörte ihn gut,»du hast vielleicht recht, aber vielleicht auch nicht. Laß uns noch ein kleines Stück weiterfliegen. Wenn wir dann noch immer an keiner Grenze sind, dann kehren wir um.«

»Was nennst du ein kleines Stück?« fragte der Drache.

»Ein paar Stunden -«, murmelte Atréju,»ach was, eine Stunde noch.«

»Gut«, antwortete Fuchur,»noch eine Stunde also.«

Aber diese eine Stunde war eine Stunde zuviel.

Die beiden hatten nicht darauf geachtet, daß der Himmel im Norden schwarz geworden war von Wolken. Im Westen, wo die Sonne stand, war er glühend, und unheilverkündende Streifen hingen wie blutiger Seetang auf den Horizont nieder. Im Osten schob sich, wie eine Decke aus grauem Blei, ein Gewitter herauf, vor der zerfaserte Wolkenfetzen standen wie blau ausgelaufene Tinte. Und aus dem Süden zog schwefelgelber Dunst daher, in dem es von Blitzen zuckte und funkelte.

»Es scheint«, meinte Fuchur,»wir werden in schlechtes Wetter kommen.«

Atréju schaute sich nach allen Seiten um.

»Ja«, sagte er,»es sieht bedenklich aus. Aber wir müssen trotzdem weiterfliegen.«

»Vernünftiger wäre es«, gab Fuchur zurück,»wir suchen uns einen Unterschlupf. Wenn es das ist, was ich vermute, dann ist die Sache kein Spaß.«

»Und was vermutest du?« fragte Atréju.

»Daß es die vier Windriesen sind, die wieder einmal einen ihrer Kämpfe austragen wollen«, erklärte Fuchur.»Sie liegen fast immer im Streit miteinander, wer von ihnen der stärkste ist und über die anderen herrschen soll. Für sie ist es eine Art Spiel, denn ihnen selbst geschieht dabei nichts. Aber wehe dem, der in ihre Auseinandersetzung hineingerät. Von dem bleibt meistens nicht viel übrig.«

»Kannst du nicht höher hinauffliegen?« fragte Atréju.

»Außerhalb ihrer Reichweite, meinst du? Nein, so hoch kann ich nicht kommen. Und unter uns ist, so weit ich sehen kann, nur Wasser, irgendein riesiges Meer. Ich sehe nichts, wo wir uns verstecken könnten.«

»Dann bleibt uns nichts übrig«, entschied Atréju,»als sie zu erwarten. Ich möchte sie sowieso etwas fragen.«

»Was willst du?« rief der Drache und machte vor Schreck einen Sprung in der Luft.

»Wenn sie die vier Windriesen sind«, erklärte Atréju,»dann kennen sie alle Himmelsrichtungen Phantásiens. Niemand wird uns besser sagen können als sie, wo die Grenzen sind.«

»Heiliger Himmel!« schrie der Drache,»du glaubst, man kann ganz gemütlich mit ihnen plaudern?«

»Wie lauten ihre Namen?« wollte Atréju wissen.

»Der aus dem Norden heißt Lirr, der aus dem Osten Baureo, der aus dem Süden Schirk und der aus dem Westen Mayestril«, antwortete Fuchur.»Aber du, Atréju, was bist du eigentlich? Bist du ein kleiner Junge oder bist du ein Stück Eisen, daß du keine Furcht kennst?«

»Als ich durch das Tor der Sphinxe ging«, antwortete Atréju,»habe ich alle Angst verloren. Außerdem trage ich das Zeichen der Kindlichen Kaiserin. Alle Geschöpfe Phantásiens respektieren es. Warum sollten die Windriesen es nicht tun?«

»Oh, sie werden es tun!« rief Fuchur,»aber sie sind dumm, und du kannst sie nicht abhalten, miteinander zu kämpfen. Du wirst sehen, was das heißt!«

Inzwischen hatten sich die Gewitterwolken von allen Seiten so weit zusammengezogen, daß Atréju rings um sich her etwas erblickte, das einem Trichter von ungeheuerlichen Ausmaßen, einem Vulkankrater glich, dessen Wände sich immer schneller zu drehen begannen, so daß sich das schwefelige Gelb, das bleierne Grau, das blutige Rot und das tiefe Schwarz durcheinander mengten. Und er selbst wurde auf seinem weißen Drachen ebenfalls im Kreis herumgewirbelt, wie ein Streichhölzchen in einem gewaltigen Strudel. Und nun erblickte er die Sturmriesen.

Sie bestanden eigentlich nur aus Gesichtern, denn ihre Gliedmaßen waren so veränderlich und so viele - bald lang, bald kurz, bald Hunderte, bald gar keine, bald deutlich und bald nebelhaft - und sie waren außerdem so in einem ungeheuerlichen Reigentanz oder Ringkampf ineinander verknäult, daß es ganz unmöglich war, ihre eigentliche Gestalt zu erkennen. Auch die Gesichter veränderten sich ständig, wurden dick und aufgeblasen, dann wieder auseinandergezogen, in die Höhe oder in die Breite, aber es blieben doch immer Gesichter, die man von einander unterscheiden konnte. Sie rissen die Münder auf und schrien und brüllten und heulten und lachten einander zu. Den Drachen und seinen Reiter schienen sie nicht einmal wahrzunehmen, denn im Vergleich zu ihnen war er winzig wie eine Mücke.

Atréju richtete sich hoch auf. Er faßte mit der rechten Hand nach dem goldenen Amulett auf seiner Brust und rief, so laut er konnte:

»Im Namen der Kindlichen Kaiserin, schweigt und hört mich an!«

Und das Unglaubliche geschah!

Als seien sie mit plötzlicher Stummheit geschlagen, schwiegen sie. Ihre Münder klappten zu, und acht glotzende Riesenaugen waren auf AURYN gerichtet. Auch der Wirbel blieb stehen. Es war plötzlich totenstill.

»Gebt mir Antwort!« rief Atréju.»Wo sind die Grenzen Phantásiens? Weißt du es, Lirr?«

»Im Norden nicht«, antwortete das schwarze Wolkengesicht.

»Und du, Baureo?«

»Auch im Osten nicht«, erwiderte das bleigraue Wolkengesicht.

»Rede du, Schirk!«

»Im Süden gibt es keine Grenze«, sagte das schwefelgelbe Wolkengesicht.

»Mayestril, weißt du es?«

»Keine Grenze im Westen«, entgegnete das feuerrote Wolkengesicht.

Und dann sagten alle vier wie aus einem Mund:

»Wer bist denn du, der du das Zeichen der Kindlichen Kaiserin trägst, und nicht weißt, daß Phantásien grenzenlos ist?«

Atréju schwieg. Er fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Daran hatte er wahrhaftig nicht gedacht, daß es überhaupt keine Grenzen gab. Dann war alles vergebens gewesen.

Er fühlte kaum, daß die Windriesen ihr Kampf spiel wieder begannen. Es war ihm auch gleichgültig, was nun weiter geschehen würde. Er klammerte sich in der Mähne des Drachen fest, als dieser plötzlich von einem Wirbel in die Höhe geschleudert wurde. Von Blitzen umlodert rasten sie im Kreise herum, dann ertranken sie fast in waagrecht sausenden Regengüssen. Plötzlich wurden sie in einen Gluthauch hineingerissen, in welchem sie fast verbrannten, doch schon gerieten sie in einen Hagel, der nicht aus Körnern, sondern aus Eiszapfen, so lang wie Speere, bestand, und sie in die Tiefe schlug. Und wieder wurden sie aufwärts gesaugt und herumgeworfen und dahin und dorthin geschleudert - die Windriesen kämpften miteinander um die Vorherrschaft.

»Halt dich fest!« schrie Fuchur, als ein Windstoß ihn auf den Rücken warf.

Aber es war schon zu spät. Atréju hatte den Halt verloren und stürzte in die Tiefe. Er stürzte und stürzte, und dann wußte er nichts mehr.

Als er wieder zu Bewußtsein kam, lag er im weichen Sand. Er hörte Wellenrauschen, und als er den Kopf hob, sah er, daß er an einen Meeresstrand gespült worden war. Es war ein grauer, nebliger Tag, aber windstill. Das Meer war ruhig, und nichts deutete darauf hin, daß hier noch vor kurzem ein Kampf der Windriesen getobt hatte. Oder war er vielleicht an einen ganz anderen, fernen Ort geraten? Der Strand war flach, nirgends waren Felsen oder Hügel zu sehen, nur ein paar verkrümmte und schiefe Bäume standen im Dunst wie große Krallenhände.

Atréju setzte sich auf. Ein paar Schritte entfernt sah er seinen roten Mantel aus Büffelhaar liegen. Er kroch hin und legte ihn sich um die Schultern. Zu seiner Verwunderung stellte er fest, daß der Mantel kaum noch feucht war. Also lag er wohl schon lange hier.

Wie kam er hierher? Und warum war er nicht ertrunken?

Irgendeine dunkle Erinnerung tauchte in ihm auf an Arme, die ihn getragen hatten, und seltsame singende Stimmen: Armer Bub, schöner Bub! Haltet ihn! Laßt ihn nicht untergehn!

Vielleicht war es auch nur das Rauschen der Wellen gewesen.

Oder waren es Meerjungfrauen und Wassermänner? Wahrscheinlich hatten sie das Pantakel gesehen und ihn deshalb gerettet.

Unwillkürlich griff seine Hand nach dem Amulett - es war nicht mehr da! Die Kette um seinen Hals war fort. Er hatte das Medaillon verloren.

»Fuchur!« schrie Atréju, so laut er konnte. Er sprang auf, lief hin und her und rief nach allen Seiten:»Fuchur! Fuchur! Wo bist du?«

Keine Antwort. Nur das gleichmäßige, langsame Rauschen der Wellen, die an den Strand spülten.

Wer weiß, wohin die Windriesen den weißen Drachen geblasen hatten! Vielleicht suchte Fuchur seinen kleinen Herrn irgendwo ganz anders, weit entfernt von hier. Vielleicht war er auch nicht mehr am Leben.

Nun war Atréju kein Drachenreiter mehr und kein Bote der Kindlichen Kaiserin - nur noch ein kleiner Junge. Und ganz allein.

Die Turmuhr schlug sechs.

Draußen war es jetzt schon dunkel. Der Regen hatte aufgehört. Es war ganz still. Bastian starrte in die Kerzenflammen.

Dann zuckte er zusammen, weil der Dielenboden knackte.

Es kam ihm so vor, als ob er jemand atmen hörte. Er hielt die Luft an und lauschte. Außer dem kleinen Lichtkreis, den die Kerzen verbreiteten, war der riesige Speicher jetzt von Finsternis erfüllt.

Tappten da nicht leise Schritte auf der Treppe? Hatte sich nicht eben die Klinke der Speichertür ganz langsam bewegt?

Wieder knackte der Dielenboden.

Wenn es auf diesem Speicher spukte…?

»Ach was«, sagte Bastian halblaut,»es gibt keine Gespenster. Das sagen alle.«

Aber warum gab es dann so viele Geschichten darüber?

Vielleicht hatten alle, die sagten, es gäbe keine Gespenster, bloß Angst davor, es zuzugeben.

Atréju wickelte sich fest in seinen roten Mantel, denn ihm war kalt, und machte sich auf den Weg landeinwärts. Die Landschaft, soweit er sie wegen des Nebels überhaupt sehen konnte, veränderte sich kaum. Sie war flach und gleichförmig, nur daß nach und nach zwischen denverkrümmten Bäumen immer mehr Buschwerk kam, Sträucher, die aussahen wie aus rostigem Blech und auch fast ebenso hart waren. Man konnte sich leicht an ihnen verletzen, wenn man nicht achtgab.

Etwa nach einer Stunde erreichte Atréju eine Straße, die mit buckeligen, unregelmäßig geformten Steinbrocken gepflastert war. Atréju beschloß der Straße zu folgen, die ja wohl irgendwo hinführen mußte, aber er fand es bequemer, neben der Straße her im Staub zu gehen, als über das holperige Pflaster. Sie verlief in Schlangenwindungen, krümmte sich nach links und nach rechts, ohne daß man einen Grund dafür erkennen konnte, denn auch hier gab es weder Hügel noch Fluß. In dieser Gegend schien alles krumm zu sein.

Atréju war noch nicht sehr lange so dahingewandert, als er aus der Ferne ein seltsames, stampfendes Geräusch vernahm, das näher kam. Es war wie das dumpfe Dröhnen einer großen Trommel, dazwischen hörte er schrilles Pfeifen wie von kleinen Flöten und Schellengeklingel. Er versteckte sich hinter einem Busch am Straßenrand und wartete ab.

Die eigenartige Musik kam langsam näher, und schließlich tauchten aus dem Nebel die ersten Gestalten auf. Offenbar tanzten sie, aber es war kein fröhlicher oder anmutiger Tanz, vielmehr sprangen sie mit höchst absonderlichen Bewegungen herum, wälzten sich auf dem Boden, krochen auf allen vieren, bäumten sich hoch und benahmen sich wie verrückt. Aber das einzige, was man dabei hörte, war der dumpfe, langsame Trommelschlag, die schrillen Pfeifchen, und ein Winseln und Keuchen aus vielen Kehlen.

Es wurden mehr und immer mehr, es war ein Zug, der kein Ende zu nehmen schien. Atréju erblickte die Gesichter der Tänzer, sie waren grau wie Asche und schweißüberströmt, aber ihrer aller Augen glühten in einem wilden, fieberhaften Glanz. Manche peitschten sich selbst mit Geißeln.

Sie sind wahnsinnig, dachte Atréju, und ein kalter Schauder lief ihm über den Rücken.

Übrigens konnte er feststellen, daß der größte Teil dieser Prozession aus Nachtalben, Kobolden und Gespenstern bestand. Auch Vampire und eine Menge Hexen waren darunter, alte mit großen Buckeln und Ziegenbärten am Kinn, aber auch junge, die schön und böse aussahen. Offensichtlich war Atréju hier in eines der Länder Phantásiens geraten, das von Geschöpfen der Finsternis bevölkert war. Hätte er AURYN noch gehabt, so wäre er ihnen ohne Zögern entgegengetreten, um sie zu fragen, was hier vorging. So aber zog er es vor, in seinem Versteck abzuwarten, bis die tolle Prozession vorübergezogen war und der letzte Nachzügler hinkend und hopsend im Nebel verschwand.

Erst dann wagte er sich wieder auf die Straße hinaus und blickte dem geisterhaften Zug nach. Sollte er ihm folgen oder nicht? Er konnte sich nicht entschließen. Eigentlich wußte er überhaupt nicht mehr, ob er jetzt noch irgend etwas tun sollte oder konnte.

Zum ersten Mal fühlte er deutlich, wie sehr ihm das Amulett der Kindlichen Kaiserin fehlte und wie hilflos er ohne es war. Nicht der Schutz, den es ihm gewährt hatte, war das Eigentliche - alle Mühen und Entbehrungen, alle Ängste und Einsamkeiten hatte er ja dennoch aus eigenen Kräften bestehen müssen - aber solange er das Zeichen getragen hatte, war er sich nie unsicher gewesen, was er tun mußte. Wie ein geheimnisvoller Kompaß hatte es seinen Willen, seine Entschlüsse in die rechte Richtung gelenkt. Aber jetzt war das anders, jetzt war keine geheime Kraft mehr da, die ihn führte.

Nur um nicht wie gelähmt stehen zu bleiben, befahl er sich selbst, dem Gespensterzug zu folgen, dessen dumpfer Trommelrhythmus noch immer aus der Ferne zu hören war.

Während er durch den Nebel huschte - immer darauf bedacht, gebührenden Abstand von den letzten Nachzüglern zu halten -, versuchte er, sich über seine Lage klar zu werden.

Warum nur, ach, warum hatte er nicht auf Fuchur gehört, als der ihm geraten hatte, sofort zur Kindlichen Kaiserin zu fliegen? Er hätte ihr die Botschaft der Uyulála überbracht und den»Glanz« zurückgegeben. Ohne AURYN und ohne Fuchur konnte er nicht mehr zur Kindlichen Kaiserin gelangen. Sie würde bis zum letzten Augenblick ihres Lebens auf ihn warten, hoffen, daß er käme, glauben, daß er ihr und Phantásien die Rettung brächte - aber vergebens!

Das war schon schlimm genug, schlimmer aber war, was er durch die Windriesen erfahren hatte: daß es keine Grenzen gab. Wenn es unmöglich war, aus Phantásien herauszukommen, dann war es auch unmöglich, ein Menschenkind von jenseits der Grenzen zu Hilfe zu rufen. Gerade weil Phantásien unendlich war, war sein Ende unabwendbar!

Während er weiter über das unebene Pflaster durch die Nebelschwaden stolperte, hörte er in seiner Erinnerung noch einmal die sanfte Stimme der Uyulála. Ein winziges Hoffnungsfünkchen glomm in seinem Herzen auf.

Früher waren oft Menschen nach Phantásien gekommen, um der Kindlichen Kaiserin immer neue, herrliche Namen zu geben - so hatte sie doch gesungen. Also gab es doch einen Weg von der einen Welt in die andere!

»Für sie ist es nah, doch für uns ist es weit, zu weit, um zu ihnen zu kommen.«

Ja, so hatten Uyulálas Worte gelautet. Nur, daß die Menschenkinder diesen Weg vergessen hatten. Aber konnte es nicht sein, daß eines, ein einziges sich wieder daran erinnerte?

Daß es für ihn selbst keine Hoffnung mehr gab, kümmerte Atréju wenig. Wichtig war allein, daß ein Menschenkind den Ruf Phantásiens hörte und kam - so wie es zu allen Zeiten geschehen war. Und vielleicht, vielleicht hatte sich schon eines aufgemacht und war unterwegs!

»Ja! Ja!« rief Bastian. Er erschrak vor seiner eigenen Stimme und fügte leiser hinzu:

»Ich würde euch ja zu Hilfe kommen, wenn ich nur wüßte wie! Ich weiß den Weg nicht, Atréju. Ich weiß ihn wirklich nicht.«

Der dumpfe Trommelklang und die schrillen Pfeifchen waren verstummt, und ohne es zu merken, war Atréju der Prozession so nahe gekommen, daß er fast auf die letzten Gestalten auflief. Da er barfuß war, machten seine Schritte kein Geräusch - aber nicht das war es, was diese Leute dazu brachte, ihn überhaupt nicht zu beachten. Er hätte auch mit eisenbeschlagenen Stiefeln dahertrampeln und laut schreien können, niemand hätte sich darum gekümmert.

Sie standen nun nicht mehr in einem Zug, sondern weit verteilt auf einem Feld aus grauem Gras und Schlamm. Manche schwankten leicht hin und her, andere standen oder hockten reglos herum, aber ihrer aller Augen, in denen ein blinder fiebriger Glanz lag, blickten in dieselbe Richtung.

Und nun sah auch Atréju, worauf sie hinstarrten wie in einer grausigen Verzückung: Auf der anderen Seite des Feldes lag das Nichts.

Es war, wie Atréju es schon vorher bei den Borkentrollen aus dem Baumwipfel gesehen hatte oder auf der Ebene, wo die Magischen Tore des Südlichen Orakels gestanden hatten, oder von Fuchurs Rücken aus, aus großer Höhe - aber bisher hatte er es immer nur aus der Ferne gesehen. Jetzt aber stand er ihm unvorbereitet ganz nah gegenüber, es ging quer durch die ganze Landschaft, es war riesig, und es kam langsam, langsam, aber unaufhaltsam näher.

Atréju sah, daß die Spukgestalten auf dem Feld vor ihm zu zucken begannen, daß ihre Glieder sich wie in Krämpfen verdrehten und ihre Münder aufgerissen waren, als wollten sie schreien oder lachen, doch es herrschte Totenstille. Und dann - als seien sie welke Laubblätter, die ein Windstoß erfaßt - rasten sie alle gleichzeitig auf das Nichts zu und stürzten, rollten und sprangen hinein.

Kaum war der letzte dieser gespenstischen Schar lautlos und ohne Spur verschwunden, als Atréju mit Schrecken bemerkte, wie auch sein eigener Körper anfing, sich mit kleinen ruckartigen Schritten auf das Nichts zuzubewegen. Ein übermächtiges Verlangen, sich ebenfalls hineinzustürzen, wollte von ihm Besitz ergreifen. Atréju spannte all seinen Willen an und wehrte sich dagegen. Er zwang sich, stehenzubleiben. Langsam, ganz langsam gelang es ihm, sich umzudrehen und sich Schrittfür Schritt wie gegen eine unsichtbare mächtige Wasserströmung voranzukämpfen. Der Sog wurde schwächer und Atréju rannte, rannte so schnell er konnte auf dem buckligen Straßenpflaster zurück. Er rutschte aus, stürzte hin, raffte sich auf und rannte weiter, ohne zu überlegen, wohin diese Straße im Nebel ihn führen würde.

Laufend folgte er ihren sinnlosen Krümmungen und hielt erst inne, als aus dem Nebel vor ihm eine hohe, pechschwarze Stadtmauer auftauchte. Dahinter ragten einige schiefe Türme in den grauen Himmel. Die dicken, hölzernen Flügel des Stadttores waren morsch und verfault und hingen schräg in den verrosteten Angeln.

Atréju ging hinein.

Es wurde immer kälter auf dem Speicher. Bastian begann so zu frieren, daß er zitterte.

Und wenn er nun krank würde - was würde dann aus ihm werden? Er konnte zum Beispiel Lungenentzündung bekommen wie Willi, der Junge aus seiner Klasse. Dann würde er hier ganz allein auf dem Speicher sterben müssen. Niemand wäre da, um ihm beizustehen.

Er wäre jetzt sehr froh gewesen, wenn der Vater ihn finden und retten würde.

Aber heimgehen - nein, er konnte, es nicht. Lieber sterben!

Er holte sich noch die restlichen Militärdecken und mummelte sich von allen Seiten darin ein.

Langsam wurde ihm wärmer. '

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