Regen fiel dicht und schwer aus dunklen, fast über den Köpfen der Reiter dahinfegenden Wolken. Dann begann es in großen, klebrigen Flocken zu schneien, und schließlich schneite und regnete es in einem. Der Sturmwind war so stark, daß sogar die Pferde sich schräg gegen ihn anstemmen mußten. Die Mäntel der Reiter waren schwer vor Nässe und schlugen klatschend auf die Rücken der Tiere.
Viele Tage waren sie nun schon unterwegs und die drei letzten davon waren sie über diese Hochebene geritten. Das Wetter hatte sich von Tag zu Tag verschlechtert, und der Boden war zu einem Gemisch aus Schlamm und scharfkantigen Steinbrocken geworden, das das Vorankommen immer mühsamer machte. Da und dort standen Gruppen von Buschwerk oder auch kleine, schiefgeblasene Gehölze, sonst bot sich dem Auge keine Abwechslung.
Bastian, der auf der Mauleselin Jicha voranritt, war mit seinem glitzernden Silbermantel noch vergleichsweise gut dran. Es erwies sich, daß dieser, obgleich leicht und dünn, hervorragend wärmte, und das Wasser an ihm abperlte. Hýkrions, des Starken, untersetzte Gestalt verschwand fast in einem blauen, dicken Wollmantel. Der feingliedrige Hýsbald hatte sich die große Kapuze seiner braunen Lodenkotze über die roten Haare gezogen. Und Hýdorns grauer Segeltuchumhang klebte an seinen hageren Gliedern.
Dennoch waren die drei Herren auf ihre etwas rauhe Art guter Dinge. Sie hatten nicht erwartet, daß die Abenteuerreise mit Herrn Bastian eine Art Sonntagsspaziergang werden würde. Ab und zu sangen sie mehr herzhaft als schön mit lauten Stimmen gegen den Sturm an, mal einzeln, mal im Chor. Ihr Lieblingslied war offenbar eines, das mit den Worten begann:
»Als ich ein kleines Büblein war,
juppheißa bei Regen und Wind…«
Wie sie erklärten, stammte es von einem Phantásienreisenden aus längst vergangenen Tagen, der Schexpir oder so ähnlich geheißen hatte.
Der einzige in der Gruppe, dem weder Nässe noch Kälte irgendwelchen Eindruck zu machen schien, war Atréju. Wie meistens seit Beginn der Reise, jagte er auf Fuchurs Rücken zwischen und über den Wolkenfetzen hin, eilte weit voraus, um das Land zu erkunden, und kehrte wieder zurück, um zu berichten.
Sie alle, sogar der Glücksdrache, waren der Meinung, sie befänden sich auf der Suche nach dem Weg, der Bastian in seine Welt zurückführen würde. Auch Bastian glaubte es. Er wußte selbst nicht, daß er Atréjus Vorschlag eigentlich nur aus Freundschaft und aus gutem Willen beigestimmt hatte, daß er es sich in Wirklichkeit aber überhaupt nicht wünschte. Aber Phantásiens Geographie wird durch die Wünsche bestimmt, ob sie einem nun bewußt sind oder nicht. Und da Bastian es war, der zu entscheiden hatte, in welcher Richtung sie weiterzogen, kam es, daß ihr Weg sie immer tiefer nach Phantásien hineinführte - und das hieß, auf jenen Mittelpunkt zu, den der Elfenbeinturm bildete. Was das für ihn bedeutete, sollte er erst später erfahren. Vorläufig ahnte weder er noch einer seiner Reisebegleiter etwas davon.
Bastians Gedanken waren mit etwas anderem beschäftigt.
Gleich am zweiten Tage nach ihrem Aufbruch aus Amargánth hatten sie in den Wäldern, die Murhu umgaben, eine deutliche Spur des Drachen Smärg gefunden. Ein Teil der Bäume, die hier standen, war versteinert. Offensichtlich hatte das Ungeheuer sich da niedergelassen und die Bäume mit dem eiskalten Feuer seines Rachens gestreift. Die Abdrücke seiner riesigen Heuschreckenfüße waren leicht zu erkennen gewesen. Atréju, der sich darauf verstand, hatte noch andere Spuren gefunden, nämlich die von Held Hynrecks Pferd. Also war Hynreck dem Drachen auf den Fersen.
»Ganz zufrieden bin ich damit nicht«, hatte Fuchur halb im Scherz gesagt und seine rubinroten Augenbälle gerollt, »denn ob Smärg nun ein Scheusal ist oder nicht, er ist immerhin ein - wenn auch noch so entfernter - Verwandter von mir.«
Sie waren Held Hynrecks Spur nicht gefolgt, sondern hatten eine andere Richtung eingeschlagen, denn ihr Ziel war es ja, Bastians Heimweg zu suchen.
Seither hatte er darüber nachgedacht, was er da eigentlich gemacht hatte, als er einen Drachen für Held Hynreck erfand. Sicherlich, Held Hynreck brauchte etwas, woran er sich bewähren und wogegen er kämpfen konnte. Aber es war ja durchaus nicht gesagt, daß er siegen würde. Was, wenn Smärg ihn umbrachte? Und außerdem war nun auch Prinzessin Oglamár in einer schrecklichen Lage. Gewiß, sie war ziemlich hochmütig gewesen, aber hatte Bastian deswegen das Recht, sie derartig ins Unglück zu bringen? Und von alldem einmal abgesehen, wer weiß, was Smärg sonst noch in Phantásien anrichtete. Bastian hatte da, ohne sich viel dabei zu denken, eine unabsehbare Gefahr geschaffen, die nun ohne ihn weiterbestehen und vielleicht unsägliches Unheil über viele Unschuldige bringen würde. Mondenkind, das wußte er, machte in ihrem Reich keinen Unterschied zwischen Bösen und Guten, zwischen Schönem und Häßlichem. Für sie war jedes Geschöpf in Phantásien gleich wichtig und berechtigt. Aber er, Bastian - durfte er sich denn ebenso verhalten wie sie? Und vor allem, wollte er es denn überhaupt?
Nein, sagte sich Bastian, er wollte durchaus nicht als der Schöpfer von Ungeheuern und Scheusalen in die Geschichte Phantásiens eingehen. Viel schöner wäre es, wenn er für seine Güte und Selbstlosigkeit berühmt wäre, wenn er das leuchtende Vorbild für alle darstellte, wenn man ihn den »guten Menschen« nennen oder wenn er als der »große Wohltäter« verehrt werden würde. Ja, das war es, was er sich wünschte.
Das Land war inzwischen felsig geworden, und Atréju, der auf Fuchur von einem Erkundungsflug zurückkam, meldete, er habe wenige Meilen voraus einen kleinen Talkessel erspäht, der verhältnismäßig guten Schutz gegen den Wind böte. Wenn er recht gesehen habe, so gäbe es dort sogar mehrere Höhlen, in denen man vor dem Regen und Schnee Unterschlupf finden könne.
Es war schon später Nachmittag und höchste Zeit, einen geeigneten Lagerplatz für die Nacht zu suchen. So waren alle über Atréjus Nachricht erfreut und trieben ihre Reittiere an. Der Weg verlief auf dem Grunde eines von immer höheren Felsen eingeschlossenen Tales, eines ausgetrockneten Flußbetts vielleicht. Nach etwa zwei Stunden war der Kessel erreicht und tatsächlich fanden sich mehrere Höhlen in den Wänden ringsum. Sie wählten die geräumigste und machten es sich darin behaglich, so gut es ging. Die drei Herren suchten in der Umgebung dürres Reisig und vom Sturm abgeknickte Äste zusammen, und bald brannte ein prächtiges Feuer in der Höhle. Die nassen Mäntel wurden zum Trocknen ausgebreitet, die Pferde und die Mauleselin hereingeholt und abgesattelt und sogar Fuchur, der sonst das Übernachten im Freien vorzog, rollte sich im Hintergrund der Höhle zusammen. Im Grunde war der Platz gar nicht so ungemütlich.
Während Hýdorn, der Zähe, ein großes Stück Fleisch aus ihrem Proviant an seinem langen Schwert über dem Feuer zu braten versuchte und alle ihm dabei erwartungsvoll zusahen, wandte sich Atréju an Bastian und bat:
»Erzähle uns mehr von Kris Ta!«
»Von wem?« fragte Bastian verständnislos.
»Von deiner Freundin Kris Ta, dem kleinen Mädchen, dem du deine Geschichten erzählt hast.«
»Ich kenne kein kleines Mädchen, das so heißt«, antwortete Bastian, »und wie kommst du darauf, daß ich ihr Geschichten erzählt hätte?«
Atréju schaute ihn wieder mit diesem nachdenklichen Blick an.
»In deiner Welt«, meinte er langsam, »hast du doch viele Geschichten erzählt - ihr und auch dir selbst.«
»Woher willst du das wissen, Atréju?«
»Du hast es gesagt. In Amargánth. Und du hast auch gesagt, daß man dich dafür oft ausgelacht hätte.«
Bastian starrte ins Feuer.
»Das ist richtig«, murmelte er, »ich hab's gesagt. Aber ich weiß nicht warum. Ich kann mich nicht daran erinnern.«
Es kam ihm selbst merkwürdig vor.
Atréju wechselte einen Blick mit Fuchur und nickte ernst, so als hätten die beiden etwas besprochen, was sich jetzt bestätigte. Aber er sagte nichts weiter. Offenbar wollte er vor den drei Herren nicht darüber reden.
»Das Fleisch ist fertig«, verkündete Hýdorn.
Er schnitt jedem mit dem Messer ein Stück ab und alle aßen. Daß es fertig gewesen wäre, konnte man zwar beim besten Willen nicht behaupten - es war außen etwas verkohlt und innen noch roh -, aber unter den gegebenen Umständen wäre es unangebracht gewesen, heikel zu sein.
Eine Zeitlang kauten alle, dann bat Atréju noch einmal:
»Erzähle uns, wie du zu uns gekommen bist!«
»Das weißt du doch«, antwortete Bastian, »du hast mich doch zur Kindlichen Kaiserin gebracht.«
»Ich meine, vorher«, sagte Atréju, »in deiner Welt, wo warst du da, und wie ist alles gekommen?«
Und nun erzählte Bastian, wie er Herrn Koreander das Buch gestohlen hatte, wie er damit auf den Speicher des Schulhauses geflohen war und dort zu lesen begonnen hatte. Als er anfangen wollte, von Atréjus Großer Suche zu berichten, winkte dieser ab. Es schien ihn nicht zu interessieren, was Bastian über ihn gelesen haue. Statt dessen interessierte ihn höchlichst, Genaueres über das Wie und Warum von Bastians Besuch bei Koreander und seiner Flucht auf den Speicher des Schulhauses zu erfahren.
Bastian dachte angestrengt nach, aber er fand nichts mehr davon in seinem Gedächtnis. Alles, was damit zusammenhing, daß er Angst gehabt hatte, daß er dick und schwach und empfindlich gewesen war, hatte er vergessen. Seine Erinnerung war bruchstückhaft, und diese Bruchstücke schienen ihm so fern und undeutlich, als habe es sich nicht um ihn selbst, sondern um einen anderen gehandelt.
Atréju fragte ihn nach anderen Erinnerungen, und Bastian erzählte von den Zeiten, als seine Mutter noch gelebt hatte, vom Vater, von seinem Zuhause, von der Schule und seiner Stadt - was er eben noch wußte.
Die drei Herren waren schon m Schlaf gesunken, und Bastian erzählte immer noch. Es wunderte ihn, daß Atréju so großes Interesse gerade fürs Alltäglichste hatte. Vielleicht lag es an der Art, wie Atréju ihm zuhörte, daß auch ihm selbst die gewöhnlichsten und alltäglichsten Dinge nach und nach gar nicht mehr so alltäglich vorkamen, sondern so, als enthielten sie alle ein Geheimnis, das er nur nie bemerkt hatte.
Schließlich wußte er nichts mehr, ihm fiel nichts mehr ein, was er noch hätte erzählen können. Es war schon spät in der Nacht, das Feuer war heruntergebrannt. Die drei Herren schnarchten leise. Atréju saß mit reglosem Gesicht und schien in Nachdenken versunken.
Bastian streckte sich aus, wickelte sich in seinen Silbermantel und war eben am Einschlafen, als Atréju leise sagte:
»Es liegt an AURYN.«
Bastian stützte den Kopf auf eine Hand und sah den Freund schlaftrunken an.
»Was meinst du damit?«
»Der Glanz«, fuhr Atréju fort, als spräche er zu sich selbst, »wirkt bei unsereinem anders als bei einem Menschenkind.«
»Wie kommst du darauf?«
»Das Zeichen gibt dir große Macht, es erfüllt dir alle deine Wünsche, aber zugleich nimmt es dir etwas: Die Erinnerung an deine Welt.«
Bastian dachte nach. Er empfand nicht, daß ihm etwas fehlte.
»Graógramán hat mir gesagt, ich muß den Weg der Wünsche gehen, wenn ich meinen Wahren Willen finden soll. Und das heißt die Inschrift auf AURYN. Aber dazu muß ich von einem Wunsch zum nächsten gehen. Ich kann keinen überspringen. Anders kann ich in Phantásien überhaupt nicht weiterkommen, hat er gesagt. Dazu brauche ich das Kleinod.«
»Ja«, sagte Atréju, »es gibt dir den Weg und nimmt dir gleichzeitig das Ziel.«
»Na«, meinte Bastian unbesorgt, »Mondenkind wird schon gewußt haben, was sie tat, als sie mir das Zeichen gab. Du machst dir unnötige Gedanken, Atréju. Ganz bestimmt ist AURYN keine Falle.«
»Nein«, murmelte Atréju, »das glaube ich auch nicht.«
Und nach einer Weile fügte er hinzu:
»Jedenfalls ist es gut, daß wir schon auf der Suche nach dem Weg in deine Welt sind. Das sind wir doch, nicht wahr?«
»Jaja«, antwortete Bastian schon halb im Schlaf.
Mitten in der Nacht erwachte er von einem eigentümlichen Geräusch. Er konnte sich nicht erklären, was es war. Das Feuer war erloschen, und völlige Dunkelheit umgab ihn. Dann fühlte er Atréjus Hand auf seiner Schulter und hörte ihn flüstern:
»Was ist das?«
»Ich weiß auch nicht«, flüsterte er zurück.
Sie krochen zum Eingang der Höhle, von wo das Geräusch kam, und horchten genauer hin.
Es klang wie ein unterdrücktes Schluchzen und Weinen aus unzähligen Kehlen. Doch es hatte nichts Menschliches und noch nicht einmal Ähnlichkeit mit tierischen Klagelauten. Es war wie ein allgemeines Rauschen, das manchmal zu einem Seufzen anschwoll wie eine aufschäumende Welle und dann wieder verebbte, um nach einiger Zeit von neuem anzuschwellen. Es war der jammervollste Ton, den Bastian je gehört hatte.
»Wenn man wenigstens etwas sehen könnte!« flüsterte Atréju.
»Warte!« antwortete Bastian, »ich habe doch Al' Tsahir.«
Er zog den leuchtenden Stein aus seiner Tasche und hielt ihn hoch. Das Licht war mild wie das einer Kerze und erleuchtete den Talkessel nur schwach, doch genügte dieser Schimmer, um den beiden Freunden ein Bild zu zeigen, bei dem sich ihnen vor Abscheu die Haut kräuselte.
Der ganze Talkessel war von armlangen, unförmigen Würmern erfüllt, deren Haut aussah, als wären sie in schmutzige, zerfetzte Lumpen und Lappen gewickelt. Zwischen deren Falten konnten sie etwas wie schleimige Gliedmaßen hervorstrecken, die aussahen wie die Fangarme von Polypen. An einem Ende ihres Leibes blickten unter den Lappen jeweils zwei Augen hervor, Augen ohne Lider, aus denen beständig Tränen rannen. Sie selbst und der ganze Talkessel waren naß davon.
In dem Augenblick, als sie vom Licht Al' Tsahirs getroffen wurden, erstarrten sie, und so war zu sehen, womit sie gerade beschäftigt gewesen waren. In ihrer Mitte erhob sich ein Turm aus feinstem Silberfiligran - schöner und kostbarer, als alle Bauwerke, die Bastian in Amargánth gesehen hatte. Viele der wurmartigen Wesen waren offenbar gerade dabei gewesen, auf diesem Turm herumzuklettern und ihn aus einzelnen Teilen zusammenzusetzen. Jetzt aber waren alle reglos und starrten in das Licht von Al' Tsahir.
»Wehe! Wehe!« klang es wie ein entsetztes Flüstern durch den Talkessel, »jetzt ist unsere Häßlichkeit offenbar geworden! Wehe! Wehe! Wessen Auge hat uns erblickt? Wehe! Wehe, daß wir uns selbst sehen müssen! Wer du auch sein magst, grausamer Eindringling, sei gnädig und habe Erbarmen, und nimm dieses Licht wieder von uns!«
Bastian erhob sich.
»Ich bin Bastian Balthasar Bux«, sagte er, »und wer seid ihr?«
»Wir sind die Acharai », scholl es ihm entgegen, « die Acharai, die Acharai! Die unglücklichsten Geschöpfe Phantásiens sind wir!«
Bastian schwieg und schaute bestürzt Atréju an, der nun ebenfalls aufstand und neben ihn trat.
»Dann seid ihr es«, fragte er, »die die schönste Stadt Phantásiens gebaut habt, Amargánth?«
»So ist es, ach«, riefen die Wesen, »aber nimm dieses Licht von uns und sieh uns nicht an. Sei barmherzig!«
»Und ihr habt den Tränensee Murhu geweint?«
»Herr«, ächzten die Acharai, »es ist, wie du sagst. Doch werden wir sterben vor Scham und Grausen über uns selbst, wenn du uns weiterhin zwingst, in deinem Licht zu stehen. Warum vermehrst du unsere Qual so grausam? Ach, wir haben dir nichts getan, und niemand ist je durch unseren Anblick beleidigt worden.«
Bastian steckte den Stein Al’ Tsahir wieder in seine Tasche, und es wurde stockdunkel.
»Danke!« riefen die schluchzenden Stimmen, »danke für deine Gnade und dein Erbarmen, Herr!«
»Ich möchte mit euch reden«, sagte Bastian, »ich will euch helfen.«
Ihm war beinahe schlecht vor Abscheu und Mitleid mit diesen Kreaturen der Verzweiflung. Es war ihm klar, daß es jene Geschöpfe waren, von denen er in seiner Geschichte über die Entstehung von Amargánth gesprochen hatte, aber wie jedesmal, so war er sich auch diesmal nicht sicher, ob sie schon seit immer dagewesen oder erst durch ihn entstanden waren. In diesem letzteren Fall wäre er auf irgendeine Weise verantwortlich für all dieses Leid.
Aber wie auch immer es sich verhalten mochte, er war entschlossen, diese schreckliche Sache zu ändern.
»Ach«, wimmerten die klagenden Stimmen, »wer kann uns helfen?«
»Ich«, rief Bastian, »ich trage AURYN.«
Nun wurde es plötzlich still. Das Weinen verebbte ganz.
»Woher kommt ihr so plötzlich?« fragte Bastian ins Dunkel.
»Wir wohnen in den lichtlosen Tiefen der Erde«, raunte es zurück wie ein vielstimmiger Chor, »um unseren Anblick der Sonne zu verbergen. Dort weinen wir immerfort über unser Dasein und waschen mit unseren Tränen das unzerstörbare Silber aus dem Urgestein, aus dem wir dann jenes Filigran weben, das du gesehen hast. Nur in den finstersten Nächten wagen wir uns an die Oberfläche hinauf, und diese Höhlen sind unser Ausgang. Hier oben fügen wir dann zusammen, was wir unten vorbereitet haben. Und gerade diese Nacht war dunkel genug, um uns unseren eigenen Anblick zu ersparen. Darum sind wir hier. Durch unsere Arbeit versuchen wir unsere Häßlichkeit an der Welt wiedergutzumachen, und wir finden ein wenig Trost darin.«
»Aber ihr könnt doch nichts dafür, daß ihr so seid!« meinte Bastian.
»Ach, es gibt mancherlei Schuld«, antworteten die Acharai, »die der Tat, die des Gedankens - die unsere ist die unseres Daseins.«
»Wie kann ich euch helfen?« fragte Bastian, der fast vor Mitleid weinte.
»Ach, großer Wohltäter«, riefen die Acharai, »der du AURYN trägst und die Macht hast, uns zu erlösen - wir bitten dich nur um eins: Gib uns eine andere Gestalt!«
»Das will ich tun, seid nur ganz getrost, ihr armen Würmer!« sagte Bastian. »Ich wünsche mir, daß ihr jetzt einschlaft, und wenn ihr morgen früh aufwacht, dann kriecht ihr aus eurer Hülle heraus und seid Schmetterlinge geworden. Ihr sollt bunt und lustig sein und nur noch lachen und Spaß haben! Von morgen an heißt ihr nicht mehr Acharai, die Immer-Weinenden, sondern Schlamuffen, die Immer-Lachenden!«
Bastian lauschte in die Dunkelheit, aber es war nichts mehr zu hören.
»Sie sind schon in Schlaf gefallen«, flüsterte Atréju.
Die beiden Freunde kehrten in die Höhle zurück. Die Herren Hýsbald, Hýdorn und Hýkrion schnarchten noch immer leise und hatten von dem ganzen Ereignis nichts bemerkt.
Bastian legte sich nieder.
Er fühlte sich äußerst zufrieden mit sich.
Bald würde ganz Phantásien von dieser guten Tat erfahren, die er soeben vollbracht hatte. Und sie war ja wirklich selbstlos gewesen, denn niemand konnte behaupten, daß er irgend etwas dabei für sich gewünscht hatte. Der Ruhm seiner Güte würde in hellem Glanz erstrahlen.
»Was sagst du dazu, Atréju?« flüsterte er.
Atréju schwieg eine Weile, ehe er antwortete:
»Was mag es dich gekostet haben?«
Erst ein wenig später, als Atréju schon schlief, begriff Bastian, daß der Freund damit auf das Vergessen angespielt hatte, und nicht etwa auf Bastians Selbstverleugnung. Aber er dachte nicht weiter darüber nach und schlief im Vorgefühl der Freude ein.
Am nächsten Morgen erwachte er von lärmenden Verwunderungsrufen der drei Ritter:
»Seht euch das an! - Meiner Treu, da kichert sogar meine alte Mähre!«
Bastian sah, daß sie im Höhleneingang standen, und Atréju war bei ihnen. Er war der einzige, der nicht lachte.
Bastian erhob sich und trat zu ihnen.
Im ganzen Talkessel krabbelte und purzelte und flatterte es von den komischsten kleinen Gestalten, die er je gesehen hatte. Alle trugen bunte Mottenflügel auf dem Rücken und waren in allerhand karierten, gestreiften, geringelten oder gepunkteten Plunder gekleidet, doch schien jedes Kleidungsstück entweder zu eng oder zu weit, zu groß oder zu klein und sozusagen auf gut Glück zusammengenäht. Nichts stimmte, und überall, sogar auf den Flügeln, waren Flicken aufgesetzt. Keines der Wesen glich dem anderen, ihre Gesichter waren bunt wie die von Clowns, hatten runde, rote Nasen oder lächerliche Zinken und übertriebene Münder. Manche hatten Zylinderhüte in allen Farben auf, andere spitze Mützen, bei einigen standen nur drei knallrote Haarschöpfe in die Höhe, und ein paar hatten spiegelnde Glatzen. Der größte Teil von ihnen saß und hing an dem zierlichen Turm aus kostbarem Silberfiligran, turnte daran, hopste darauf herum und versuchte ihn kaputtzumachen.
Bastian rannte hinaus.
»He, ihr da!« schrie er hinauf, »hört sofort auf! Das könnt ihr doch nicht machen!«
Die Wesen hörten auf und blickten alle zu ihm hinunter.
Eines von ganz oben fragte: »Was hat er gesagt?«
Und ein anderes rief von unten hinauf:
»Der Dingsda sagt, wir können das nicht machen.«
»Warum sagt er, wir können das nicht machen?« fragte ein drittes.
»Weil ihr das eben nicht tun dürft!« schrie Bastian. »Ihr könnt doch nicht einfach alles kaputtmachen!«
»Der Dingsda sagt, wir können nicht alles kaputtmachen«, teilte die erste Clown-Motte den anderen mit.
»Doch, das können wir«, antwortete eine andere und riß ein großes Stück aus dem Turm.
Die erste rief wieder zu Bastian hinunter, wobei sie wie verrückt hopste: »Doch, das können wir!«
Der Turm schwankte und begann bedenklich zu knacken.
»Was macht ihr denn!« schrie Bastian. Er war zornig und erschrocken, aber er wußte nicht, wie er sich verhalten sollte, denn diese Wesen waren wirklich sehr komisch.
»Der Dingsda«, wandte sich die erste Motte wieder an ihre Genossen, »fragt, was wir machen.«
»Was machen wir eigentlich?« wollte eine andere wissen.
»Wir machen Spaß«, erklärte eine dritte.
Darauf brachen alle in der Umgebung in ein ungeheures Gekicher und Gepruste aus.
»Wir machen Spaß!« rief die erste Motte zu Bastian hinunter und verschluckte sich fast vor Lachen.
»Aber der Turm wird zusammenbrechen, wenn ihr nicht aufhört!« schrie Bastian.
»Der Dingsda«, teilte die erste Motte den anderen mit, »meint, der Turm wird zusammenbrechen.«
»Na und?« sagte eine andere.
Und die erste rief nach unten: »Na und?«
Bastian war sprachlos, und ehe er noch eine passende Antwort gefunden hatte, begannen alle Clown-Motten, die an dem Turm hingen, plötzlich eine Art Reigen in der Luft zu tanzen, wobei sie sich allerdings nicht an den Händen hielten, sondern teils an den Beinen, teils am Kragen, manche wirbelten im Kopfstand mit, und alle johlten und lachten.
Was die geflügelten Kerlchen da aufführten, sah derart komisch und vergnügt aus, daß Bastian gegen seinen Willen mitlachen mußte.
»Aber ihr dürft das nicht!« rief er. »Es ist das Werk der Acharai!«
»Der Dingsda«, wandte sich die erste Clown-Motte wieder an ihre Kumpane, »sagt, wir dürfen das nicht.«
»Wir dürfen alles«, schrie eine andere und schlug Kobolz in der Luft, »wir dürfen alles, was uns nicht verboten ist. Und wer verbietet uns was? Wir sind die Schlamuffen!«
»Wer verbietet uns was?« riefen alle Clown-Motten im Chor. »Wir sind die Schlamuffen!«
»Ich!« antwortete Bastian.
»Der Dingsda«, meinte die erste Motte zu den anderen, »sagt »ich« .«
»Wieso du?« fragten die anderen, »du hast uns gar nichts zu sagen.«
»Doch nicht ich!« erklärte die erste, »der Dingsda sagt »er« .«
»Warum sagt der Dingsda »er« ?« wollten die anderen wissen, »und zu wem sagt er überhaupt »er« ?«
»Zu wem sagst du »er« ?« rief die erste Motte hinunter.
»Ich habe nicht »er« gesagt«, schrie Bastian halb ärgerlich, halb lachend hinauf. »Ich sage, daß ich euch verbiete, den Turm zu demolieren.«
»Er verbietet uns«, erklärte die erste Motte den anderen, »den Turm zu demolieren.«
»Wer?« fragte eine neu Dazugekommene.
»Der Dingsda«, erwiderten die anderen.
Und die neu Angekommene sagte: »Ich kenne den Dingsda nicht. Wer ist das überhaupt?«
Die erste rief: »He, Dingsda, wer bist du überhaupt?«
»Ich bin kein Dingsda!« sqhrie Bastian nun doch ziemlich wütend, »ich bin Bastian Balthasar Bux und habe aus euch die Schlamuffen gemacht, damit ihr nicht mehr weint und jammert. Heute nacht wart ihr noch unglückliche Acharai. Ihr könntet eurem Wohltäter ruhig mit etwas mehr Respekt antworten!«
Alle Clown-Motten hatten gleichzeitig aufgehört, zu hopsen und zu tanzen und wendeten ihre Blicke zu Bastian hin. Plötzlich herrschte atemlose Stille.
»Was hat der Dingsda gesagt?« flüsterte eine Motte, die weiter entfernt saß, aber die neben ihr gab ihr einen Schlag auf den Hut, daß dieser ihr über Augen und Ohren rutschte. Alle anderen machten: »Pst!«
»Würdest du das bitte noch einmal ganz langsam und ausführlich sagen?« bat die erste Motte betont höflich.
»Ich bin euer Wohltäter!« rief Bastian.
Daraufhin brach eine geradezu lächerliche Aufregung unter den Clown-Motten aus, eine sagte es der anderen weiter, und schließlich krabbelten und flatterten all die unzähligen Gestalten, die bisher über den ganzen Talkessel verteilt gewesen waren, in einem Knäuel um Bastian herum, wobei sie sich gegenseitig in die Ohren schrien:
»Habt ihr das gehört? Habt ihr das begriffen? Er ist unser Tolwäter! Er heißt Nastiban Baltebux! Nein, er heißt Buxian Wähltoter! Quatsch, er heißt Saratät Buxiwohl! Nein, Baldrian Hix! Schlux! Babeltran Totwähler! Nix! Flax! Trix!«
Die ganze Gesellschaft schien außer sich vor Begeisterung. Sie schüttelten sich gegenseitig die Hände, lüpften die Hüte und schlugen sich auf Schultern und Bäuche, daß große Staubwolken aufstiegen.
»Was sind wir für Glückspilze!« riefen sie. »Hoch lebe unser Buxtäter Sansibar Bastelwohl!«
Und immerfort schreiend und lachend stob der ganze riesige Schwärm in die Höhe und wirbelte fort. Der Lärm verhallte in der Ferne.
Bastian stand da und wußte kaum noch, wie er richtig hieß.
Er war sich nicht mehr so sicher, ob er wirklich etwas Gutes getan hatte.