Quérquobad, der Silbergreis, war auf seinem Sessel in Schlaf gesunken, denn es war schon spät in der Nacht. So versäumte er das größte und schönste Erlebnis, das er in seinem hundertsiebenjährigen Dasein hätte haben können. Nicht anders erging es vielen anderen in Amargánth, Einheimischen und Gästen, die sich, erschöpft vom Fest, zur Ruhe begeben hatten. Nur wenige waren noch wach, und diese wenigen bekamen etwas zu hören, was an Schönheit alles übertraf, was sie je vernommen hatten und noch vernehmen sollten.
Fuchur, der weiße Glücksdrache, sang.
Hoch am nächtlichen Himmel zog er über der Silberstadt und dem Tränensee Kreise und ließ seine Glockenstimme ertönen. Es war ein Lied ohne Worte, die große, einfache Melodie des reinen Glücks. Und wer sie hörte, dem öffnete sich weit das Herz.
So erging es auch Bastian und Atréju, die nebeneinander auf dem breiten Balkon von Quérquobads Palast saßen. Für beide war es das erste Mal, daß sie einen Glücksdrachen singen hörten. Sie hatten sich, ohne es zu merken, bei der Hand gefaßt und lauschten in schweigendem Entzücken. Jeder wußte, daß der andere das gleiche empfand wie er selbst: Das Glück, einen Freund gefunden zu haben. Und sie hüteten sich, es durch Reden zu stören.
Die große Stunde ging vorüber, Fuchurs Gesang wurde nach und nach leiser und klang schließlich aus.
Als es ganz still war, erwachte Quérquobad, erhob sich und sagte entschuldigend:
»Silbergreise wie ich brauchen nun mal ihren Schlaf. Bei euch jungen Leuten ist das anders. Nehmt mir's nicht übel, aber ich muß jetzt ins Bett.«
Sie wünschten ihm gute Nacht und Quérquobad ging.
Wieder saßen die beiden Freunde lange Zeit schweigend und blickten zum Nachthimmel hinauf, wo der Glücksdrache noch immer mit langsamen, ruhigen Wellenbewegungen seine Kreise zog. Ab und zu schwebte er wie ein weißer Wolkenstreif vor der vollen Mondscheibe vorüber.
»Geht Fuchur nicht schlafen?« fragte Bastian schließlich.
»Er schläft schon«, sagte Atr6ju leise.
»Im Fliegen?«
»Ja. Er hält sich nicht gern in Häusern auf, sogar wenn sie so groß sind wie Quérquobads Palast. Er fühlt sich beengt und eingeschlossen und versucht, sich so vorsichtig wie möglich zu bewegen, um nichts herunterzuwerfen oder umzustoßen. Er ist einfach zu groß. Darum schläft er meistens hoch in der Luft.«
»Meinst du, er läßt mich auch mal auf sich reiten?«
»Bestimmt«, meinte Atréju, »allerdings ist es nicht ganz einfach. Man muß sich erst dran gewöhnen.«
»Ich bin auf Graógramán geritten«, gab Bastian zu bedenken.
Atréju nickte und blickte ihn voll Bewunderung an.
»Du hast es bei der Mutprobe zu Held Hynreck gesagt. Wie hast du den Bunten Tod bezwungen?«
»Ich habe AURYN«, sagte Bastian.
»Ach?« machte Atréju. Er sah sehr überrascht aus, aber er sagte nichts weiter.
Bastian holte das Zeichen der Kindlichen Kaiserin unter seinem Hemd hervor und zeigte es Atréju. Atréju betrachtete es eine Weile und murmelte dann:
»Also trägst du jetzt den Glanz.«
Sein Gesicht schien Bastian ein wenig abweisend, darum sagte er eifrig:
»Willst du es dir noch einmal umhängen?«
Er machte Anstalten, sich die Kette abzunehmen.
»Nein!«
Atréjus Stimme hatte fast scharf geklungen, und Bastian hielt verdutzt inne. Atréju lächelte entschuldigend und wiederholte sanft:
»Nein, Bastian, ich habe es lang genug getragen.«
»Wie du willst«, meinte Bastian. Dann drehte er das Zeichen um.
»Schau mal! Hast du die Inschrift gesehen?«
»Gesehen wohl«, antwortete Atréju, »aber ich weiß nicht, was da steht.«
»Wieso?«
»Wir Grünhäute können Spuren lesen, aber keine Buchstaben.«
Diesmal war es Bastian, der »ach?« machte.
»Was sagt die Inschrift?« wollte Atréju wissen.
»TU WAS DU WILLST«, las Bastian vor.
Atréju schaute das Zeichen unverwandt an.
»Also das heißt es?« murmelte er. Sein Gesicht verriet keine Gemütsbewegung, und Bastian konnte nicht erraten, was er dachte. Deshalb fragte er:
»Wenn du's gewußt hättest, wäre dann irgendwas für dich anders gewesen?«
»Nein«, sagte Atréju, »ich habe getan, was ich wollte.«
»Das stimmt«, meinte Bastian und nickte.
Wieder schwiegen beide eine Weile.
»Ich muß dich noch was fragen, Atréju«, nahm Bastian schließlich das Gespräch wieder auf. »Du hast gesagt, ich hätte anders ausgesehen, als du mich im Zauber Spiegel Tor gesehen hast.«
»Ja, ganz anders.«
»Wie denn?«
»Du warst sehr dick und blaß und hattest ganz andere Kleider an.«
»Dick und blaß?« fragte Bastian und lächelte ungläubig. »Bist du wirklich sicher, daß ich das war?«
»Warst du es denn nicht?«
Bastian überlegte.
»Du hast mich gesehen, das weiß ich. Aber ich war immer so wie jetzt.«
»Wirklich?«
»Ich müßte mich doch erinnern!« rief Bastian.
»Ja«, sagte Atréju und sah ihn nachdenklich an, »das müßtest du.«
»Vielleicht war es ein Zerrspiegel?«
Atréju schüttelte den Kopf.
»Das glaube ich nicht.«
»Wie erklärst du dir dann, daß du mich so gesehen hast?«
»Ich weiß es nicht«, gab Atréju zu. »Ich weiß nur, daß ich mich nicht getäuscht habe.«
Danach schwiegen sie wieder lange Zeit und gingen zuletzt schlafen.
Als Bastian in seinem Bett lag, dessen Kopf- und Fußende natürlich aus feinstem Silberfiligran bestand, ging ihm das Gespräch mit Atréju nicht aus dem Sinn. Irgendwie kam es ihm so vor, als ob sein Sieg über Held Hynreck und sogar sein Aufenthalt bei Graógramán auf Atréju weniger Eindruck machte, seit er wußte, daß Bastian den Glanz trug.
Vielleicht dachte er, daß es unter diesen Umständen nichts Besonders gewesen war. Aber Bastian wollte Atréjus uneingeschränkte Hochachtung gewinnen.
Er dachte lange nach. Es mußte etwas sein, was niemand in Phantásien konnte, auch nicht mit dem Zeichen. Etwas, das nur er, Bastian, vermochte.
Und endlich fiel es ihm ein: Geschichten erfinden!
Immer wieder hatte es doch geheißen, daß niemand in Phantásien Neues schaffen konnte. Sogar die Stimme der Uyulála hatte davon gesprochen. Und gerade das war es, worauf er sich ganz besonders verstand.
Atréju sollte sehen, daß er, Bastian, ein großer Dichter war!
Er wünschte sich, daß sich so bald wie möglich eine Gelegenheit bieten sollte, es dem Freund zu beweisen. Vielleicht schon morgen. Zum Beispiel könnte es ein Dichterfest in Amargánth geben, bei dem Bastian alle in den Schatten stellen würde mit seinen Einfallen!
Oder noch besser wäre es, wenn alles, was er erzählen wollte, Wirklichkeit würde! Hatte Graógramán nicht gesagt, daß Phantásien das Land der Geschichten sei und deshalb sogar längst Vergangenes neu entstehen könnte, wenn es in einer Geschichte vorkommt?
Atréju sollte Augen machen!
Und während Bastian sich Atréjus staunende Bewunderung ausmalte, schlief er ein.
Als sie am nächsten Morgen im Prunksaal des Palastes bei einem üppigen Frühstück saßen, sagte Silbergreis Quérquobad:
»Wir haben beschlossen, für unseren Gast, den Retter Phantásiens, und seinen Freund, der ihn zu uns brachte, heute ein ganz besonderes Fest zu veranstalten. Vielleicht weißt du nicht, Bastian Balthasar Bux, daß wir Amargánther nach einer uralten Tradition die Liedersänger und Geschichtenerzähler in Phantásien sind. Schon unsere Kinder werden von früh an in dieser Kunst unterwiesen. Wenn sie größer werden, müssen sie viele Jahre durch alle Lande ziehen und diesen Beruf zu Nutz und Frommen aller ausüben. Darum werden wir überall mit Achtung und Freude empfangen. Doch haben wir einen Kummer: Unser Vorrat an Liedern und Geschichten ist - ehrlich gesagt - nicht sehr groß. Und viele von uns müssen sich dieses wenige teilen. Es geht aber die Sage - ich weiß nicht, ob zurecht - daß du in deiner Welt dafür bekannt bist, Geschichten erfinden zu können. Ist das wahr?«
»Ja«, sagte Bastian, »ich bin sogar dafür ausgelacht worden.«
Silbergreis Quérquobad zog erstaunt die Augenbrauen hoch.
»Ausgelacht dafür, daß du Geschichten erzählen kannst, die noch nie jemand gehört hat? Wie ist das möglich! Von uns ist keiner dazu in der Lage, und wir alle, ich und meine Mitbürger, wären dir unaussprechlich dankbar, wenn du uns einige neue Geschichten schenken wolltest. Wirst du uns mit deinem Genie helfen?«
»Mit Vergnügen!« antwortete Bastian.
Nach dem Frühstück gingen sie auf die Treppe von Quérquobads Palast hinaus, wo Fuchur sie schon erwartete.
Auf dem Platz hatte sich inzwischen eine große Menge versammelt, diesmal aber waren nur noch wenige der Gäste darunter, die zu den Kampf spielen in die Stadt gekommen waren. In der Hauptsache bestand sie aus Amargánthern, Männern, Frauen und Kindern, alle Wohlgestalt und blauäugig und alle in der schmucken Silbertracht. Die meisten hatten silberne Saiteninstrumente bei sich, Harfen, Leiern, Gitarren oder Lauten, auf denen sie ihren Vortrag begleiten wollten, denn jeder von ihnen hoffte darauf, seine Kunst vor Bastian und Atréju produzieren zu dürfen.
Wieder waren Sessel aufgestellt worden, Bastian nahm in der Mitte zwischen Quérquobad und Atréju Platz. Fuchur postierte sich hinter ihnen.
Dann klatschte Quérquobad in die Hände und sagte in die Stille, die sich ausbreitete:
»Der große Dichter will unseren Wunsch erfüllen. Er wird uns neue Geschichten schenken. Darum gebt euer Bestes, Freunde, um ihn in Stimmung zu bringen!«
Alle Amargánther auf dem Platz verneigten sich tief und schweigend. Dann trat der erste vor und begann zu rezitieren. Nach ihm kamen andere und immer wieder andere. Alle hatten schöne, klangvolle Stimmen und machten ihre Sache sehr gut.
Die Geschichten, Gedichte und Lieder, die sie vortrugen, waren je nachdem spannend, heiter oder auch traurig, aber sie würden hier zu viel Raum beanspruchen. Sie sollen ein andermal erzählt werden. Insgesamt waren es nur etwa hundert verschiedene Stücke. Danach fingen sie an sich zu wiederholen. Die neu vortretenden Amargánther konnten nichts anderes vortragen, als was ihre Vorgänger schon zu Gehör gebracht hatten.
Trotzdem wurde Bastian immer aufgeregter, denn er wartete auf den Augenblick, wo er selbst drankommen würde. Sein Wunsch von gestern abend war haargenau in Erfüllung gegangen. Er konnte es kaum noch aushalten vor Erwartung, daß auch alles andere sich erfüllen würde. Er schaute Atréju von der Seite an, doch der saß mit unbeweglicher Miene da und hörte zu. Ihm war keine Gemütsbewegung anzumerken.
Schließlich gebot Silbergreis Quérquobad seinen Mitbürgern Einhalt. Er wandte sich seufzend zu Bastian und sprach:
»Ich habe dir gesagt, Bastian Balthasar Bux, daß unser Vorrat leider sehr klein ist. Es ist nicht unsere Schuld, daß es nicht mehr Geschichten gibt. Wie du siehst, tun wir, was wir können. Wirst du uns nun eine der deinen schenken?
»Ich werde euch alle Geschichten schenken, die ich erfunden habe«, sagte Bastian großzügig, »denn ich kann mir ja jede Menge neue ausdenken. Viele davon habe ich einem kleinen Mädchen namens Kris Ta erzählt, aber die meisten nur mir selbst. Es kennt sie also noch niemand sonst. Aber es würde Wochen und Monate dauern, jede einzeln zu erzählen, und so lang können wir nicht bei euch bleiben. Deshalb will ich euch eine Geschichte erzählen, in der alle anderen enthalten sind. Sie heißt »Die Geschichte der Bibliothek von Amargánth« und ist ganz kurz.« Er überlegte ein wenig und begann aufs Geratewohl:
»In grauer Vorzeit lebte in Amargánth eine Silbergreisin mit Namen Quana, die über die Stadt herrschte. In jenen längst vergangenen Tagen gab es weder den Tränensee Murhu, noch war Amargánth aus dem besonderen Silber, das den Wassern widersteht. Es war noch eine ganz gewöhnliche Stadt mit Häusern aus Stein und Holz. Und sie lag in einem Tal zwischen bewaldeten Hügeln.
Quana hatte einen Sohn namens Quin, der ein großer Jäger war. Eines Tages erblickte Quin in den Wäldern ein Einhorn, das einen leuchtenden Stein auf der Spitze seines Horns trug. Er tötete das Tier und nahm den Stein mit nach Hause. Doch damit hatte er großes Unheil über die Stadt Amargánth gebracht. Die Einwohner bekamen immer weniger und weniger Kinder. Wenn sie keine Rettung fanden, dann waren sie zum Aussterben verurteilt. Aber das Einhorn war ja nicht wieder zum Leben zu erwecken, und niemand wußte Rat.
Da schickte die Silbergreisin Quana einen Boten zum Südlichen Orakel, das damals noch bestand, damit er von der Uyulála gesagt bekäme, was man tun solle. Aber das Südliche Orakel war sehr weit fort. Der Bote war als junger Mann aufgebrochen, und als er zurückkam, war er hochbetagt. Die Silbergreisin Quana war längst gestorben, und ihr Sohn Quin war inzwischen an ihre Stelle getreten. Auch er war natürlich schon uralt, ebenso alle anderen Amargánther. Es gab nur noch ein einziges Kinderpaar, einen Jungen und ein Mädchen. Er hieß Aquil und sie Muqua.
Nun verkündete der Bote, was die Stimme der Uyulála ihm offenbart hatte: Amargánth würde nur dann weiterbestehen können, wenn es zur schönsten Stadt Phantásiens gemacht würde. Nur auf diese Weise sei Quins Frevel wieder gutzumachen. Doch könnten die Amargánther das nur mit der Hilfe der Acharai bewirken, die die häßlichsten Wesen Phantásiens sind. Sie werden auch die »Immer-Weinenden« genannt, weil sie vor Kummer über ihre eigene Häßlichkeit ununterbrochen Tränen vergießen. Gerade mit diesen Tränenströmen waschen sie aber jenes besondere Silber aus den Tiefen der Erde und verstehen es, daraus das wunderbarste Filigran zu machen.
Nun gingen also alle Amargánther auf die Suche nach den Acharai, doch gelang es keinem, sie zu finden, da diese tief unter der Erde leben. Schließlich waren nur noch Aquil und Muqua übrig. Alle anderen waren weggestorben, und die beiden waren inzwischen erwachsen. Und diesen beiden gemeinsam gelang es, die Acharai zu finden und dazu zu überreden, aus Amargánth die schönste Stadt Phantásiens zu machen.
So bauten die Acharai erst einen Silberkahn und darauf einen kleinen Filigranpalast und stellten ihn auf den Marktplatz der ausgestorbenen Stadt. Dann leiteten sie ihren Tränenstrom unterirdisch so, daß er als Quelle in dem Tal zwischen den bewaldeten Hügeln ans Tageslicht trat. Das Tal füllte sich mit den bitteren Wassern und wurde der Tränensee Murhu, auf dem der erste Silberpalast schwamm. Darin wohnten Aquil und Muqua.
Die Acharai hatten aber eine Bedingung an das junge Paar gestellt und die war, daß sie und alle ihre Nachkommen sich dem Liedersingen und dem Geschichtenerzählen widmen sollten. Und solange sie das täten, wollten die Acharai ihnen helfen, weil sie auf diese Weise auch daran beteiligt wären und ihre Häßlichkeit zu etwas Schönem beitrüge.
So gründeten Aquil und Muqua eine Bibliothek - eben die berühmte Bibliothek von Amargánth - in der sie alle meine Geschichten sammelten. Sie fingen mit dieser hier an, die ihr eben gehört habt, aber nach und nach kamen alle anderen dazu, die ich je erzählt habe, und so wurden es schließlich so viele, daß weder die beiden noch ihre zahlreichen Nachkommen, die heute die Silberstadt bevölkern, je damit zu Ende kommen werden.
Daß Amargánth, die schönste Stadt Phantásiens, auch heute noch besteht, kommt daher, daß die Acharai und die Amargánther gegenseitig ihr Versprechen gehalten haben - obwohl sie beide nichts mehr voneinander wissen. Nur der Name des Tränensees Murhu erinnert noch an jene Begebenheit aus grauer Vorzeit.«
Nachdem Bastian geendet hatte, erhob sich Silbergreis Quérquobad langsam von seinem Sessel. Sein Gesicht zeigte ein verklärtes Lächeln.
»Bastian Balthasar Bux«, sprach er, »du hast uns mehr geschenkt als eine Geschichte und mehr als alle Geschichten. Du hast uns unsere eigene Herkunft geschenkt. Nun wissen wir, woher Murhu kommt und unsere silbernen Schiffe und Paläste, die der See trägt. Nun wissen wir, warum wir seit alters her ein Volk von Liedersängern und Geschichtenerzählern sind. Und vor allem wissen wir nun, was jenes große, runde Bauwerk in unserer Stadt enthält, das noch niemals einer von uns betreten hat, weil es seit Urzeiten verschlossen ist. Es enthält unseren größten Schatz, und wir wußten es bisher nicht. Es enthält die Bibliothek von Amargánth!«
Bastian war selbst überwältigt davon, daß alles, was er eben erzählt hatte, Wirklichkeit geworden war (oder schon immer gewesen war? Graógramán hätte wahrscheinlich gesagt: beides!). Jedenfalls wollte er sich mit eigenen Augen davon überzeugen.
»Wo ist denn dieses Gebäude?« fragte er.
»Ich will es dir zeigen«, sagte Quérquobad und zu der Menge gewendet, rief er: »Kommt alle mit! Vielleicht werden uns heute noch mehr Wunder zuteil!«
Ein langer Zug, an dessen Spitze der Silbergreis neben Atréju und Bastian ging, bewegte sich über die Stege, die die Silberschiffe miteinander verbanden und hielt schließlich vor einem sehr großen Bauwerk an, das auf einem kreisrunden Schiff stand und selbst die Form einer riesigen silbernen Büchse hatte. Die Außenwände waren glatt und schmucklos und hatten auch keine Fenster. Es gab nur eine einzige große Tür, doch die war verschlossen.
In der Mitte des glatten, silbernen Türflügels saß ein Stein in einer ringförmigen Fassung, der aussah wie ein Stück klares Glas. Darüber stand folgende Inschrift:
»Vom Horn des Einhorns genommen, bin ich erloschen.
Ich halte die Tür verschlossen, bis der mein Licht erweckt,
der mich bei meinem Namen nennt.
Ihm leuchte ich hundert Jahre lang
und will ihn führen in den dunklen Tiefen
von Yors Minroud.
Doch spricht er meinen Namen noch ein zweites Mal
vom Ende zum Anfang
verstrahl ich hundert Jahre Leuchten
in einem Augenblick.«
»Niemand von uns«, sagte Quérquobad, »vermag diese Inschrift zu deuten. Niemand von uns weiß, was die Worte Yors Minroud bedeuten. Niemand hat bis jetzt den Namen des Steins gefunden, obgleich wir alle es wieder und wieder versucht haben. Aber wir alle können nur Namen anwenden, die es schon gibt in Phantásien. Und da es die Namen anderer Dinge sind, hat keiner den Stein zum Leuchten gebracht und dadurch die Tür geöffnet. Kannst du ihn finden, Bastian Balthasar Bux?«
Tiefe, erwartungsvolle Stille trat ein. Alle Amargánther und Nicht-Amargánther hielten den Atem an. »Al' Tsahir!« rief Bastian.
Im gleichen Augenblick leuchtete der Stein hell auf, sprang aus seiner Fassung und Bastian geradewegs in die Hand. Die Tür öffnete sich. Ein Ah! des Staunens kam aus tausend Kehlen. Bastian, den leuchtenden Stein in der Hand, trat gefolgt von Atréju und Quérquobad durch die Tür. Hinter ihnen drängte die Menge nach. Der große runde Raum war dunkel, und Bastian hob den Stein hoch.
Sein Licht war zwar heller als das einer Kerze, reichte aber nicht aus, um den Raum völlig zu erleuchten. Man sah nur, daß an den Wänden entlang, mehrere Stockwerke hoch, Bücher und nochmals Bücher standen.
Lampen wurden herbeigeschafft, und bald war der ganze große Raum hell. Jetzt sah man, daß die Bücherwand ringsum in viele verschiedene Abteilungen gegliedert war, die Hinweisschilder trugen. »Lustige Geschichten« stand da zum Beispiel, oder »Spannende Geschichten« oder »Ernste Geschichten« oder »Kurze Geschichten« und so immer weiter.
In der Mitte des runden Saals war auf dem Boden eine große, nicht zu übersehende Inschrift eingelassen:
Atréju stand da und schaute sich mit großen Augen um. Er war so von Staunen und Bewunderung überwältigt, daß seine Gemütsbewegung mehr als deutlich zu sehen war. Und Bastian freute sich darüber.
»Das alles«, fragte Atréju und zeigte mit dem Finger rundum, »das alles sind Geschichten die du erfunden hast?«
»Ja«, sagte Bastian und steckte Al' Tsahir in die Tasche.
Atréju schaute ihn fassungslos an.
»Das«, gab er zu, »geht über meinen Verstand.«
Die Amargánther hatten sich natürlich längst mit Feuereifer auf die Bücher gestürzt, blätterten darin, lasen sich gegenseitig vor, manche setzten sich einfach auf den Boden und fingen schon an, bestimmte Stellen auswendig zu lernen.
Die Kunde des großen Ereignisses hatte sich natürlich wie ein Lauffeuer in der ganzen Silberstadt verbreitet, unter den Einheimischen wie unter den Gästen.
Bastian und Atréju traten gerade aus der Bibliothek ins Freie, als ihnen die Herren Hýkrion, Hýsbald und Hýdorn entgegenkamen.
»Herr Bastian«, sagte der rothaarige Hýsbald, der offensichtlich nicht nur mit der Klinge, sondern auch mit der Zunge der Gewandteste war, »wir haben gehört, was für unvergleichliche Fähigkeiten Ihr an den Tag gelegt habt. Darum wollen wir Euch bitten, uns in Euren Dienst zu nehmen und uns auf Eurer weiteren Fahrt mit Euch ziehen zu lassen.Jeder von uns dreien sehnt sich danach, eine eigene Geschichte zu bekommen. Und wenn Ihr auch ganz gewißlich nicht unseres Schutzes bedürft, so könnte es Euch doch von Nutzen sein, drei tüchtige und fähige Ritter wie uns zu Euren Diensten zu haben. Wollt Ihr?«
»Gern«, antwortete Bastian, »auf solche Begleiter wäre jeder stolz.«
Nun wollten die drei Herren unbedingt und auf der Stelle ihren Treueeid auf Bastians Schwert ablegen, aber er hielt sie zurück.
»Sikánda«, erklärte er ihnen, »ist ein Zauberschwert. Niemand darf es ohne Gefahr für Leib und Leben berühren, der nicht vom Feuer des Bunten Todes gegessen und getrunken und darin gebadet hat.«
So mußten sie sich mit einem freundschaftlichen Handschlag zufriedengeben.
»Und was ist mit Held Hynreck?« erkundigte sich Bastian.
»Er ist vollkommen gebrochen«, sagte Hýkrion.
»Es ist wegen seiner Dame«, fügte Hýdorn hinzu.
»Ihr solltet mal nach ihm sehen«, schloß Hýsbald.
Also machten sie sich - jetzt zu fünft - auf den Weg zu dem Gasthaus, in dem die Gesellschaft anfangs eingekehrt war, und wo Bastian die alte Jicha im Stall untergebracht hatte.
Als sie in die Gaststube traten, saß dort nur ein einziger Mann. Er war über den Tisch gebeugt und hatte die Hände in den blonden Haaren vergraben. Es war Held Hynreck.
Offensichtlich hatte er eine Ersatzrüstung in seinem Reisegepäck mit sich geführt, denn er trug jetzt eine etwas einfachere Ausführung als die, die am Vortage beim Kampf mit Bastian in Stücke gegangen war.
Als Bastian ihm einen guten Tag wünschte, fuhr er in die Höhe und starrte die beiden Jungen an. Seine Augen waren gerötet.
Bastian fragte, ob sie sich zu ihm setzen dürften, er zuckte die Achseln, nickte und sank wieder auf seinen Platz. Vor ihm auf dem Tisch lag ein Blatt Papier, das aussah, als sei es oft zusammengeknüllt und wieder glatt gestrichen worden.
»Ich möchte mich nach Eurem Befinden erkundigen«, begann Bastian. »Es tut mir leid, wenn ich Euch gekränkt haben sollte.«
Held Hynreck schüttelte den Kopf.
»Mit mir ist es aus«, brachte er mit rauher Stimme heraus. »Hier, lest selbst!«
Er schob Bastian den Zettel hin:
»Ich will nur den größten« - stand darauf -»und das seid ihr nicht, darum lebt wohl!«
»Von Prinzessin Oglamár?« fragte Bastian.
Held Hynreck nickte.
»Sie hat sich gleich nach unserem Kampf ans Ufer bringen lassen, mit ihrem Zelter. Wer weiß, wo sie jetzt ist? Ich werde sie nicht mehr wiedersehen. Was soll ich dann noch auf der Welt!«
»Könnt Ihr sie nicht einholen?«
»Wozu?«
»Um sie vielleicht noch umzustimmen.«
Held Hynreck stieß ein bitteres Lachen aus.
»Da kennt Ihr Prinzessin Oglamár nicht. Ich habe mehr als zehn Jahre trainiert, um alles das zu können, was ich kann. Ich habe auf alles verzichtet, was meiner körperlichen Verfassung nicht gut getan hätte. Ich habe mit eiserner Disziplin bei den größten Fechtmeistern Fechten gelernt, bei den stärksten Ringern alle Arten von Ringkampf, bis ich sie alle besiegte. Ich kann schneller laufen als ein Pferd, höher springen als ein Hirsch, ich kann alles am besten, oder vielmehr - ich konnte es bis gestern. Vorher hat sie mich nie eines Blickes gewürdigt, aber dann, nach und nach, wuchs ihr Interesse an mir mit meinen Fähigkeiten. Ich durfte schon hoffen, von ihr erwählt zu werden - und nun ist alles für immer umsonst. Wie kann ich ohne Hoffnung leben?«
»Vielleicht«, meinte Bastian, »solltet Ihr Euch einfach nicht so viel aus Prinzessin Oglamár machen. Es gibt doch bestimmt noch andere, die Euch ebensogut gefallen würden.«
»Nein«, antwortete Held Hynreck, »mir gefällt Prinzessin Oglamár ja gerade deshalb, weil sie sich nur mit dem Größten zufriedengibt.«
»Ach so«, sagte Bastian ratlos, »das ist natürlich schwierig. Was kann man da machen? Und wenn Ihr's vielleicht auf andere Art bei ihr versucht? Als Sänger zum Beispiel oder als Dichter?«
»Ich bin nun mal ein Held«, erwiderte Hynreck ein wenig gereizt, »ich kann und will keinen anderen Beruf. Ich bin wie ich bin.«
»Ja«, sagte Bastian, »das sehe ich ein.«
Alle schwiegen. Die drei Herren warfen Held Hynreck mitfühlende Blicke zu. Sie konnten verstehen, was in ihm vorging. Schließlich räusperte sich Hýsbald und meinte leise, zu Bastian gewandt:
»Für Euch, Herr Bastian, wäre es eigentlich weiter keine große Sache, ihm zu helfen.«
Bastian schaute Atréju an, aber der machte wieder sein undurchdringliches Gesicht.
»Einer wie Held Hynreck«, setzte nun Hýdorn hinzu, »ist tatsächlich schlecht dran, wenn es weit und breit keine Ungeheuer gibt. Versteht Ihr?«
Bastian verstand immer noch nicht.
»Ungeheuer«, meinte Hýkrion und strich sich seinen enormen schwarzen Schnurrbart, »sind nun einmal notwendig, damit ein Held ein Held sein kann.« Dabei zwinkerte er Bastian zu.
Jetzt hatte Bastian endlich begriffen.
»Hört zu, Held Hynreck«, sagte er, »ich habe mit dem Vorschlag, einer anderen Dame Euer Herz zu schenken, nur Eure Standhaftigkeit auf die Probe gestellt. In Wirklichkeit bedarf Prinzessin Oglamár nämlich schon jetzt Eurer Hilfe, und niemand außer Euch kann sie retten.«
Held Hynreck horchte auf.
»Sprecht Ihr im Ernst, Herr Bastian?«
»In vollem Ernst, Ihr werdet Euch gleich davon überzeugen können. Prinzessin Oglamár ist nämlich vor wenigen Minuten überfallen und entführt worden.«
»Von wem?«
»Von einem der schrecklichsten Ungeheuer, die je in Phantásien existiert haben. Es handelt sich um den Drachen Smärg. Sie ritt gerade über eine Waldlichtung, als das Scheusal sie erblickte, sich aus der Luft auf sie stürzte, vom Rücken ihres Zelters hob und mit sich fortriß.«
Hynreck sprang auf. Seine Augen begannen zu leuchten und seine Wangen zu glühen. Er klatschte vor Freude in die Hände. Doch dann erlosch der Glanz in seinen Augen wieder, und er setzte sich.
»Das kann leider nicht sein«, meinte er bekümmert, »es gibt weit und breit keine Drachen mehr.«
»Ihr vergeßt, Held Hynreck«, erklärte Bastian, »daß ich von sehr weit herkomme - von viel weiter, als Ihr je gewesen seid.«
»Das ist wahr«, bestätigte Atréju, der sich zum ersten Mal einmischte.
»Und sie ist wirklich von diesem Ungeheuer entführt worden?« rief Held Hynreck. Dann preßte er beide Hände auf sein Herz und seufzte: »O meine angebetete Oglamár, wie mußt du jetzt leiden. Aber fürchte dich nicht, dein Ritter naht, er ist schon unterwegs! Sagt mir, was muß ich tun? Wo muß ich hin? Worum handelt es sich?«
»Sehr weit von hier«, begann Bastian, »gibt es ein Land, das heißt Morgul oder das Land des Kalten Feuers, weil dort die Flammen kälter sind als Eis. Wie Ihr dieses Land finden könnt, kann ich Euch nicht sagen, Ihr müßt es selbst herausfinden. Mitten in diesem Land gibt es einen versteinerten Wald mit Namen Wodgabay. Und wiederum mitten in diesem versteinerten Wald steht die bleierne Burg Ragar. Sie ist von drei Burggräben umgeben. Im ersten fließt grünes Gift, im zweiten rauchende Salpetersäure, und im dritten wimmeln Skorpione, so große wie Eure Füße. Es gibt keine Brücken und Stege hinüber, denn der Herr, der in der bleiernen Burg Ragar herrscht, ist jenes geflügelte Ungeheuer namens Smärg. Seine Flügel sind aus schleimiger Haut und haben eine Spannweite von zweiunddreißig Metern. Wenn er nicht fliegt, steht er aufrecht wie ein riesiges Känguruh. Sein Leib gleicht dem einer räudigen Ratte, aber sein Schwanz ist der eines Skorpions. Selbst die leichteste Berührung mit dem Giftstachel ist absolut tödlich. Seine Hinterbeine sind die einer Riesenheuschrecke, aber seine Vorderbeine, die winzig und verkümmert aussehen, gleichen den Händen eines kleinen Kindes. Doch darf man sich dadurch nicht täuschen lassen, denn gerade in diesen Händchen liegt eine furchtbare Kraft. Seinen langen Hals kann er einziehen wie eine Schnecke ihre Fühler, und obendrauf sitzen drei Köpfe. Einer ist groß und gleicht dem Kopf eines Krokodils. Aus diesem Maul kann er eisiges Feuer speien. Aber dort, wo beim Krokodil die Augen sind, hat er zwei Auswüchse, die noch einmal Köpfe sind. Der rechte sieht aus wie der eines alten Mannes. Mit ihm kann er hören und sehen. Zum Sprechen aber hat er den linken, der wie das schrumpelige Gesicht eines alten Weibes aussieht.«
Bei dieser Beschreibung war Held Hynreck etwas blaß geworden.
»Wie war der Name?« fragte er.
»Smärg«, wiederholte Bastian. »Er treibt sein Unwesen schon seit tausend Jahren, denn das ist sein Alter. Immer wieder raubt er eine schöne Jungfrau, die ihm dann den Haushalt führen muß bis ans Ende ihrer Tage. Wenn sie gestorben ist, raubt er eine neue.«
»Wieso habe ich davon nie gehört?«
»Smärg kann unvorstellbar weit und schnell fliegen. Bisher hat er sich immer andere Länder Phantásiens für seine Raubzüge ausgesucht. Und dann kommt es ja auch nur in jedem halben Jahrhundert einmal vor.«
»Und niemand hat bisher je eine Gefangene befreit?«
»Nein, dazu bedarf es eines ganz einmaligen Helden.«
Bei diesen Worten röteten sich Held Hynrecks Wangen wieder.
»Hat Smärg eine verwundbare Stelle?« fragte er fachmännisch.
»Ah!« antwortete Bastian, »das Wichtigste hätte ich fast vergessen. Im tiefsten Keller der Burg Ragar liegt ein bleiernes Beil. Ihr könnt Euch wohl vorstellen, daß Smärg dieses Beil wie seinen Augapfel bewacht, wenn ich Euch sage, daß es die einzige Waffe ist, mit der man ihn töten kann. Man muß ihm damit die beiden kleineren Köpfe abhauen.«
»Woher wißt Ihr das alles?« fragte Held Hynreck.
Bastian brauchte nicht zu antworten, denn in diesem Augenblick erschollen Schreckensrufe auf der Straße:
»Ein Drache! - Ein Ungeheuer! - Da seht doch, da oben am Himmel! - Entsetzlich! Er kommt auf die Stadt zu! - Rette sich, wer kann! - Nein, nein, er hat schon ein Opfer!«
Held Hynreck stürzte auf die Straße hinaus, und alle anderen folgten ihm, zuletzt Atréju und Bastian.
Am Himmel flatterte etwas, das einer riesigen Fledermaus glich. Als es näher kam, war es, als ob sich für einen Augenblick ein kalter Schatten auf die ganze Silberstadt legte. Es war Smärg, und er sah genauso aus, wie Bastian ihn eben erfunden hatte. Und mit den beiden kümmerlichen, aber so gefährlichen Händchen hielt er eine junge Dame fest, die aus Leibeskräften schrie und strampelte.
»Hynreck!« hörte man aus immer weiterer Ferne, »Hilfe, Hynreck! Rette mich, mein Held!«
Dann war es vorüber.
Hynreck hatte bereits seinen schwarzen Hengst aus dem Stall geholt und stand in einer der Silberfähren, die zum Festland fuhren.
»Schneller!« hörte man ihn dem Fährmann zurufen. »Ich gebe dir, was du willst, aber mach schneller!«
Bastian blickte ihm nach und murmelte:
»Ich hoffe bloß, ich habe es ihm nicht zu schwer gemacht.«
Atréju sah ihn von der Seite an. Dann sagte er leise: »Wir sollten besser vielleicht auch aufbrechen.«
»Wohin?«
»Durch mich bist du nach Phantásien gekommen«, meinte Atréju, »ich denke, ich sollte dir nun auch helfen, den Rückweg zu finden. Du willst doch sicher irgendwann wieder in deine Welt zurückkehren, nicht wahr?«
»Oh«, sagte Bastian, »daran habe ich bis jetzt noch gar nicht gedacht. Aber du hast recht, Atréju. Ja, natürlich, du hast ganz recht.«
»Du hast Phantásien gerettet«, fuhr Atréju fort, »und mir scheint, du hast viel dafür empfangen. Ich könnte mir denken, daß du jetzt zurückkehren möchtest, um damit deine Welt gesund zu machen. Oder gibt es noch etwas, das dich zurückhält?«
Und Bastian, der vergessen hatte, daß er nicht immer stark, schön, mutig und mächtig gewesen war, antwortete:
»Nein, ich wüßte nicht was.«
Atréju sah den Freund wieder nachdenklich an und fügte hinzu:
»Und vielleicht ist es ja ein langer und schwieriger Weg, wer weiß?«
»Ja, wer weiß?« stimmte Bastian zu. »Wenn du willst, dann laß uns gleich aufbrechen.«
Dann gab es noch einen kurzen, freundschaftlichen Streit unter den drei Herren, die sich nicht einigen konnten, wer von ihnen Bastian sein Pferd zur Verfügung stellen durfte. Aber Bastian kürzte die Sache ab, indem er sie bat, ihm Jicha, die Mauleselin zu schenken. Sie meinten zwar, ein solches Reittier sei unter Herrn Bastians Würde, aber da er darauf bestand, gaben sie schließlich nach.
Während die Herren alles für den Aufbruch vorbereiteten, gingen Bastian und Atréju zum Palast Quérquobads zurück, um dem Silbergreis für seine Gastfreundschaft zu danken und Abschied zu nehmen. Fuchur, der Glücksdrache, wartete auf Atréju vor dem Palast. Er war sehr zufrieden, als er hörte, daß man aufbrechen wollte. Städte waren nicht das Richtige für ihn, auch wenn sie so schön waren wie Amargánth.
Silbergreis Quérquobad war in die Lektüre eines Buches vertieft, das er sich aus der Bastian Balthasar Bux Bibliothek mitgenommen hatte.
»Ich hätte euch gerne noch lange bei mir zu Gast gehabt«, sagte er etwas zerstreut, »einen so großen Dichter beherbergt man nicht alle Tage.
Aber nun haben wir ja seine Werke zum Trost.«
Sie verabschiedeten sich und gingen hinaus.
Als Atréju sich auf Fuchurs Rücken setzte, fragte er Bastian:
»Wolltest du nicht auch auf Fuchur reiten?«
»Bald«, antwortete Bastian, »jetzt wartet Jicha auf mich, und ich hab's ihr versprochen.«
»Dann erwarten wir euch an Land«, rief Atréju. Der Glücksdrache erhob sich in die Luft und war schon im nächsten Augenblick außer Sichtweite.
Als Bastian zur Herberge zurückkam, warteten die drei Herren bereits reisefertig mit Pferden und Mauleselin in einer der Fähren. Sie hatten Jicha den Packsattel abgenommen und durch einen reichverzierten Reitsattel ersetzt. Warum, erfuhr sie aber erst, als Bastian zu ihr trat und ihr ins Ohr flüsterte:
»Du gehörst jetzt mir, Jicha.«
Und während die Barke ablegte und sich von der Silberstadt entfernte, klang noch lange über die bitteren Wasser des Tränensees Murhu das Freudengeschrei der alten Mauleselin.
Was übrigens Held Hynreck betrifft, so gelang es ihm tatsächlich, nach Morgul, dem Land des Kalten Feuers zu kommen. Er drang auch in den versteinerten Wald Wodgabay ein und überwand die drei Gräben um die Burg Ragar. Er fand das bleierne Beil und besiegte Smärg, den Drachen. Dann brachte er Oglamár zu ihrem Vater zurück, obwohl sie jetzt gern bereit gewesen wäre, ihn zu heiraten. Aber jetzt wollte er nicht mehr. Doch das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.