Yor, der Blinde Bergmann, stand vor seiner Hütte und lauschte in die Weite der Schneefläche hinaus, die sich nach allen Seiten erstreckte. Die Stille war so vollkommen, daß sein feines Ohr eines Wanderers Schritte im Schnee knirschen hörte, der noch sehr weit entfernt war. Doch die Schritte kamen auf die Hütte zu.
Yor war ein großer, alter Mann, doch war sein Gesicht bartlos und ohne Furchen. Alles an ihm, sein Kleid, sein Gesicht, sein Haar war grau wie Stein. Wie er so reglos dastand, sah er aus, als sei er aus einem großen Stück Lava gemeißelt. Nur seine blinden Augen waren dunkel, und in ihrer Tiefe war ein Glimmen wie von einer kleinen Flamme.
Als Bastian - denn er war der Wanderer - herangekommen war, sagte er:
»Guten Tag. Ich habe mich verirrt. Ich suche nach der Quelle, wo das Wasser des Lebens entspringt. Kannst du mir helfen?«
Der Bergmann horchte auf die Stimme hin, die da sprach.
»Du hast dich nicht verirrt«, flüsterte er. »Aber sprich leise, sonst zerfallen meine Bilder.«
Er winkte Bastian, und der trat hinter ihm in die Hütte.
Sie bestand aus einem einzigen kleinen Raum, der schmucklos und äußerst karg eingerichtet war. Ein Holztisch, zwei Stühle, eine Pritsche zum Schlafen und ein Brettergestell, in dem allerhand Nahrungsmittel und Geschirr aufbewahrt wurden. Auf einem offenen Herd brannte ein kleines Feuer, darüber hing ein Kessel, in dem eine Suppe dampfte.
Yor schöpfte zwei Teller voll für sich und Bastian, stellte sie auf den Tisch und forderte den Gast mit einer Handbewegung zum Essen auf. Schweigend nahmen sie ihre Mahlzeit ein.
Dann lehnte sich der Bergmann zurück, seine Augen blickten durch Bastian hindurch in eine weite Ferne, flüsternd fragte er:
»Wer bist du?«
»Ich heiße Bastian Balthasar Bux.«
»Ah, deinen Namen weißt du also noch.«
»Ja. Und wer bist du?«
»Ich bin Yor, den man den Blinden Bergmann nennt. Aber ich bin nur im Licht blind. Unter Tag in meinem Bergwerk, wo vollkommene Finsternis herrscht, kann ich schauen.«
»Was ist das für ein Bergwerk?«
»Es heißt die Grube Minroud. Es ist das Bergwerk der Bilder.«
»Das Bergwerk der Bilder?« wiederholte Bastian verwundert, »so etwas habe ich noch nie gehört.«
Yor schien immerfort auf etwas zu lauschen.
»Und doch«, raunte er, »ist es gerade für solche wie dich da. Für Menschen, die den Weg zum Wasser des Lebens nicht finden können.«
»Was für Bilder sind es denn?« wollte Bastian wissen.
Yor schloß die Augen und schwieg eine Weile. Bastian wußte nicht, ob er seine Frage wiederholen sollte. Dann hörte er den Bergmann flüstern:
»Nichts geht verloren in der Welt. Hast du jemals etwas geträumt und beim Aufwachen nicht mehr gewußt, was es war?«
»Ja«, antwortete Bastian, »oft.«
Yor nickte gedankenvoll. Dann erhob er sich und machte Bastian ein Zeichen, ihm zu folgen. Ehe sie aus der Hütte traten, faßte er ihn mit hartem Griff an der Schulter und raunte ihm ins Ohr:
»Aber kein Wort, kein Laut, verstanden? Was du sehen wirst, ist meine Arbeit von vielen Jahren. Jedes Geräusch kann sie zerstören. Darum schweige und tritt leise auf!«
Bastian nickte, und sie verließen die Hütte. Hinter dieser war ein hölzerner Förderturm errichtet, unter dem ein Schacht senkrecht in die Erdentiefe hinunterführte. Sie gingen daran vorbei in die Weite der Schneefläche hinaus. Und nun sah Bastian die Bilder, die hier lagen wie in weiße Seide eingebettet, als wären es kostbare Juwelen.
Es waren hauchdünne Tafeln aus einer Art Marienglas, durchsichtig und farbig und in allen Größen und Formen, rechteckige und runde, bruchstückartige und unversehrte, manche groß wie Kirchenfenster, andere klein wie Miniaturen auf einer Dose. Sie lagen, ungefähr nach Größe und Form geordnet, in Reihen, die sich bis zum Horizont der weißen Ebene erstreckten.
Was diese Bilder darstellten war rätselhaft. Da gab es vermummte Gestalten, die in einem großen Vogelnest dahinzuschweben schienen, oder Esel, die Richtertalare trugen, es gab Uhren, die wie weicher Käse zerflossen, oder Gliederpuppen, die auf grell beleuchteten, menschenleeren Plätzen standen. Da waren Gesichter und Köpfe, die ganz aus Tieren zusammengesetzt waren, und andere, die eine Landschaft bildeten. Aber es gab auch ganz gewöhnliche Bilder, Männer, die ein Kornfeld abmähten, und Frauen, die auf einem Balkon saßen. Es gab Gebirgsdörfer und Meereslandschaften, Kriegsszenen und Zirkusaufführungen, Straßen und Zimmer und immer wieder Gesichter, alte und junge, weise und einfältige, Narren und Könige, finstere und heitere. Da waren grausige Bilder, Hinrichtungen und Totentänze, und lustige Bilder von jungen Damen auf einem Walroß, oder von einer Nase, die herumspazierte und von allen Vorübergehenden gegrüßt wurde.
Je länger sie an den Bildern entlangwanderten, desto weniger konnte Bastian ergründen, was es mit ihnen auf sich hatte. Nur eines war ihm klar: Es gab einfach alles auf ihnen zu sehen, wenn auch meistens in eigentümlicher Zusammenstellung.
Nachdem er viele Stunden neben Yor an den Reihen der Tafeln vorübergegangen war, senkte sich die Dämmerung über die weite Schneefläche. Sie kehrten zur Hütte zurück. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, fragte Yor mit leiser Stimme:
»War eines dabei, das du erkannt hast?«
»Nein«, erwiderte Bastian.
Der Bergmann wiegte bedenkenvoll den Kopf.
»Warum?« wollte Bastian wissen, »was sind das für Bilder?«
»Es sind die vergessenen Träume aus der Menschenwelt«, erklärte Yor. »Ein Traum kann nicht zu nichts werden, wenn er einmal geträumt wurde. Aber wenn der Mensch, der ihn geträumt hat, ihn nicht behält - wo bleibt er dann? Hier bei uns in Phantásien, dort unten in der Tiefe unserer Erde. Dort lagern sich die vergessenen Träume ab in feinen, feinen Schichten, eine über der anderen. Je tiefer man hinuntergräbt, desto dichter liegen sie. Ganz Phantásien steht auf Grundfesten aus vergessenen Träumen.«
»Sind auch meine dabei?« fragte Bastian mit großen Augen.
Yor nickte nur.
»Und du meinst, ich muß sie finden?« forschte Bastian weiter.
»Wenigstens einen. Einer genügt«, antwortete Yor.
»Aber wozu?« wollte Bastian wissen.
Der Bergmann wandte ihm sein Gesicht zu, das jetzt nur noch vom Schein des kleinen Feuers auf dem Herd erleuchtet wurde. Seine blinden Augen blickten wieder durch Bastian hindurch wie in weite Ferne.
»Hör zu, Bastian Balthasar Bux«, sagte er, »ich rede nicht gern viel. Die Stille ist mir lieber. Aber dieses eine Mal sage ich es dir. Du suchst das Wasser des Lebens. Du möchtest lieben können, um zurückzufinden in deine Welt. Lieben - das sagt sich so! Das Wasser des Lebens wird dich fragen: Wen? Lieben kann man nämlich nicht einfach so irgendwie und allgemein. Aber du hast alles vergessen außer deinem Namen. Und wenn du nicht antworten kannst, wirst du nicht trinken dürfen. Drum kann dir nur noch ein vergessener Traum helfen, den du wiederfindest, ein Bild, das dich zur Quelle führt. Aber dafür wirst du das Letzte vergessen müssen, was du noch hast: Dich selbst. Und das bedeutet harte und geduldige Arbeit. Bewahre meine Worte gut, denn ich werde sie nie wieder aussprechen.«
Danach legte er sich auf seine Holzpritsche und schlief ein. Bastian blieb nichts anderes übrig, als mit dem harten, kalten Boden als Lagerstätte vorlieb zu nehmen. Aber das machte ihm nichts aus.
Als er am nächsten Morgen mit klammen Gliedern erwachte, war Yor schon fortgegangen. Wahrscheinlich war er in die Grube Minroud eingefahren. Bastian nahm sich selber einen Teller der heißen Suppe, die ihn erwärmte, aber ihm nicht besonders mundete. In ihrer Salzigkeit erinnerte sie ein wenig an den Geschmack von Tränen und Schweiß.
Dann ging er hinaus und wanderte durch den Schnee der weiten Ebene an den unzähligen Bildern vorüber. Eines nach dem anderen betrachtete er aufmerksam, denn nun wußte er ja, was für ihn davon abhing, aber er konnte keines entdecken, das ihn in irgendeiner Weise besonders anrührte. Sie waren ihm alle ganz gleichgültig.
Gegen Abend sah er Yor in einem Förderkorb aus dem Schacht des Bergwerks aufsteigen. Auf dem Rücken trug er in einem Gestell einige verschieden große Tafeln des hauchdünnen Marienglases. Bastian begleitete ihn schweigend, während er noch einmal weit hinausging auf die Ebene und seine neuen Funde mit größter Behutsamkeit am Ende einer Reihe in den weichen Schnee bettete. Eines der Bilder stellte einen Mann dar, dessen Brust ein Vogelkäfig war, in dem zwei Tauben saßen. Ein anderes zeigte eine steinerne Frau, die auf einer großen Schildkröte ritt. Ein sehr kleines Bild ließ nur einen Schmetterling erkennen, dessen Flügel Flecken in der Form von Buchstaben auf wiesen. Es waren noch einige andere Bilder da, aber keines sagte Bastian irgend etwas.
Als er mit dem Bergmann wieder in der Hütte saß, fragte er:
»Was geschieht mit den Bildern, wenn der Schnee schmilzt?«
»Hier ist immer Winter«, entgegnete Yor.
Das war ihre ganze Unterhaltung an diesem Abend.
Während der folgenden Tage suchte Bastian weiter unter den Bildern nach einem, das er wiedererkannte oder das ihm wenigstens etwas Besonderes bedeutete - aber vergebens. Abends saß er mit dem Bergmann in der Hütte, und da dieser schwieg, gewöhnte Bastian sich daran, ebenfalls zu schweigen. Auch die behutsame Art sich zu bewegen, um kein Geräusch zu machen, das die Bilder zerfallen lassen könnte, übernahm er nach und nach von Yor.
»Jetzt habe ich alle Bilder gesehen«, sagte Bastian eines Abends, »für mich ist keines darunter.«
»Schlimm«, antwortete Yor.
»Was soll ich tun?« fragte Bastian, »soll ich auf die neuen Bilder warten, die du heraufbringst?«
Yor überlegte eine Weile, dann schüttelte er den Kopf.
»Ich an deiner Stelle«, flüsterte er, »würde selbst in die Grube Minroud einfahren und vor Ort graben.«
»Aber ich habe nicht deine Augen«, meinte Bastian, »ich kann in der Finsternis nicht sehen.«
»Hat man dir denn kein Licht gegeben auf deiner weiten Reise?« fragte Yor und blickte wieder durch Bastian hindurch, »keinen leuchtenden Stein, gar nichts, was dir jetzt helfen könnte?«
»Doch«, antwortete Bastian traurig, »aber ich habe Al' Tsahir zu etwas anderem gebraucht.«
»Schlimm«, wiederholte Yor mit steinernem Gesicht.
»Was rätst du mir?« wollte Bastian wissen.
Der Bergmann schwieg wieder lange, ehe er erwiderte:
»Dann mußt du eben im Dunkeln arbeiten.«
Bastian überlief ein Schauder. Zwar hatte er noch immer alle Kraft und Furchtlosigkeit, die ihm AURYN verliehen hatte, doch bei der Vorstellung, so tief, tief dort unten im Inneren der Erde in völliger Finsternis zu liegen, wurde das Mark seiner Knochen zu Eis. Er sagte nichts mehr, und beide legten sich schlafen.
Am nächsten Morgen rüttelte ihn der Bergmann an der Schulter.
Bastian richtete sich auf.
»Iß deine Suppe und komm!« befahl Yor kurz angebunden.
Bastian tat es.
Er folgte dem Bergmann zu dem Schacht, bestieg mit ihm zusammen den Förderkorb, und dann fuhr er in die Grube Minroud ein. Tiefer und tiefer ging es hinunter. Längst war der letzte spärliche Lichtschein, der durch die Öffnung des Schachtes drang, geschwunden, und noch immer sank der Korb in der Finsternis abwärts. Dann endlich zeigte ein Ruck, daß sie auf dem Grunde angelangt waren. Sie stiegen aus.
Hier unten war es sehr viel wärmer als oben auf der winterlichen Ebene, und schon nach kurzem begann Bastian der Schweiß am ganzen Körper auszubrechen, während er sich bemühte, den Bergmann, der rasch vor ihm herging, nicht im Dunkeln zu verlieren. Es war ein verschlungener Weg durch zahllose Stollen, Gänge und bisweilen auch Hallen, wie aus einem leisen Echo ihrer Schritte zu erraten war. Bastian stieß sich mehrmals sehr schmerzhaft an Vorsprüngen und Stützbalken, doch Yor nahm keine Notiz davon.
An diesem ersten Tag und auch noch an einigen folgenden unterwies der Bergmann ihn schweigend, nur indem er Bastians Hände führte, in der Kunst, die feinen, hauchzarten Marienglasschichten voneinander zu trennen und behutsam abzuheben. Es gab dazu Werkzeuge, die sich wie hölzerne oder hörnerne Spachtel anfühlten, zu Gesicht bekam er sie niemals, denn sie blieben an der Arbeitsstelle liegen, wenn das Tagewerk getan war.
Nach und nach erlernte er, sich dort unten in der völligen Dunkelheit zurechtzufinden. Er erkannte die Gänge und Stollen mit einem neuen Sinn, den er nicht hätte erklären können. Und eines Tages wies Yor ihn wortlos, nur durch Berührung mit seinen Händen an, von nun an allein in einem niedrigen Stollen zu arbeiten, in den man nur kriechend eindringen konnte. Bastian gehorchte. Es war sehr eng vor Ort, und über ihm lag die Bergeslast des Urgesteins.
Eingerollt wie ein ungeborenes Kind im Leib seiner Mutter lag er in den dunklen Tiefen der Grundfesten Phantásiens und schürfte geduldig nach einem vergessenen Traum, einem Bild, das ihn zum Wasser des Lebens führen konnte.
Da er nichts sehen konnte in der ewigen Nacht des Erdinneren, konnte er auch keine Auswahl und keine Entscheidung treffen. Er mußte darauf hoffen, daß der Zufall oder ein barmherziges Schicksal ihn irgendwann den rechten Fund machen lassen würde. Abend für Abend brachte er nach oben ans verlöschende Tageslicht, was er in den Tiefen der Grube Minroud abzulösen vermocht hatte. Und Abend für Abend war seine Arbeit umsonst gewesen. Doch Bastian klagte nicht und empörte sich nicht. Er hatte alles Mitleid mit sich selbst verloren. Er war geduldig und still geworden. Obwohl seine Kräfte unerschöpflich waren, fühlte er sich oft sehr müde.
Wie lange diese harte Zeit dauerte, läßt sich nicht sagen, denn solche Arbeit läßt sich nicht nach Tagen oder Monaten bemessen. Jedenfalls geschah es eines Abends, daß er ein Bild mitbrachte, das ihn auf der Stelle so sehr aufwühlte, daß er sich zurückhalten mußte, keinen Überraschungslaut auszustoßen und damit alles zu zerstören.
Auf der zarten Marienglastafel - sie war nicht sehr groß, hatte nur etwa das Format einer gewöhnlichen Buchseite - war sehr klar und deutlich ein Mann zu sehen, der einen weißen Kittel trug. In der einen Hand hielt er ein Gipsgebiß. Er stand da, und seine Haltung und der stille, bekümmerte Ausdruck in seinem Gesicht griffen Bastian ans Herz. Aber das, was ihn am meisten betroffen machte, war, daß der Mann in einen glasklaren Eisblock eingefroren war. Ganz und gar und von allen Seiten umgab ihn eine undurchdringliche, aber vollkommen durchsichtige Eisschicht.
Während Bastian das Bild betrachtete, das vor ihm im Schnee lag, erwachte in ihm Sehnsucht nach diesem Mann, den er nicht kannte. Es war ein Gefühl, das wie aus weiter Ferne herankam, wie eine Springflut im Meer, die man anfangs kaum wahrnimmt, bis sie näher und näher kommt und zuletzt zur gewaltigen, haushohen Woge wird, die alles mit sich reißt und hinwegschwemmt. Bastian ertrank fast darin und rang nach Luft. Das Herz tat ihm weh, es war nicht groß genug für eine so riesige Sehnsucht. In dieser Flutwelle ging alles unter, was er noch an Erinnerung an sich selbst besaß. Und er vergaß das Letzte, was er noch hatte: Seinen eigenen Namen.
Als er später zu Yor in die Hütte trat, schwieg er. Auch der Bergmann sagte nichts, aber er blickte lange nach ihm hin, wobei seine Augen wieder wie in weite Ferne zu schauen schienen, und dann ging zum ersten Mal in all dieser Zeit ein kurzes Lächeln über seine steingrauen Züge.
In dieser Nacht konnte der Junge, der nun keinen Namen mehr hatte, trotz aller Müdigkeit nicht einschlafen. Immerfort sah er das Bild vor sich. Ihm war, als ob der Mann ihm etwas sagen wollte, aber es nicht konnte, weil er in dem Eisblock eingeschlossen war. Der Junge ohne Namen wollte ihm helfen, wollte machen, daß dieses Eis taute. Wie in einem wachen Traum sah er sich selbst den Eisblock umarmen, um ihn mit der Wärme seines Körpers zum Schmelzen zu bringen. Aber alles war vergebens.
Doch dann hörte er plötzlich, was der Mann ihm sagen wollte, hörte es nicht mit den Ohren, sondern tief in seinem eigenen Herzen:
»Hilf mir bitte! Laß mich nicht im Stich! Allein komme ich aus diesem Eis nicht heraus. Hilf mir! Nur du kannst mich daraus befreien - nur du!«
Als sie sich am nächsten Morgen bei Tagesgrauen erhoben, sagte der Junge ohne Namen zu Yor:
»Ich fahre heute nicht mehr mit dir in die Grube Minroud ein.«
»Willst du mich verlassen?«
Der Junge nickte. »Ich will gehen und das Wasser des Lebens suchen.«
»Hast du das Bild gefunden, das dich führen wird?«
»Ja.«
»Willst du es mir zeigen?«
Der Junge nickte abermals. Beide gingen hinaus in den Schnee, wo das Bild lag. Der Junge sah es an, aber Yor richtete seine blinden Augen auf das Gesicht des Jungen, als blicke er durch ihn hindurch in eine weite Ferne. Er schien lange auf etwas hinzuhorchen. Endlich nickte er.
»Nimm es mit«, flüsterte er, »und verliere es nicht. Wenn du es verlierst oder wenn es zerstört wird, dann ist für dich alles zu Ende. Denn in Phantásien bleibt dir nun nichts mehr. Du weißt, was das heißt.«
Der Junge, der keinen Namen mehr hatte, stand mit gesenktem Kopf und schwieg eine Weile. Dann sagte er ebenso leise:
»Danke, Yor, für das, was du mich gelehrt hast.«
Sie gaben sich die Hände.
»Du warst ein guter Bergknappe«, raunte Yor, »und hast fleißig gearbeitet.«
Damit wandte er sich ab und ging auf den Schacht der Grube Minroud zu. Ohne sich noch einmal umzudrehen, stieg er in den Förderkorb und fuhr in die Tiefe.
Der Junge ohne Namen hob das Bild aus dem Schnee auf und stapfte in die Weite der weißen Ebene hinaus.
Viele Stunden war er schon so gewandert, längst war Yors Hütte am Horizont hinter ihm verschwunden, und nichts umgab ihn mehr als die weiße Fläche, die sich nach allen Seiten hin erstreckte. Aber er fühlte, wie das Bild, das er behutsam mit beiden Händen hielt, ihn in eine bestimmte Richtung zog.
Der Junge war entschlossen, dieser Kraft zu folgen, denn sie würde ihn an den richtigen Ort bringen, mochte der Weg nun lang sein oder kurz. Nichts mehr sollte ihn jetzt noch zurückhalten. Er wollte das Wasser des Lebens finden, und er war sicher, daß er es konnte.
Da hörte er plötzlich Lärm hoch in den Lüften. Es war wie fernes Geschrei und Gezwitscher aus vielen Kehlen. Als er zum Himmel hinaufschaute, sah er eine dunkle Wolke, die wie ein großer Vogelschwarm aussah. Erst als dieser Schwärm näher herangekommen war, erkannte er, worum es sich in Wirklichkeit handelte, und vor Schreck blieb er wie angewurzelt stehen.
Es waren die Clowns-Motten, die Schlamuffen!
»Barmherziger Himmel!« dachte der Junge ohne Namen, »hoffentlich haben sie mich nicht gesehen! Sie werden mit ihrem Geschrei das Bild zerstören!«
Aber sie hatten ihn gesehen!
Mit ungeheurem Gelächter und Gejohle stürzte sich der Schwärm auf den einsamen Wanderer nieder und landete um ihn herum im Schnee.
»Hurra!« krähten sie und rissen ihre bunten Münder auf, »da haben wir ihn ja endlich wiedergefunden, unseren großen Wohltäter!«
Und sie wälzten sich im Schnee, bewarfen sich mit Schneebällen, machten Purzelbäume und Kopfstände.
»Leise! Seid bitte leise!« flüsterte der Junge ohne Namen verzweifelt. Der ganze Chor schrie begeistert:
»Was hat er gesagt?« -»Er hat gesagt, wir sind zu leise!« -»Das hat uns noch niemand gesagt!«
»Was wollt ihr von mir?« fragte der Junge, »warum laßt ihr mich nicht in Ruhe?«
Alle wirbelten um ihn herum und schnatterten:
»Großer Wohltäter! Großer Wohltäter! Weißt du noch, wie du uns erlöst hast, als wir noch die Acharai waren? Damals waren wir die unglücklichsten Wesen in ganz Phantásien, aber jetzt hängen wir uns selbst zum Hals heraus. Was du da aus uns gemacht hast, war anfangs ganz lustig, aber jetzt langweilen wir uns zu Tode. Wir flattern so herum und haben nichts, woran wir uns halten können. Wir können nicht einmal ein richtiges Spiel spielen, weil wir keine Regel haben. Lächerliche Hanswurste hast du aus uns gemacht mit deiner Erlösung! Du hast uns betrogen, großer Wohltäter!«
»Ich hab' es doch gut gemeint«, flüsterte der Junge entsetzt.
»Jawohl, mit dir selbst!« schrien die Schlamuffen im Chor, »du bist dir ganz großartig vorgekommen. Aber wir haben die Zeche bezahlt für deine Güte, großer Wohltäter!«
»Was soll ich denn tun?« fragte der Junge. »Was wollt ihr von mir?«
»Wir haben dich gesucht«, kreischten die Schlamuffen mit verzerrten Clownsgesichtern, »wir wollten dich einholen, ehe du dich aus dem Staub machen kannst. Und jetzt haben wir dich eingeholt. Und wir werden dich nicht mehr in Ruhe lassen, ehe du nicht unser Häuptling geworden bist. Du mußt unser Ober-Schlamuffe werden, unser Haupt-Schlamuffe, unser General-Schlamuffe! Alles, was du willst!«
»Aber warum denn, warum?« flüsterte der Junge flehend.
Und der Chor der Clowns kreischte zurück:
»Wir wollen, daß du uns Befehle gibst, daß du uns herumkommandierst, daß du uns zu irgend etwas zwingst, daß du uns irgend etwas verbietest! Wir wollen, daß unser Dasein zu irgend etwas da ist!«
»Das kann ich nicht! Warum wählt ihr nicht einen von euch?«
»Nein, nein, dich wollen wir, großer Wohltäter! Du hast doch aus uns gemacht, was wir jetzt sind!«
»Nein!« keuchte der Junge, »ich muß fort von hier. Ich muß zurückkehren!«
»Nicht so schnell, großer Wohltäter!« schrien die Clownsmünder, »du entkommst uns nicht. Das könnte dir so passen - dich einfach aus Phantásien verdrücken!«
»Aber ich bin am Ende!« beteuerte der Junge.
»Und wir?« antwortete der Chor, »was sind wir?«
»Geht weg!« rief der Junge, »ich kann mich nicht mehr um euch kümmern!«
»Dann mußt du uns zurückverwandeln!« erwiderten die schrillen Stimmen, »dann wollen wir lieber wieder Acharai werden. Der Tränensee ist ausgetrocknet, und Amargánth sitzt auf dem Trockenen. Und niemand spinnt mehr das feine Silberfiligran. Wir wollen wieder Acharai sein.«
»Ich kann's nicht mehr!« antwortete der Junge. »Ich habe keine Macht mehr in Phantásien.«
»Dann«, brüllte der ganze Schwärm und wirbelte durcheinander, »nehmen wir dich mit uns!«
Hunderte von kleinen Händen packten ihn und versuchten ihn in die Höhe zu reißen. Der Junge wehrte sich aus Leibeskräften, und die Motten flogen nach allen Seiten. Aber hartnäckig wie gereizte Wespen kehrten sie immer wieder zurück.
Mitten in dieses Gezeter und Gekreische hinein ließ sich plötzlich von fernher ein leiser und doch mächtiger Klang vernehmen, der wie das Dröhnen einer großen Bronzeglocke tönte.
Und im Handumdrehen ergriffen die Schlamuffen die Flucht und verschwanden als dunkler Schwärm am Himmel.
Der Junge, der keinen Namen mehr hatte, kniete im Schnee. Vor ihm lag, zu Staub zerfallen, das Bild. Nun war alles verloren. Es gab nichts mehr, was ihn den Weg zum Wasser des Lebens führen konnte.
Als er aufblickte, sah er durch seine Tränen undeutlich in einiger Entfernung zwei Gestalten auf dem Schneefeld vor sich, eine große und eine kleine. Er wischte sich die Augen und sah noch einmal hin.
Es waren Fuchur, der weiße Glücksdrache, und Atréju.