Xayídes Ende ist rasch erzählt, doch schwer zu verstehen und voller Widersprüche wie so vieles in Phantásien. Bis zum heutigen Tag zerbrechen sich die Gelehrten und die Geschichtsschreiber den Kopf darüber, wie es möglich war, manche bezweifeln sogar die Tatsachen oder versuchen ihnen eine andere Deutung zu geben. Hier soll berichtet werden, was wirklich geschehen ist, und jeder mag versuchen, sich die Dinge zu erklären, so gut er es kann.
Zu derselben Zeit, als Bastian bereits in der Stadt Yskál bei den Nebelschiffern ankam, erreichte Xayíde mit ihren schwarzen Riesen die Stelle auf der Heide, wo das Metallpferd unter Bastian in Stücke zerfallen war. In diesem Augenblick ahnte sie bereits, daß sie ihn nicht mehr finden würde. Als sie wenig später den Erdwall erblickte, auf den Bastians Spuren hinaufführten, wurde diese Ahnung zur Gewißheit. Wenn er in der Alten Kaiser Stadt angekommen war, so war er für ihre Pläne verloren, ganz gleich, ob er für immer dort bleiben würde oder ob es ihm gelungen war, aus der Stadt zu entweichen. Im ersten Fall war er machtlos geworden wie alle dort und konnte nichts mehr wünschen - im anderen Fall waren alle Wünsche nach Macht und Größe in ihm erloschen. In beiden Fällen war das Spiel für sie, Xayíde, zu Ende.
Sie befahl ihren Panzerriesen stehenzubleiben, doch unbegreiflicherweise gehorchten sie ihrem Willen nicht, sondern marschierten weiter. Da wurde sie zornig, sprang aus ihrer Sänfte und stellte sich ihnen mit ausgebreiteten Armen entgegen. Die gepanzerten Riesen aber, Fußvolk wie Reiter, stampften weiter, als wäre sie nicht vorhanden, und traten sie unter ihre Füße und Hufe. Und erst als Xayíde ihr Leben ausgehaucht hatte, blieb der ganze lange Zug plötzlich stehen wie ein abgelaufenes Uhrwerk.
Als später Hýsbald, Hýdorn und Hýkrion mit den Resten des Heeres nachgekommen waren, sahen sie, was hier geschehen war, und konnten es nicht fassen, denn es war ja allein Xayídes Wille gewesen, der die leeren Riesen bewegte und also auch über sie hinwegstampfen hatte lassen. Doch war langes Nachdenken nicht die besondere Stärke der drei Herren, so zuckten sie schließlich die Achseln und ließen die Sache auf sich beruhen. Sie berieten, was nun zu tun sei, und kamen zu dem Ergebnis, daß der Feldzug offensichtlich sein Ende gefunden habe. Also entließen sie das restliche Heer und empfahlen jedem, nach Hause zu gehen. Sie selbst, die Bastian ja einen Treueeid geleistet hatten, den sie nicht brechen wollten, beschlossen, ihn in ganz Phantásien zu suchen. Doch konnten sie sich über die einzuschlagende Richtung nicht einig werden und entschieden deshalb, daß jeder auf eigene Faust weiterziehen sollte. Sie verabschiedeten sich voneinander, und jeder humpelte in einer anderen Richtung davon. Alle drei erlebten noch viele Abenteuer, und es gibt in Phantásien unzählige Berichte, die von ihrer Suche ohne Sinn handeln. Doch das sind andere Geschichten und sollen ein andermal erzählt werden.
Die schwarzen, leeren Metallriesen aber standen seit dieser Zeit unbeweglich an der Stelle in der Heide, nahe der Alten Kaiser Stadt. Regen und Schnee fiel auf sie, sie verrosteten und versanken nach und nach schief oder gerade im Erdboden. Aber noch heute sind etliche von ihnen zu sehen. Der Platz gilt als verrufen, und jeder Wanderer macht einen Bogen darum. Aber kehren wir nun zu Bastian zurück.
Während er auf seinem Weg durch den Rosenhag den sanften Biegungen des Pfades folgte, erblickte er etwas, das ihn in Erstaunen setzte, weil er auf seinem ganzen Weg durch Phantásien noch nie etwas Derartiges gesehen hatte, nämlich einen Wegweiser mit einer geschnitzten Hand, die in eine Richtung zeigte.
»Zum Änderhaus«, stand darauf.
Bastian folgte der angegebenen Richtung ohne Eile. Er atmete den Duft der unzähligen Rosen ein und fühlte sich zunehmend vergnügter, so als stände ihm eine frohe Überraschung bevor.
Schließlich gelangte er in eine schnurgerade Allee aus kugelrunden Bäumen, die voller rotbackiger Äpfel hingen. Und ganz am Ende der Allee tauchte ein Haus auf. Beim Näherkommen stellte Bastian fest, daß es wohl das drolligste Haus war, das er je gesehen hatte. Ein hohes spitzes Dach saß wie eine Zipfelmütze auf einem Gebäude, das eher einem Riesenkürbis glich, denn es war kugelig, und die Wände hatten an vielen Stellen Beulen und Ausbuchtungen, sozusagen dicke Bäuche, was dem Haus ein behäbiges und gemütliches Aussehen verlieh. Es gab auch ein paar Fenster und eine Haustür, alles irgendwie schief und krumm, als wären diese Öffnungen ein wenig ungeschickt in den Kürbis hineingeschnitten.
Während Bastian auf das Haus zuging, beobachtete er, daß es in einer stetigen, langsamen Veränderung war. Etwa mit der Geruhsamkeit, mit der eine Schnecke ihre Fühler hervorschiebt, bildete sich auf der rechten Seite ein kleiner Auswuchs, der allmählich zu einem Erkertürmchen wurde. Zugleich schloß sich auf der linken Seite ein Fenster und verschwand nach und nach. Aus dem Dach wuchs ein Schornstein hervor, und über der Haustür bildete sich ein Balkönchen mit Gitterbalustrade. Bastian war stehengeblieben und beobachtete die fortwährenden Veränderungen mit Staunen und Belustigung. Jetzt war ihm klar, warum dieses Haus den Namen »Änderhaus« trug.
Während er noch so stand, hörte er aus dem Inneren eine warme, schöne Frauenstimme singen:
»Hundert Jahre, lieber Gast,
warten wir auf dich.
Da du hergefunden hast,
bist du's sicherlich.
Daß du Durst und Hunger stillst,
alles steht bereit.
Alles, was du suchst und willst,
auch Geborgenheit,
Trost nach allem Leid.
Ob du gut warst oder schlecht,
wie du bist, so bist du recht,
denn dein Weg war weit.«
»Ach«, dachte Bastian, »was für eine schöne Stimme! Ich wollte, das Lied würde mir gelten!« Die Stimme begann von neuem zu singen:
»Großer Herr, sei wieder klein!
Sei ein Kind und komm herein!
Steh nicht länger vor der Tür,
denn du bist willkommen hier!
Alles ist für dich bereit
schon seit langer Zeit.«
Die Stimme übte eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf Bastian aus. Er war sicher, daß es eine sehr freundliche Person war, die da sang. Er klopfte also an die Tür, und die Stimme rief:
»Herein! Herein, mein schöner Bub!«
Er öffnete die Tür und sah eine gemütliche, nicht sehr große Stube, durch deren Fenster die Sonne hereinschien. In der Mitte stand ein runder Tisch, gedeckt mit allerlei Schalen und Körben voll bunter Früchte, die Bastian nicht kannte. Am Tisch saß eine Frau, die selbst ein wenig aussah wie ein Apfel, so rotbackig und rund, so gesund und appetitlich.
Im allerersten Augenblick war Bastian fast überwältigt von dem Wunsch, mit ausgebreiteten Armen auf sie zuzulaufen und »Mama! Mama!« zu rufen. Aber er beherrschte sich. Seine Mama war tot und ganz gewiß nicht hier in Phantásien. Diese Frau hatte zwar dasselbe liebe Lächeln und dieselbe vertrauenerweckende Art, einen anzusehen, aber die Ähnlichkeit war höchstens die einer Schwester. Seine Mutter war klein gewesen, und diese Frau hier war groß und irgendwie imposant. Sie trug einen breiten Hut, der über und über voller Blumen und Früchte war, und auch ihr Kleid war aus einem farbenprächtigen geblümten Stoff. Erst nachdem er es eine Weile betrachtet hatte, bemerkte er, daß es in Wirklichkeit ebenfalls aus Blättern, Blüten und Früchten war.
Während er so stand und sie ansah, überkam ihn ein Gefühl, wie er es schon lange, lange nicht mehr gekannt hatte. Er konnte sich nicht erinnern, wann und wo, er wußte nur, daß er sich manchmal so gefühlt hatte, als er noch klein war.
»Setz dich doch, mein schöner Bub!« sagte die Frau und wies mit einer einladenden Handbewegung auf einen Stuhl, »du wirst sicher hungrig sein, also iß erst einmal!«
»Entschuldigung«, antwortete Bastian, »du erwartest doch einen Gast. Aber ich bin nur ganz zufällig hier.«
»Tatsächlich?« fragte die Frau und schmunzelte, »na, das macht nichts. Deswegen kannst du doch trotzdem essen, nicht wahr? Ich werde dir inzwischen eine kleine Geschichte erzählen. Greif zu und laß dich nicht lang bitten!«
Bastian zog seinen schwarzen Mantel aus, legte ihn über den Stuhl, setzte sich und griff zögernd nach einer Frucht. Ehe er hineinbiß, erkundigte er sich:
»Und du? Ißt du nichts? Oder magst du kein Obst?«
Die Frau lachte laut und herzlich, Bastian wußte nicht worüber.
»Gut«, sagte sie, nachdem sie sich gefaßt hatte, »wenn du darauf bestehst, will ich dir Gesellschaft leisten und auch etwas zu mir nehmen, aber auf meine Art. Erschrick nicht!«
Damit griff sie nach einer Gießkanne, die neben ihr auf dem Boden stand, hielt sie sich über den Kopf und begoß sich selbst.
»Ah!« machte sie, »das erfrischt!«
Jetzt war es Bastian, der lachte. Dann biß er in die Frucht und stellte sogleich fest, daß er etwas so Gutes noch nie gegessen hatte. Danach aß er eine andere, und die war sogar noch besser.
»Schmeckt's?« fragte die Frau, die ihn aufmerksam beobachtete.
Bastian hatte den Mund voll und konnte nicht antworten, er kaute und nickte.
»Das freut mich«, meinte die Frau, »ich habe mir auch besondere Mühe damit gegeben. Iß nur weiter, soviel du magst!«
Bastian griff nach einer neuen Frucht, und die war nun erst vollends ein Fest. Er seufzte hingerissen.
»Und nun will ich dir erzählen«, fuhr die Frau fort, »laß dich nur nicht beim Essen stören.«
Bastian mußte sich Mühe geben, ihren Worten zuzuhören, denn jede neue Frucht verursachte ihm neues Entzücken.
»Vor langer, langer Zeit«, begann die geblümte Frau, »war unsere Kindliche Kaiserin todkrank, denn sie brauchte einen neuen Namen, und den konnte ihr nur ein Menschenkind geben. Aber Menschen kamen nicht mehr nach Phantásien, niemand wußte warum. Und wenn sie sterben mußte, dann wäre es auch das Ende von Phantásien gewesen. Da kam eines Tages oder, besser gesagt, eines Nachts doch wieder ein Mensch - es war ein kleiner Bub, und der gab der Kindlichen Kaiserin den Namen Mondenkind. Sie wurde wieder gesund, und zum Dank versprach sie dem Buben, daß alle seine Wünsche in ihrem Reich Wirklichkeit werden sollten - so lange, bis er seinen Wahren Willen gefunden hätte. Von da an machte der kleine Bub eine lange Reise, von einem Wunsch zum anderen, und jeder erfüllte sich. Und jede Erfüllung führte ihn zu einem neuen Wunsch. Und es waren nicht nur gute Wünsche, sondern auch schlimme, aber die Kindliche Kaiserin macht keinen Unterschied, für sie gilt alles gleich und alles ist gleich wichtig in ihrem Reich. Und auch als schließlich der Elfenbeinturm dabei zerstört wurde, tat sie nichts, um es zu verhindern. Aber mit jeder Wunscherfüllung vergaß der kleine Bub einen Teil seiner Erinnerung an die Welt, aus der er gekommen war. Das machte ihm nicht viel aus, denn er wollte sowieso nicht dorthin zurück. So wünschte er sich weiter und weiter, aber nun hatte er fast alle seine Erinnerungen ausgegeben, und ohne Erinnerungen kann man nichts mehr wünschen. Da war er schon beinahe kein Mensch mehr, sondern fast ein Phantasier geworden. Und seinen Wahren Willen kannte er noch immer nicht. Jetzt bestand die Gefahr, daß er auch noch seine letzten Erinnerungen aufbrauchen würde, ohne dahinter zu kommen. Und das würde bedeuten, daß er nie wieder in seine Welt zurückkehren könnte. Da führte ihn zuletzt sein Weg ins Änderhaus, damit er hier so lange bleiben sollte, bis er seinen Wahren Willen fände. Denn das Änderhaus heißt nicht nur so, weil es sich selbst verändert, sondern weil es auch den ändert, der in ihm wohnt. Und das war sehr wichtig für den kleinen Buben, denn bisher wollte er zwar immer ein anderer sein, als er war, aber er wollte sich nicht ändern.«
An dieser Stelle unterbrach sie sich, denn ihr Besucher hatte aufgehört zu kauen. Er hielt eine angebissene Frucht in der Hand und starrte die geblümte Frau mit offenem Mund an.
»Wenn sie dir nicht schmeckt«, meinte sie besorgt, »dann leg sie ruhig weg und nimm eine andere!«
»Wie?« stotterte Bastian, »o nein, sie ist sehr gut.«
»Dann ist ja alles in Ordnung«, sagte die Frau zufrieden. »Aber ich habe vergessen zu sagen, wie der kleine Bub hieß, der im Änderhaus so lange schon erwartet wurde. Viele in Phantásien nannten ihn einfach nur den »Retter«, andere »den Ritter vom Siebenarmigen Leuchter« oder den »Großen Wissenden« oder auch »Herr und Gebieter«, aber sein wirklicher Name war Bastian Balthasar Bux.«
Danach sah die Frau ihren Gast lange lächelnd an. Er schluckte ein paarmal und sagte dann leise:
»So heiße ich.«
»Na, siehst du!« meinte die Frau und schien kein bißchen überrascht.
Die Knospen auf ihrem Hut und an ihrem Kleid öffneten sich plötzlich alle gleichzeitig und blühten auf.
»Aber hundert Jahre«, wandte Bastian unsicher ein, »bin ich doch noch gar nicht in Phantásien.«
»Oh, in Wirklichkeit warten wir schon viel länger auf dich«, antwortete die Dame, »schon meine Großmutter und die Großmutter meiner Großmutter hat auf dich gewartet. Siehst du, jetzt wird dir eine Geschichte erzählt, die neu ist und doch von uralter Vergangenheit berichtet.«
Bastian erinnerte sich an Graógramáns Worte, damals war er noch am Anfang seiner Reise gestanden. Jetzt schien es ihm wirklich, als wäre es hundert Jahre her.
»Übrigens habe ich dir bis jetzt noch nicht gesagt, wie ich heiße. Ich bin Dame Aiuóla.«
Bastian wiederholte den Namen und hatte ein bißchen Mühe, bis es ihm gelang, ihn richtig auszusprechen. Dann griff er nach einer neuen Frucht. Er biß hinein, und es kam ihm so vor, als ob immer die, die er gerade aß, von allen die köstlichste war. Ein wenig besorgt sah er, daß er schon die vorletzte aß.
»Möchtest du noch mehr?« fragte Dame Aiuóla, die seinen Blick bemerkt hatte. Bastian nickte. Da griff sie auf ihren Hut und ihr Kleid und pflückte Früchte ab, bis die Schale wieder gefüllt war.
»Wachsen die Früchte denn auf deinem Hut?« erkundigte sich Bastian verblüfft.
»Wieso Hut?« Dame Aiuóla blickte ihn verständnislos an. Dann brach sie in lautes, herzliches Lachen aus. »Ach, du meinst wohl, das ist mein Hut, was ich da auf dem Kopf habe? Aber nein, mein schöner Bub, das wächst doch alles aus mir heraus. So wie du Haare hast. Daran kannst du sehen, wie ich mich freue, daß du endlich da bist, darum blühe ich auf. Wenn ich traurig wäre, würde alles verwelken. Aber bitte, vergiß nicht zu essen!«
»Ich weiß nicht«, meinte Bastian verlegen, »man kann doch nicht etwas essen, was aus jemand herauskommt.«
»Warum nicht?« fragte Dame Aiuóla, »kleine Kinder bekommen doch auch die Milch von ihrer Mutter. Das ist doch wunderschön.«
»Schon«, wandte Bastian ein und errötete ein wenig, »aber doch nur, solange sie noch ganz klein sind.«
»Dann«, sagte Dame Aiuóla strahlend, »wirst du eben jetzt wieder ganz klein werden, mein schöner Bub.«
Bastian griff zu und biß in eine neue Frucht, und Dame Aiuóla freute sich darüber und blühte noch prächtiger auf.
Nach einer kleinen Stille meinte sie:
»Mir scheint, es möchte gern, daß wir ins Nebenzimmer umziehen. Wahrscheinlich hat es etwas für dich vorbereitet.«
»Wer?« fragte Bastian und schaute sich um.
»Das Änderhaus«, erklärte Dame Aiuóla mit Selbstverständlichkeit.
In der Tat war etwas Merkwürdiges geschehen. Die Stube hatte sich verwandelt, ohne daß Bastian etwas davon bemerkt hatte. Die Zimmerdecke war hoch hinaufgerutscht, während die Wände von drei Seiten ziemlich nahe an den Tisch herangerückt waren. Auf der vierten Seite war noch Platz, dort befand sich eine Tür, die jetzt offenstand.
Dame Aiuóla erhob sich - jetzt war zu sehen, wie groß sie war - und schlug vor:
»Gehen wir! Es hat seinen Dickkopf. Es nützt nichts, ihm zu widerstreben, wenn es sich eine Überraschung ausgedacht hat. Lassen wir ihm seinen Willen! Es meint's außerdem meistens gut.«
Sie ging durch die Tür nach nebenan. Bastian folgte ihr, nahm aber vorsorglich die Schale mit den Früchten mit.
Der Raum war groß wie ein Saal, und doch war es ein Speisezimmer, das Bastian irgendwie bekannt vorkam. Befremdlich war nur, daß alle Möbel, die hier standen, auch der Tisch und die Stühle, riesenhaft waren, viel zu groß, als daß Bastian hätte hinaufkommen können.
»Schau einer an!« sagte Dame Aiuóla belustigt, »dem Änderhaus fällt doch immer wieder was Neues ein. Jetzt hat es für dich ein Zimmer gemacht, wie es einem kleinen Kind erscheinen muß.«
»Wieso?« fragte Bastian, »war der Saal denn vorher nicht da?«
»Natürlich nicht«, antwortete sie, »weißt du, das Änderhaus ist sehr lebendig. Es beteiligt sich gern auf seine Art an unserer Unterhaltung. Ich glaube, es will dir damit etwas sagen.«
Dann setzte sie sich auf einen Stuhl an den Tisch, aber Bastian versuchte vergebens auf den anderen Stuhl hinaufzukommen. Dame Aiuóla mußte ihm helfen und ihn hinaufheben, und auch dann noch reichte er gerade mit der Nase über die Tischplatte. Er war recht froh, daß er die Schale mit den Früchten mitgenommen hatte und behielt sie auf dem Schoß. Wenn sie auf dem Tisch gestanden hätte, wäre sie für ihn unerreichbar gewesen.
»Mußt du oft so umziehen?« fragte er.
»Oft nicht«, antwortete Dame Aiuóla, »höchstens drei- bis viermal pro Tag. Manchmal macht das Änderhaus auch einfach bloß Spaß mit einem, dann sind auf einmal alle Zimmer umgekehrt, der Boden oben und die Decke unten oder dergleichen. Aber das ist reiner Übermut, und es wird auch gleich wieder vernünftig, wenn ich ihm ins Gewissen rede. Im Grunde ist es ein sehr liebes Haus, und ich fühle mich wirklich behaglich darin. Wir haben viel miteinander zu lachen.«
»Aber ist das denn nicht gefährlich?« erkundigte sich Bastian, »ich meine, nachts zum Beispiel, wenn man schläft und das Zimmer wird immer kleiner?«
»Wo denkst du hin, schöner Bub?« rief Dame Aiuóla fast entrüstet, »es mag mich doch gern, und dich mag es auch. Es freut sich über dich.«
»Und wenn es jemand nicht mag?«
»Keine Ahnung«, antwortete sie, »was du aber auch für Fragen stellst! Bis jetzt war noch niemand hier außer mir und dir.«
»Ach so!« sagte Bastian, »dann bin ich der erste Gast?«
»Natürlich.«
Bastian blickte sich in dem riesigen Raum um.
»Man sollte gar nicht glauben, daß dieses Zimmer überhaupt in das Haus hineinpaßt. Von außen sah es nicht so groß aus.«
»Das Änderhaus«, erklärte Dame Aiuóla, »ist von innen größer als von außen.«
Inzwischen war die Abenddämmerung hereingebrochen, und es wurde nach und nach dunkler in dem Zimmer. Bastian lehnte sich in seinen großen Stuhl zurück und stützte den Kopf auf. Er fühlte sich auf eine wunderbare Art schläfrig.
»Warum«, fragte er, »hast du so lang auf mich gewartet, Dame Aiuóla?«
»Ich habe mir immer ein Kind gewünscht«, antwortete sie, »ein kleines Kind, das ich verwöhnen darf, das meine Zärtlichkeit braucht, für das ich sorgen kann - jemand wie du, mein schöner Bub.«
Bastian gähnte. Er fühlte sich durch ihre warme Stimme auf unwiderstehliche Weise eingelullt.
»Aber du hast doch gesagt«, antwortete er, »daß auch deine Mutter und deine Großmutter schon auf mich gewartet haben.«
Dame Aiuólas Gesicht lag jetzt im Dunkeln.
»Ja«, hörte er sie sagen, »auch meine Mutter und meine Großmutter haben sich ein Kind gewünscht. Aber nur ich habe jetzt eins.«
Bastian fielen die Augen zu. Mit Mühe fragte er:
»Wieso, deine Mutter hatte doch dich, als du klein warst. Und deine Großmutter hatte deine Mutter. Also hatten sie doch Kinder?«
»Nein, mein schöner Bub«, antwortete die Stimme leise, »bei uns ist das anders. Wir sterben nicht und werden nicht geboren. Wir sind immer dieselbe Dame Aiuóla, und doch sind wir es auch wieder nicht. Als meine Mutter alt wurde, da verdorrte sie, alle ihre Blätter fielen ab wie bei einem Baum im Winter, sie zog sich ganz in sich zurück. So blieb sie lange Zeit. Aber dann begann sie eines Tages von neuem junge Blättchen hervorzutreiben, Knospen und Blüten und zuletzt Früchte. Und so bin ich entstanden, denn diese neue Dame Aiuóla war ich. Und genauso war es bei meiner Großmutter, als sie meine Mutter zur Welt brachte. Wir Damen Aiuóla können immer erst ein Kind haben, wenn wir vorher verwelken. Aber dann sind wir eben unser eigenes Kind und können nicht mehr Mutter sein. Darum bin ich so froh, daß du nun da bist, mein schöner Bub…«
Bastian antwortete nicht mehr. Er war in einen süßen Halbschlaf hinübergeglitten, in dem er ihre Worte wie einen Singsang vernahm. Er hörte, wie sie aufstand und zu ihm trat und sich über ihn beugte. Sie streichelte ihn sanft übers Haar und gab ihm einen Kuß auf die Stirn. Dann fühlte er, wie sie ihn hochhob und auf dem Arm hinaustrug. Er lehnte seinen Kopf an ihre Schulter wie ein kleines Kind. Immer tiefer sank er in die warme Dunkelheit des Schlafes hinunter. Ihm war, als ob er ausgezogen und in ein weiches, duftendes Bett gelegt würde. Als letztes hörte er noch - schon aus weiter Ferne - wie die schöne Stimme leise ein Liedchen sang:
»Schlaf, mein Liebling! Gute Nacht!
Hast so vieles durchgemacht.
Großer Herr, sei wieder klein!
Schlaf, mein Liebling, schlafe ein!«
Als er am nächsten Morgen erwachte, fühlte er sich so wohl und so zufrieden wie nie zuvor. Er blickte sich um und sah, daß er in einem sehr gemütlichen kleinen Zimmer lag - und zwar in einem Kinderbettchen!
Allerdings war es ein sehr großes Kinderbettchen oder vielmehr, es war so, wie es einem kleinen Kind erscheinen mußte. Einen Augenblick lang kam ihm das lächerlich vor, denn er war ja ganz gewiß kein kleines Kind mehr. Alles, was Phantásien ihm an Kräften und Gaben geschenkt hatte, besaß er ja noch immer. Auch das Zeichen der Kindlichen Kaiserin hing nach wie vor um seinen Hals. Aber schon im nächsten Moment war es ihm ganz gleichgültig, ob es nun lächerlich erscheinen mochte oder nicht, daß er hier lag. Außer ihm und Dame Aiuóla würde es niemals jemand erfahren, und sie beide wußten, daß alles gut und richtig war.
Er stand auf, wusch sich, zog sich an und ging hinaus. Er mußte eine Holztreppe hinuntersteigen und kam in das große Speisezimmer, das sich über Nacht allerdings in eine Küche verwandelt hatte. Dame Aiuóla wartete schon mit dem Frühstück auf ihn. Auch sie war äußerst guter Laune, alle ihre Blumen blühten, sie sang und lachte und tanzte sogar mit ihm um den Küchentisch herum. Nach der Mahlzeit schickte sie ihn hinaus, damit er an die frische Luft käme.
In dem weiten Rosenhag, der das Änderhaus umgab, schien ein ewiger Sommer zu herrschen. Bastian strolchte herum, beobachtete die Bienen, die emsig in den Blüten schmausten, hörte den Vögeln zu, die in allen Büschen sangen, spielte mit den Eidechsen, die so zutraulich waren, daß sie ihm auf die Hand krochen, und mit den Hasen, die sich von ihm streicheln ließen. Manchmal warf er sich unter einen Busch, roch den.süßen Duft der Rosen, blinzelte in die Sonne und ließ die Zeit vorüberrauschen wie einen Bach, ohne irgend etwas Bestimmtes zu denken.
So vergingen Tage, und aus den Tagen wurden Wochen. Er achtete nicht darauf. Dame Aiuóla war fröhlich, und Bastian überließ sich ganz und gar ihrer mütterlichen Fürsorge und Zärtlichkeit. Ihm war, als habe er, ohne es zu wissen, lange nach etwas gehungert, das ihm nun in Fülle zuteil wurde. Und er konnte sich schier nicht daran ersättigen.
Eine Zeitlang durchstöberte er das Änderhaus vom Dachstuhl bis zum Keller. Das war eine Beschäftigung, die einem so bald nicht langweilig wurde, da sich alle Räume ja ständig veränderten und immer wieder Neues zu entdecken war. Das Haus gab sich offensichtlich alle Mühe, seinen Gast zu unterhalten. Es produzierte Spielzimmer, Eisenbahnen, Kasperletheater und Rutschbahnen, ja sogar ein großes Karussell.
Manchmal unternahm Bastian auch ganztägige Streifzüge in die Umgebung. Aber sehr weit entfernte er sich niemals vom Änderhaus, denn es geschah regelmäßig, daß ihn plötzlich ein wahrer Heißhunger nach den Früchten Aiuólas befiel. Von einem Augenblick zum anderen konnte er es kaum noch erwarten, zu ihr zurückzukehren und sich nach Herzenslust satt zu essen.
Abends hatten sie oft lange Gespräche miteinander. Er erzählte ihr von allem, was er in Phantásien erlebt hatte, von Perelín und Graógramán, von Xayíde und Atréju, den er so schwer verwundet oder sogar getötet hatte.
»Ich habe alles falsch gemacht«, sagte er, »ich habe alles mißverstanden. Mondenkind hat mir so viel geschenkt, und ich habe damit nur Unheil angerichtet, für mich und für Phantásien.«
Dame Aiuóla sah ihn lange an.
»Nein«, antwortete sie, »das glaube ich nicht. Du bist den Weg der Wünsche gegangen, und der ist nie gerade. Du hast einen großen Umweg gemacht, aber es war dein Weg. Und weißt du, warum? Du gehörst zu denen, die erst zurückkehren können, wenn sie die Quelle finden, wo das Wasser des Lebens entspringt. Und das ist der geheimste Ort Phantásiens. Dorthin gibt es keinen einfachen Weg.«
Und nach einer kleinen Stille fügte sie hinzu:
»Jeder Weg, der dorthin führt, war am Ende der richtige.«
Da mußte Bastian plötzlich weinen. Er wußte selbst nicht warum. Ihm war, als ob sich ein Knoten in seinem Herzen auflöse und in Tränen zerging. Er schluchzte und schluchzte und konnte nicht aufhören. Dame Aiuóla nahm ihn auf ihren Schoß und streichelte ihn sanft, und er vergrub sein Gesicht in den Blumen auf ihrer Brust und weinte, bis er ganz satt und müde war.
An diesem Abend redeten sie nicht mehr weiter.
Erst am nächsten Tag kam Bastian noch einmal auf seine Suche zu sprechen:
»Weißt du, wo ich das Wasser des Lebens finden kann?«
»An der Grenze Phantásiens«, sagte Dame Aiuóla.
»Aber Phantásien hat keine Grenzen«, antwortete er.
»Doch, aber sie liegen nicht außen, sondern innen. Dort, von woher die Kindliche Kaiserin all ihre Macht empfängt, und wohin sie selbst doch nicht kommen kann.«
»Und da soll ich hinfinden?« fragte Bastian bekümmert, »ist es nicht schon zu spät?«
»Es gibt nur einen Wunsch, mit dem du dort hinfindest: Mit dem letzten.«
Bastian erschrak.
»Dame Aiuóla - für alle meine Wünsche, die sich durch AURYN erfüllt haben, habe ich etwas vergessen. Ist das hier auch so?«
Sie nickte langsam.
»Aber ich merke davon gar nichts!«
»Hast du es denn die anderen Male gemerkt? Was du vergessen hast, das kannst du nicht mehr wissen.«
»Und was vergesse ich denn jetzt?«
»Ich will es dir sagen, wenn der rechte Augenblick da ist. Sonst würdest du es festhalten.«
»Muß es denn so sein, daß ich alles verliere?«
»Nichts geht verloren«, sagte sie, »alles verwandelt sich.«
»Aber dann«, sagte Bastian beunruhigt, »müßte ich mich vielleicht beeilen. Ich dürfte nicht hier bleiben.«
Sie streichelte sein Haar.
»Mach dir keine Sorgen. Es dauert, solang es dauert. Wenn dein letzter Wunsch erwacht, dann wirst du es wissen - und ich auch.«
Von diesem Tage an begann sich tatsächlich etwas zu ändern, obgleich Bastian selbst noch nichts davon bemerkte. Die verwandelnde Kraft des Änderhauses tat ihre Wirkung. Doch wie alle wahren Veränderungen ging sie leise und langsam vor sich wie das Wachstum einer Pflanze.
Die Tage im Änderhaus verstrichen, und noch immer dauerte der Sommer an. Bastian genoß es auch weiterhin, sich wie ein Kind von Dame Aiuóla verwöhnen zu lassen. Auch ihre Früchte schmeckten ihm noch immer so köstlich wie zu Anfang, doch nach und nach war sein Heißhunger gestillt. Er aß weniger davon. Und sie bemerkte es, ohne jedoch ein Wort darüber zu verlieren. Auch von ihrer Fürsorge und Zärtlichkeit fühlte er sich gesättigt. Und in demselben Maß, wie sein Bedürfnis danach abnahm, erwachte in ihm eine Sehnsucht ganz anderer Art, ein Verlangen, wie er es bisher noch nie empfunden hatte und das sich in jeder Hinsicht von all seinen bisherigen Wünschen unterschied: Die Sehnsucht, selbst lieben zu können. Mit Verwunderung und Trauer wurde er inne, daß er es nicht konnte. Doch der Wunsch danach wurde stärker und stärker.
Und eines Abends, als sie wieder beisammensaßen, sprach er darüber mit Dame Aiuóla.
Nachdem sie ihm zugehört hatte, schwieg sie lange. Ihr Blick ruhte mit einem Ausdruck auf Bastian, den er nicht verstand.
»Jetzt hast du deinen letzten Wunsch gefunden«, sagte sie, »dein Wahrer Wille ist es, zu lieben.«
»Aber warum kann ich es nicht, Dame Aiuóla?«
»Das kannst du erst, wenn du vom Wasser des Lebens getrunken hast«, antwortete sie, »und du kannst nicht in deine Welt zurück, ohne anderen davon mitzubringen.«
Bastian schwieg verwirrt. »Aber du?« fragte er, »hast du denn nicht auch schon davon getrunken?«
»Nein«, sagte Dame Aiuóla, »bei mir ist das etwas anderes. Ich brauche nur jemand, dem ich meinen Überfluß schenken kann.«
»War das denn nicht Liebe?«
Dame Aiuóla überlegte eine Weile, dann erwiderte sie:
»Es war, was du dir gewünscht hast.«
»Können phantásische Wesen auch nicht lieben - wie ich?« fragte er bang.
»Es heißt«, entgegnete sie leise, »daß es einige wenige Geschöpfe Phantásiens gibt, die vom Wasser des Lebens trinken durften. Aber niemand weiß, wer sie sind. Und es gibt eine Verheißung, von der wir nur selten sprechen, daß einmal in ferner Zukunft eine Zeit kommen wird, wo die Menschen die Liebe auch nach Phantásien bringen werden. Dann werden beide Welten nur noch eine sein. Doch was das bedeutet, weiß ich nicht.«
»Dame Aiuóla«, fragte Bastian ebenso leise, »du hast versprochen, wenn der rechte Augenblick gekommen ist, willst du mir sagen, was ich vergessen mußte, um meinen letzten Wunsch zu finden. Ist jetzt der rechte Augenblick gekommen?«
Sie nickte.
»Du mußtest Vater und Mutter vergessen. Jetzt hast du nichts mehr als deinen Namen.«
Bastian dachte nach.
»Vater und Mutter?« sagte er langsam. Aber die Worte bedeuteten ihm nichts mehr. Er konnte sich nicht erinnern.
»Was soll ich jetzt tun?« fragte er.
»Du mußt mich verlassen«, antwortete sie, »deine Zeit im Änderhaus ist vorüber.«
»Und wo soll ich hin?«
»Dein letzter Wunsch wird dich führen. Verliere ihn nicht!«
»Soll ich jetzt gleich gehen?«
»Nein, es ist spät. Morgen früh bei Tagesanbruch. Du hast noch eine Nacht im Änderhaus. Jetzt wollen wir Schlafengehen.«
Bastian stand auf und trat zu ihr. Erst jetzt, als er ihr nah war, bemerkte er in der Dunkelheit, daß all ihre Blüten verwelkt waren.
»Kümmere dich nicht darum!« sagte sie, »auch morgen früh sollst du dich nicht um mich kümmern. Geh deinen Weg! Es ist alles gut und richtig so. Gute Nacht, mein schöner Bub.«
»Gute Nacht, Dame Aiuóla«, murmelte Bastian.
Dann ging er in sein Zimmer hinauf.
Als er am nächsten Tag herunterkam, sah er, daß Dame Aiuóla noch immer auf demselben Platz saß. Alle Blätter, Blüten und Früchte waren von ihr abgefallen. Sie hatte die Augen geschlossen und sah aus wie ein schwarzer, abgestorbener Baum. Lange stand Bastian vor ihr und schaute sie an. Dann sprang plötzlich eine Tür auf, die ins Freie führte.
Ehe er hinausging, wandte er sich noch einmal zurück und sagte, ohne zu wissen, ob er Dame Aiuóla oder das Haus meinte oder alle beide:
»Danke, Danke für alles!«
Dann trat er durch die Tür hinaus. Draußen war es über Nacht Winter geworden. Der Schnee lag knietief, und von dem blühenden Rosenhag waren nur noch schwarze Dornenhecken übrig. Kein Wind regte sich. Es war bitterkalt und sehr still.
Bastian wollte zurück ins Haus, um seinen Mantel zu holen, aber Türen und Fenster waren verschwunden. Es hatte sich rundum geschlossen. Fröstelnd machte er sich auf den Weg.