26. Die Wasser des Lebens

Zögernd stand der Junge, der keinen Namen mehr hatte, auf und ging ein paar Schritte auf Atréju zu. Dann blieb er stehen. Atréju tat nichts, er blickte ihm nur aufmerksam und ruhig entgegen. Die Wunde auf seiner Brust blutete nicht mehr.

Lange standen sie sich gegenüber, und keiner von beiden sagte ein Wort. Es war so still, daß jeder die Atemzüge des anderen hörte.

Langsam griff der Junge ohne Namen nach der goldenen Kette, die um seinen Hals lag, und nahm AURYN ab. Er bückte sich nieder und legte das Kleinod sorgsam vor Atréju in den Schnee.Dabei betrachtete er noch einmal die beiden Schlangen, die helle und die dunkle, die einander in den Schwanz bissen und ein Oval bildeten. Dann ließ er es los.

Im gleichen Augenblick wurde der goldene Glanz AURYNS so über alle Maßen hell und strahlend, daß er geblendet die Augen schließen mußte, als hätte er in die Sonne geschaut. Als er sie wieder öffnete, sah er, daß er in einer Kuppelhalle stand, groß wie das Himmelsgewölbe. Die Quader dieses Bauwerks waren aus goldenem Licht. Mitten in diesem unermeßlichen Raum aber lagen, riesig wie eine Stadtmauer, die beiden Schlangen.

Atréju, Fuchur und der Junge ohne Namen standen nebeneinander auf der Seite des schwarzen Schlangenkopfes, der in seinem Rachen das Ende der weißen Schlange hielt. Das starre Auge mit der senkrechten Pupille war auf die drei gerichtet. Im Vergleich zu ihm waren sie winzig, sogar der Glücksdrache erschien klein wie ein weißes Räupchen.

Die reglosen Riesenleiber der Schlangen glänzten wie unbekanntes Metall, nachtschwarz die eine, silberweiß die andere. Und das Verderben, das sie hervorrufen konnten, war nur gebannt, weil sie sich gegenseitig gefangenhielten. Wenn sie sich je losließen, dann würde die Welt untergehen. Das war gewiß.

Aber indem sie sich gegenseitig fesselten, hüteten sie zugleich das Wasser des Lebens. Denn in der Mitte, um die sie lagen, rauschte ein mächtiger Springquell, dessen Strahl auf und nieder tanzte und im Fallen Tausende von Formen bildete und wieder auflöste, viel schneller, als das Auge zu folgen vermochte. Die schäumenden Wasser zerstiebten zu feinem Nebel, in dem das goldene Licht sich in allen Regenbogenfarben brach. Es war ein Brausen und Jubeln und Singen und Jauchzen und Lachen und Rufen mit tausend Stimmen der Freude.

Der Junge ohne Namen schaute wie ein Verdurstender nach diesem Wasser hin - aber wie sollte er zu ihm gelangen? Der Schlangenkopf regte sich nicht.

Plötzlich hob Fuchur den Kopf. Seine rubinroten Augenbälle begannen zu funkeln.

»Könnt ihr auch verstehen, was die Wasser sagen?« fragte er.

»Nein«, antwortete Atréju, »ich nicht.«

»Ich weiß nicht, wie es kommt«, raunte Fuchur, »aber ich verstehe es ganz deutlich. Vielleicht, weil ich ein Glücksdrache bin. Alle Sprachen der Freude sind miteinander verwandt.«

»Was sagen die Wasser!« fragte Atréju.

Fuchur horchte aufmerksam und sprach langsam und Wort für Wort mit, was er hörte:

»Wir, die Wasser des Lebens!

Quelle, die aus sich selbst entspringt

und um so reicher fließt,

je mehr ihr aus uns trinkt.«

Wieder lauschte er eine Weile und sagte:

»Sie rufen immerfort: Trink! Trink! Tu, was du willst!«

»Wie können wir denn hinkommen?« fragte Atréju.

»Sie fragen uns nach unseren Namen«, erklärte Fuchur.

»Ich bin Atréju!« rief Atréju.

»Ich bin Fuchur!« sagte Fuchur.

Der Junge ohne Namen blieb stumm.

Atréju sah ihn an, dann nahm er ihn bei der Hand und rief:

»Er ist Bastian Balthasar Bux.«

»Sie fragen«, übersetzte Fuchur, »warum er nicht selber spricht.«

»Er kann es nicht mehr«, sagte Atréju, »er hat alles vergessen.«

Fuchur horchte wieder eine Weile auf das Rauschen und Brausen.

»Ohne Erinnerung, sagen sie, kann er nicht eintreten. Die Schlangen lassen ihn nicht durch.«

»Ich habe alles für ihn bewahrt«, rief Atréju, »alles, was er mir von sich und seiner Welt erzählt hat. Ich stehe für ihn ein.«

Fuchur lauschte.

»Sie fragen - mit welchem Recht du das tust.«

»Ich bin sein Freund«, sagte Atréju.

Wieder verging eine Weile, während Fuchur aufmerksam lauschte.

»Es scheint nicht gewiß«, flüsterte er Atréju zu, »ob sie das gelten lassen. - Jetzt sprechen sie von deiner Wunde. Sie wollen wissen, wie es dazu kam.«

»Wir hatten beide recht«, sagte Atréju, »und haben uns beide geirrt. Aber jetzt hat Bastian AURYN freiwillig abgelegt.«

Fuchur horchte und nickte dann.

»Ja«, sagte er, »jetzt lassen sie es gelten. Dieser Ort ist AURYN. Wir sind willkommen, sagen sie.«

Atréju schaute zu der riesigen Goldkuppel auf.

»Jeder von uns«, flüsterte er, »hat es um den Hals getragen - sogar du, Fuchur, für eine kleine Weile.«

Der Glücksdrache machte ihm ein Zeichen, still zu sein, und horchte wieder auf den Gesang der Wasser.

Dann übersetzte er:

»AURYN ist die Tür, die Bastian suchte. Er hat sie von Anfang an mit sich getragen. Aber nichts aus Phantásien - sagen sie - wird von den Schlangen über die Schwelle gelassen. Darum muß Bastian alles hergeben, was ihm die Kindliche Kaiserin geschenkt hat. Sonst kann er nicht vom Wasser des Lebens trinken.«

»Aber wir sind doch in ihrem Zeichen«, rief Atréju, »ist sie selbst denn nicht hier?«

»Sie sagen, hier endet Mondenkinds Macht. Und sie als einzige kann diesen Ort niemals betreten. Sie kann nicht ins Innere des Glanzes, weil sie sich selbst nicht ablegen kann.«

Atréju schwieg verwirrt.

»Sie fragen jetzt«, fuhr Fuchur fort, »ob Bastian bereit ist?«

»Ja«, sagte Atréju laut, »er ist bereit.«

In diesem Augenblick begann der riesenhafte schwarze Schlangenkopf sich sehr langsam zu heben, ohne dabei das Ende der weißen Schlange, das er im Rachen hielt, loszulassen. Die gewaltigen Körper bogen sich auf, bis sie ein hohes Tor bildeten, dessen eine Hälfte schwarz und dessen andere weiß war.

Atréju führte Bastian an der Hand durch dieses schauerliche Tor auf den Springquell zu, der nun in seiner ganzen Größe und Herrlichkeit vor ihnen lag. Fuchur folgte den beiden. Und während sie darauf zugingen, fiel mit jedem Schritt von Bastian eine der wunderbaren phantasischen Gaben nach der anderen ab. Aus dem schönen, starken und furchtlosen Helden wurde wieder der kleine, dicke und schüchterne Junge. Sogar seine Kleidung, die in Yors Minroud fast schon zu Lumpen zerfallen war, verschwand und löste sich vollends in Nichts auf. So stand er zuletzt nackt und bloß vor dem großen Goldrund, in dessen Mitte die Wasser des Lebens aufsprangen, hoch wie ein kristallener Baum.

In diesem letzten Augenblick, da er keine der phantasischen Gaben mehr besaß, aber die Erinnerung an seine Welt und sich selbst noch nicht wiederbekommen hatte, durchlebte er einen Zustand völliger Unsicherheit, in dem er nicht mehr wußte, in welche Welt er gehörte und ob es ihn selbst in Wirklichkeit gab.

Aber dann sprang er einfach in das kristallklare Wasser hinein, wälzte sich, prustete, spritzte und ließ sich den funkelnden Tropfenregen in den Mund laufen. Er trank und trank, bis sein Durst gestillt war. Und Freude erfüllte ihn von Kopf bis Fuß, Freude zu leben und Freude, er selbst zu sein. Denn jetzt wußte er wieder, wer er war und wohin er gehörte. Er war neu geboren. Und das schönste war, daß er jetzt genau der sein wollte, der er war. Wenn er sich unter allen Möglichkeiten eine hätte aussuchen dürfen, er hätte keine andere gewählt. Denn jetzt wußte er: Es gab in der Welt tausend und tausend Formen der Freude, aber im Grunde waren sie alle eine einzige, die Freude, lieben zu können. Beides war ein und dasselbe.

Auch späterhin, als Bastian längst wieder in seine Welt zurückgekehrt war, als er erwachsen und schließlich alt wurde, verließ ihn diese Freude nie mehr ganz. Auch in den schwersten Zeiten seines Lebens blieb ihm eine Herzensfrohheit, die ihn lächeln machte und die andere Menschen tröstete.

»Atréju!« schrie er dem Freund zu, der mit Fuchur am Rande des großen Goldrunds stand, »komm doch auch! Komm! Trink! Es ist wunderbar!«

Atréju schüttelte lachend den Kopf.

»Nein«, rief er zurück, »diesmal sind wir nur zu deiner Begleitung hier.«

»Diesmal?« fragte Bastian, »was meinst du damit?«

Atréju wechselte einen Blick mit Fuchur, dann sagte er:

»Wir beide waren schon einmal hier. Wir haben den Ort nicht gleich wiedererkannt, weil wir damals schlafend hergebracht wurden und schlafend wieder fort. Aber jetzt haben wir uns erinnert.«

Bastian stieg aus dem Wasser.

»Ich weiß jetzt wieder, wer ich bin«, sagte er strahlend.

»Ja«, meinte Atréju und nickte, »jetzt erkenne ich dich auch wieder. Jetzt siehst du so aus wie damals, als ich dich im Zauber Spiegel Tor gesehen habe.«

Bastian schaute zu dem schäumenden, funkelnden Wasser empor.

»Ich möchte es meinem Vater bringen«, rief er in das Tosen, »aber wie?«

»Ich glaube nicht, daß es möglich ist«, antwortete Atréju, »man kann doch aus Phantásien nichts über die Schwelle bringen.«

»Bastian schon!« ließ sich Fuchur vernehmen, dessen Stimme jetzt wieder ihren vollen Bronzeklang hatte, »er wird es können!«

»Du bist eben ein Glücksdrache!« sagte Bastian.

Fuchur machte ihm ein Zeichen, still zu sein und hörte dem tausendstimmigen Rauschen zu.

Dann erklärte er:

»Die Wasser sagen, du mußt dich jetzt auf den Weg machen und wir auch.«

»Wo ist denn mein Weg?« fragte Bastian.

»Zum anderen Tor hinaus«, übersetzte Fuchur, »dort wo der weiße Schlangenkopf liegt.«

»Gut«, sagte Bastian, »aber wie komm' ich hinaus? Der weiße Kopf regt sich nicht.«

In der Tat lag der Kopf der weißen Schlange bewegungslos. Sie hielt das Ende der schwarzen Schlange im Rachen, und ihr Riesenauge starrte Bastian an.

»Die Wasser fragen dich«, verkündete Fuchur, »ob du alle Geschichten, die du in Phantásien begonnen hast, auch zu Ende geführt hast.«

»Nein«, sagte Bastian, »eigentlich keine.«

Fuchur horchte eine Weile. Sein Gesicht nahm einen bestürzten Ausdruck an.

»Sie sagen, dann wird dich die weiße Schlange nicht durchlassen. Du mußt zurück nach Phantásien und alles zu Ende bringen.«

»Alle Geschichten?« stammelte Bastian, »dann kann ich nie mehr zurück. Dann war alles umsonst.«

Fuchur lauschte gespannt.

»Was sagen sie?« wollte Bastian wissen.

»Still!« sagte Fuchur.

Nach einer Weile seufzte er und erklärte:

»Sie sagen, es ist nicht zu ändern, es sei denn, es fände sich jemand, der diese Aufgabe für dich übernimmt.«

»Aber es sind unzählige Geschichten«, rief Bastian, »und aus jeder kommen immer neue. So eine Aufgabe kann niemand übernehmen.«

»Doch«, sagte Atréju, »ich.«

Bastian schaute ihn sprachlos an. Dann fiel er ihm um den Hals und stammelte:

»Atréju, Atréju! Das werd' ich dir nie vergessen!«

Atréju lächelte.

»Gut, Bastian, dann vergißt du auch Phantásien nicht.«

Er gab ihm einen brüderlichen Klaps auf die Backe, dann drehte er sich rasch um und ging auf das Tor des schwarzen Schlangenkopfes zu, das noch immer hochgewölbt war wie in dem Augenblick, als sie den Ort betreten hatten.

»Fuchur«, sagte Bastian, »wie wollt ihr das je zu Ende bringen, was ich euch da zurücklasse?«

Der weiße Drache zwinkerte mit einem seiner rubinroten Augenbälle und antwortete:

»Mit Glück, mein Junge! Mit Glück!«

Damit folgte er seinem Herrn und Freund.

Bastian blickte ihnen nach, wie sie durch das Tor hinausgingen, zurück nach Phantásien. Die beiden drehten sich noch einmal um und winkten ihm zu. Dann senkte sich der schwarze Schlangenkopf, bis er wieder auf dem Boden lag. Bastian konnte Atréju und Fuchur nicht mehr sehen.

Er war jetzt allein.

Er drehte sich nach dem anderen, dem weißen Schlangenkopf um und sah, daß dieser sich zur gleichen Zeit gehoben hatte und daß die Schlangenkörper auf dieselbe Art zu einem Tor gebogen waren, wie vorher auf der anderen Seite.

Rasch schöpfte er mit beiden Händen vom Wasser des Lebens und rannte auf dieses Tor zu. Dahinter war Dunkelheit.

Bastian warf sich in sie hinein - und stürzte ins Leere.

»Vater!« schrie er, »Vater! - Ich - bin - Bastian - Balthasar - Bux!«

»Vater! Vater! - Ich - bin - Bastian - Balthasar - Bux!«

Noch während er es schrie, fand er sich ohne Übergang auf dem Speicher des Schulhauses wieder, von wo aus er einst, vor langer Zeit, nach Phantásien gekommen war. Er erkannte den Ort nicht gleich und war wegen der wunderlichen Dinge, die er um sich erblickte, wegen der ausgestopften Tiere, des Gerippes und der Gemälde, sogar einen kurzen Augenblick unsicher, ob er sich nicht doch noch immer in Phantásien befand. Doch dann sah er seine Schulmappe und den verrosteten siebenarmigen Leuchter mit den erloschenen Kerzen, und nun wußte er, wo er war.

Wie lange mochte es her sein, daß er von hier aus seine große Reise durch die Unendliche Geschichte angetreten hatte? Wochen? Monate? Vielleicht Jahre? Er hatte einmal die Geschichte eines Mannes gelesen, der sich nur für eine Stunde in einer Zauberhöhle aufgehalten hatte, und als er zurückkehrte, waren hundert Jahre verstrichen, und von allen Menschen, die er gekannt hatte, lebte nur noch einer, der damals ein kleines Kind gewesen und jetzt uralt war.

Durch die Luke im Dach fiel graues Tageslicht herein, aber es war nicht auszumachen, ob es Vormittag oder Nachmittag war. Es herrschte bittere Kälte auf dem Speicher, genauso wie in der Nacht, als Bastian von hier fortgegangen war.

Er wickelte sich aus dem Haufen staubiger Militärdecken, unter dem er lag, zog seine Schuhe und seinen Mantel an und stellte überrascht fest, daß beide feucht waren wie an jenem Tag, als es so geregnet hatte.

Er hängte sich den Riemen über die Schulter und suchte nach dem Buch, das er damals gestohlen und mit dem alles angefangen hatte. Er war fest entschlossen, es dem unfreundlichen Herrn Koreander zurückzubringen. Mochte der ihn wegen des Diebstahls bestrafen oder anzeigen oder noch Schlimmeres tun, für einen, der solche Abenteuer hinter sich hatte wie Bastian, gab es nicht mehr leicht etwas, das ihm Angst machte. Aber das Buch war nicht da.

Bastian suchte und suchte, er wühlte die Decken um und schaute in jeden Winkel. Es half nichts. Die Unendliche Geschichte war verschwunden.

»Nun gut«, sagte sich Bastian schließlich, »dann muß ich ihm eben sagen, daß es weg ist. Er wird mir sicherlich nicht glauben. Ich kann es nicht ändern. Mag daraus werden, was will. Aber wer weiß, ob er sich überhaupt noch erinnert nach so langer Zeit? Vielleicht gibt es den Buchladen gar nicht mehr?«

Das würde sich bald herausstellen, denn zunächst mußte er ja nun einmal durch die Schule gehen. Wenn die Lehrer und Kinder, denen er begegnen würde, ihm fremd wären, dann würde er wissen, womit er zu rechnen hatte.

Aber als er nun die Speichertür aufschloß und in die Gänge des Schulhauses hinunterstieg, empfing ihn dort völlige Stille. Keine Menschenseele schien sich im Gebäude zu befinden. Und doch schlug die Uhr auf dem Schulturm gerade neun. Es war also Vormittag, und der Unterricht hätte längst begonnen haben müssen.

Bastian blickte in einige Klassenzimmer, aber überall herrschte die gleiche Leere. Als er an eines der Fenster trat und auf die Straße hinunterblickte, sah er dort einige Menschen gehen und Autos fahren. Die Welt war also wenigstens nicht ausgestorben.

Er lief die Treppen hinunter zum großen Eingangstor und versuchte es zu öffnen, aber es war abgeschlossen. Er wandte sich zu der Tür, hinter der die Hausmeisterwohnung lag, klingelte und klopfte, aber niemand rührte sich.

Bastian überlegte. Er konnte unmöglich warten, ob vielleicht doch irgendwann einmal jemand kommen würde. Er wollte jetzt zu seinem Vater. Auch wenn er das Wasser des Lebens verschüttet hatte.

Sollte er ein Fenster öffnen und so lange rufen, bis jemand ihn hörte und dafür sorgte, daß die Tür aufgeschlossen würde? Nein, das schien ihm irgendwie beschämend. Ihm fiel ein, daß er ja aus dem Fenster klettern konnte. Sie waren von innen zu öffnen. Aber die Fenster im Erdgeschoß waren alle vergittert. Dann kam ihm in den Sinn, daß er bei seinem Blick aus dem ersten Stockwerk auf die Straße hinunter, ein Baugerüst bemerkt hatte. Offenbar wurde an einer Außenmauer der Schule der Verputz erneuert.

Bastian stieg wieder in das erste Stockwerk hinauf und ging zu dem Fenster. Es ließ sich öffnen, und er stieg hinaus.

Das Gerüst bestand nur aus senkrechten Balken, zwischen denen in gewissen Abständen waagrechte Bretter lagen. Die Bretter schwangen unter Bastians Gewicht auf und ab. Einen Augenblick lang überfiel ihn ein Schwindelanfall, und Angst stieg in ihm auf, aber er zwang beides in sich nieder. Für einen, der Herr von Perelín gewesen war, gab es hier überhaupt kein Problem - auch wenn er nicht mehr über die fabelhaften Körperkräfte verfügte und das Gewicht seines dicken Körpers ihm doch ein wenig zu schaffen machte. Bedachtsam und ruhig suchte er Griff und Halt für Hand und Fuß und kletterte die senkrechten Balken abwärts. Einmal zog er sich einen Holzsplitter ein, aber solche Kleinigkeiten machten ihm nichts mehr aus. Etwas erhitzt und keuchend, aber wohlbehalten kam er unten auf der Straße an. Niemand hatte ihn beobachtet.

Bastian rannte nach Hause. Die Federmappe und die Bücher klapperten im Rhythmus seiner Schritte in der Schulmappe, er bekam Seitenstechen, aber er rannte weiter. Er wollte zu seinem Vater.

Als er endlich zu dem Haus kam, wo er wohnte, blieb er doch für einen Moment stehen und schaute zu dem Fenster hinauf, hinter dem Vaters Labor lag. Und jetzt plötzlich schnürte ihm Bangigkeit das Herz zusammen, weil ihm zum ersten Mal der Gedanke kam, daß der Vater nicht mehr da sein könnte.

Doch der Vater war da und mußte ihn wohl kommen gesehen haben, denn als Bastian jetzt die Treppen hinaufstürmte, kam er ihm entgegen gelaufen. Er breitete die Arme aus, und Bastian warf sich hinein. Der Vater hob ihn hoch und trug ihn in die Wohnung.

»Bastian, mein Junge«, sagte er immer wieder, »mein lieber, lieber kleiner Kerl, wo bist du nur gewesen? Was ist dir passiert?«

Erst als sie am Küchentisch saßen und der Junge heiße Milch trank und Frühstückssemmeln aß, die der Vater ihm fürsorglich dick mit Butter und Honig strich, bemerkte Bastian, wie blaß und mager das Gesicht des Vaters war. Seine Augen waren gerötet und sein Kinn unrasiert. Aber sonst sah er noch genauso aus wie damals, als Bastian fortgegangen war. Und er sagte es ihm.

»Damals?« fragte der Vater verwundert, »was meinst du damit?«

»Wie lange war ich denn fort?«

»Seit gestern, Bastian. Seit du in die Schule gegangen bist. Aber als du nicht zurückkamst, habe ich die Lehrer angerufen und erfahren, daß du dort gar nicht warst. Ich habe den ganzen Tag und die ganze Nacht nach dir gesucht, mein Junge. Ich hab' die Polizei losgeschickt, weil ich schon das Schlimmste befürchtete. O Gott, Bastian, was war nur los? Ich bin fast verrückt geworden aus Sorge um dich. Wo warst du denn nur?«

Und nun begann Bastian zu erzählen, was er erlebt hatte. Er erzählte alles ganz ausführlich, und es dauerte viele Stunden.

Der Vater hörte ihm zu, wie er ihm noch nie zugehört hatte. Er verstand, was Bastian ihm erzählte.

Gegen Mittag unterbrach er einmal, aber nur, um die Polizei anzurufen und mitzuteilen, daß sein Sohn zurückgekehrt und alles in Ordnung sei. Dann machte er für sie beide Mittagessen, und Bastian fuhr fort, zu erzählen. Der Abend brach schon herein, als Bastian mit seinem Bericht bei den Wassern des Lebens angekommen war und erzählte, wie er davon dem Vater hatte mitbringen wollen und es dann doch verschüttet hatte.

Es war schon fast dunkel in der Küche. Der Vater saß reglos. Bastian stand auf und knipste das Licht an. Und nun sah er etwas, was er noch nie zuvor gesehen hatte.

Er sah Tränen in den Augen seines Vaters.

Und er begriff, daß er ihm das Wasser des Lebens doch hatte bringen können.

Der Vater zog ihn stumm auf seinen Schoß und drückte ihn an sich, und sie streichelten sich gegenseitig.

Nachdem sie lange so gesessen hatten, atmete der Vater tief auf, schaute Bastian ins Gesicht und begann zu lächeln. Es war das glücklichste Lächeln, das Bastian je bei ihm gesehen hatte.

»Von jetzt an«, sagte der Vater mit einer ganz veränderten Stimme, »von jetzt an wird alles anders werden mit uns, meinst du nicht?«

Und Bastian nickte. Sein Herz war zu voll, als daß er hätte sprechen können.

Am nächsten Morgen war der erste Schnee gefallen. Weich und rein lag er auf dem Fensterbrett vor Bastians Zimmer. Alle Geräusche der Straße klangen gedämpft herauf.

»Weißt du was, Bastian?« sagte der Vater vergnügt beim Frühstück, »ich finde, wir beide haben wahrhaftig allen Grund zum Feiern. So ein Tag wie heute kommt nur einmal im Leben vor - und bei manchen nie. Deshalb schlage ich vor, daß wir beide zusammen was ganz Großartiges unternehmen. Ich laß' heute die Arbeit Arbeit sein, und du brauchst nicht in die Schule. Ich schreib dir eine Entschuldigung. Was hältst du davon?«

»In die Schule?« fragte Bastian. »Gibt's die denn noch? Als ich gestern durch die Klassenzimmer gelaufen bin, war keine Menschenseele da. Nicht mal der Hausmeister.«

»Gestern?« antwortete der Vater, »aber gestern war doch der erste Advent, Bastian.«

Der Junge rührte gedankenvoll in seinem Frühstückskakao. Dann meinte er leise:

»Ich glaub', es dauert noch ein bißchen, bis ich mich wieder richtig eingewöhnt hab'.«

»Eben«, sagte der Vater und nickte, »und deshalb machen wir uns einen Festtag, wir beide. Was würdest du am liebsten unternehmen? Wir könnten irgendeinen Ausflug machen, oder wollen wir in den Tierpark fahren? Mittags leisten wir uns das großartigste Menü, das die Welt je gesehen hat. Nachmittags könnten wir einkaufen gehen, alles was du willst. Und abends - sollen wir abends ins Theater?«

Bastians Augen glänzten. Dann sagte er entschlossen:

»Aber erst muß ich noch etwas anderes tun. Ich muß zu Herrn Koreander gehen und ihm sagen, daß ich das Buch gestohlen und verloren habe.«

Der Vater griff nach Bastians Hand.

»Hör mal, Bastian, wenn du willst, dann erledige ich das für dich.«

Bastian schüttelte den Kopf.

»Nein«, entschied er, »das ist meine Angelegenheit. Ich will das selbst machen. Und am besten tu ich's gleich.«

Er stand auf und zog sich den Mantel an. Der Vater sagte nichts, aber der Blick, mit dem er seinen Sohn ansah, war überrascht und respektvoll. Nie zuvor hatte sein Junge sich so verhalten.

»Ich glaube«, meinte er schließlich, »auch bei mir wird es noch ein bißchen dauern, bis ich mich an die Veränderung gewöhnt habe.«

»Ich komm' bald zurück«, rief Bastian, schon auf dem Flur, »es wird bestimmt nicht lang dauern. Diesmal nicht.«

Als er vor Herrn Koreanders Buchhandlung stand, sank ihm doch noch einmal der Mut. Er blickte durch die Scheibe, auf der die geschnörkelten Buchstaben standen, ins Innere des Ladens. Herr Koreander hatte gerade einen Kunden, und Bastian wollte lieber warten, bis der gegangen war. Er begann vor dem Antiquariat auf und ab zu gehen. Es fing wieder zu schneien an.

Endlich verließ der Kunde den Laden.

»Jetzt!« befahl sich Bastian.

Er dachte daran, wie er Graógramán in der Farbenwüste Goab entgegengetreten war. Entschlossen drückte er auf die Klinke.

Hinter der Bücherwand, die den dämmerigen Raum am anderen Ende begrenzte, war ein Husten zu hören. Bastian näherte sich ihr, dann trat er, ein wenig blaß, aber ernst und gefaßt, vor Herrn Koreander hin, der wieder in seinem abgewetzten Ledersessel saß wie bei ihrer ersten Begegnung.

Bastian schwieg. Er hatte erwartet, daß Herr Koreander zornrot auf ihn losfahren würde, daß er ihn anschreien würde: »Dieb! Verbrecher!« oder irgend etwas Derartiges.

Statt dessen zündete sich der alte Mann umständlich seine gebogene Pfeife an, wobei er den Jungen durch seine lächerliche kleine Brille aus halb zugekniffenen Augen musterte. Als die Pfeife endlich brannte, paffte er eine Weile angelegentlich und knurrte dann:

»Na? Was gibt's? Was willst du denn schon wieder hier?«

»Ich -«, begann Bastian stockend, »ich habe Ihnen ein Buch gestohlen. Ich wollte es Ihnen zurückbringen, aber das geht nicht. Ich hab's verloren oder vielmehr - jedenfalls ist es nicht mehr da.«

Herr Koreander hörte zu paffen auf und nahm die Pfeife aus dem Mund.

»Was für ein Buch?« fragte er.

»Es war das, in dem Sie gerade gelesen haben, als ich das letzte Mal hier war. Ich habe es mitgenommen. Sie sind nach hinten zum Telefonieren gegangen, und es lag da auf dem Sessel, und ich hab's einfach mitgenommen.«

»Soso«, sagte Herr Koreander und räusperte sich. »Mir fehlt aber kein Buch. Was für ein Buch soll denn das gewesen sein?«

»Es heißt Die Unendliche Geschichte«, erklärte Bastian, »es ist von außen aus kupferfarbener Seide und schimmert so, wenn man es hin und her bewegt. Zwei Schlangen sind darauf, eine helle und eine dunkle, die sich gegenseitig in den Schwanz beißen. Innen ist es in zwei verschiedenen Farben gedruckt - mit ganz großen, schönen Anfangsbuchstaben.«

»Ziemlich sonderbare Sache!« meinte Herr Koreander. »So ein Buch hab' ich nie besessen. Also kannst du mir's auch nicht gestohlen haben. Vielleicht hast du's woanders geklaut.«

»Bestimmt nicht!« versicherte Bastian. »Sie müssen sich doch erinnern. Es ist -«, er zögerte, aber dann sprach er es doch aus, »es ist ein Zauberbuch. Ich bin in die Unendliche Geschichte hineingeraten beim Lesen, aber als ich dann wieder herauskam, war das Buch weg.«

Herr Koreander beobachtete Bastian über seine Brille hinweg.

»Du machst dich doch nicht etwa lustig über mich, wie?«

»Nein«, antwortete Bastian fast bestürzt, »ganz bestimmt nicht. Es ist wahr, was ich sage. Sie müssen es doch wissen!«

Herr Koreander überlegte eine Weile, dann schüttelte er den Kopf.

»Das mußt du mir alles genauer erklären. Setz dich doch, mein Junge. Bitte, nimm Platz!«

Er wies mit dem Stiel seiner Pfeife auf einen zweiten Sessel, der dem seinen gegenüber stand. Bastian setzte sich.

»Also«, sagte Herr Koreander, »und nun erzähl' mir mal, was das alles bedeuten soll. Aber langsam und der Reihe nach, wenn ich bitten darf.«

Und Bastian begann zu erzählen.

Er tat es nicht so ausführlich wie beim Vater, aber da Herr Koreander immer größeres Interesse bekundete und immer noch Genaueres erfahren wollte, dauerte es doch mehr als zwei Stunden, bis Bastian damit fertig war.

Wer weiß warum, aber merkwürdigerweise wurden sie während dieser ganzen Zeit durch keinen einzigen Kunden gestört.

Als Bastian seinen Bericht beendet hatte, paffte Herr Koreander lange Zeit vor sich hin. Er schien tief in Gedanken versunken. Schließlich räusperte er sich wieder, setzte seine kleine Brille zurecht, blickte Bastian eine Weile prüfend an und sagte dann:

»Eins steht fest: Du hast mir dieses Buch nicht gestohlen, denn es gehört weder mir noch dir, noch sonst irgendeinem anderen. Wenn ich mich nicht irre, dann stammte es selbst schon aus Phantásien. Wer weiß, vielleicht hat es in genau diesem Augenblick gerade jemand anders in der Hand und liest darin.«

»Dann glauben Sie mir also?« fragte Bastian.

»Selbstverständlich«, antwortete Herr Koreander, »jeder vernünftige Mensch würde das tun.«

»Ehrlich gesagt«, meinte Bastian, »damit habe ich nicht gerechnet.«

»Es gibt Menschen, die können nie nach Phantásien kommen«, sagte Herr Koreander, »und es gibt Menschen, die können es, aber sie bleiben für immer dort. Und dann gibt es noch einige, die gehen nach Phantásien und kehren wieder zurück. So wie du. Und die machen beide Welten gesund.«

»Ach«, sagte Bastian und wurde ein wenig rot, »ich kann eigentlich nichts dafür. Um ein Haar wäre ich nicht zurückgekommen. Wenn Atréju nicht gewesen wäre, säße ich jetzt bestimmt für immer in der Alten Kaiser Stadt.«

Herr Koreander nickte und paffte nachdenklich vor sich hin.

»Tja«, brummte er, »du hast Glück, daß du einen Freund in Phantásien hast. Das hat, weiß Gott, nicht jeder.«

»Herr Koreander«, fragte Bastian, »woher wissen Sie das alles? - Ich meine - waren Sie auch schon mal in Phantásien?«

»Selbstverständlich«, sagte Herr Koreander.

»Aber dann«, meinte Bastian, »dann müssen Sie doch auch Mondenkind kennen!«

»Ja, ich kenne die Kindliche Kaiserin«, sagte Herr Koreander, »allerdings nicht unter diesem Namen. Ich habe sie anders genannt. Aber das spielt keine Rolle.«

»Dann müssen Sie doch auch das Buch kennen!« rief Bastian, »dann haben Sie ja doch die Unendliche Geschichte gelesen!«

Herr Koreander schüttelte den Kopf.

»Jede wirkliche Geschichte ist eine Unendliche Geschichte.« Er ließ seinen Blick über die vielen Bücher schweifen, die bis unter die Decke hinauf an den Wänden standen, dann zeigte er mit dem Stiel seiner Pfeife darauf und fuhr fort:

»Es gibt eine Menge Türen nach Phantásien, mein Junge. Es gibt noch mehr solche Zauberbücher. Viele Leute merken nichts davon. Es kommt eben darauf an, wer ein solches Buch in die Hand bekommt.«

»Dann ist die Unendliche Geschichte also für jeden anders?«

»Das will ich meinen«, versetzte Herr Koreander, »außerdem gibt es nicht nur Bücher, es gibt noch andere Möglichkeiten, nach Phantásien und wieder zurück zu kommen. Das wirst du noch merken.«

»Meinen Sie?« fragte Bastian hoffnungsvoll, »aber dann müßte ich Mondenkind doch noch mal begegnen, und jeder begegnet ihr doch nur ein einziges Mal.«

Herr Koreander beugte sich vor und dämpfte seine Stimme.

»Laß dir etwas von einem alten, erfahrenen Phantäsienreisenden sagen, mein Junge! Es ist ein Geheimnis, das in Phantásien niemand wissen kann. Wenn du nachdenkst, wirst du auch verstehen, warum das so ist. Zu Mondenkind kannst du kein zweites Mal kommen, das ist richtig - solang sie Mondenkind ist. Aber wenn du ihr einen neuen Namen geben kannst, wirst du sie wiedersehen. Und so oft dir das gelingt, wird es jedesmal wieder das erste und einzige Mal sein.«

Über Herrn Koreanders Bulldoggengesicht lag für einen Augenblick ein weicher Schimmer, der es jung und beinahe schön erscheinen ließ.

»Danke, Herr Koreander!« sagte Bastian.

»Ich muß mich bei dir bedanken, mein Junge«, antwortete Herr Koreander. »Ich fände es nett, wenn du dich ab und zu hier bei mir blicken lassen würdest, damit wir unsere Erfahrungen aus täuschen. Es gibt nicht so viele Leute, mit denen man über solche Dinge sprechen kann.«

Er streckte Bastian die Hand hin. »Abgemacht?«

»Gern«, sagte Bastian und schlug ein. »Ich muß jetzt gehen. Mein Vater wartet. Aber ich komm' bald wieder.«

Herr Koreander begleitete ihn bis zur Tür. Als sie darauf zugingen, sah Bastian durch die spiegelverkehrte Schrift der Glasscheibe, daß der Vater auf der anderen Straßenseite stand und ihn erwartete. Sein Gesicht war ein einziges Strahlen.

Bastian riß die Tür auf, daß die Traube der Messingglöckchen wild zu bimmeln begann, und rannte auf dieses Strahlen zu.

Herr Koreander schloß die Tür behutsam und blickte den beiden nach.

»Bastian Balthasar Bux«, brummte er, »wenn ich mich nicht irre, dann wirst du noch manch einem den Weg nach Phantásien zeigen, damit er uns das Wasser des Lebens bringt.«

Und Herr Koreander irrte sich nicht. Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.

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