16. Die Silberstadt Amargánth

Purpurnes Licht zog in langsamen Wellen über den Boden und die Wände des Raumes. Es war ein sechseckiges Zimmer, gleichsam eine große Bienenwabenzelle. In jeder zweiten Wand befand sich eine Tür, die übrigen drei Wände, die dazwischen lagen, waren mit sonderbaren Bildern bemalt. Es waren Traumlandschaften und Geschöpfe, die halb Pflanzen, halb Tiere sein mochten. Durch die eine Tür war Bastian hereingekommen, die beiden anderen lagen zur Rechten und zur Linken vor ihm. Ihre Form war völlig gleich, nur war die linke schwarz und die rechte weiß. Bastian entschied sich für die weiße.

Im nächsten Zimmer herrschte gelbliches Licht. Die Wände standen in derselben Anordnung. Die Bilder zeigten hier allerhand Geräte, aus denen Bastian nicht schlau werden konnte. Waren es Werkzeuge oder Waffen? Die beiden Türen, die nach links und rechts weiterführten, hatten die gleiche Farbe, sie waren gelb, aber die linke war hoch und schmal, die rechte dagegen niedrig und breit. Bastian ging durch die linke.

Das Zimmer, das er nun betrat, war wie die beiden vorhergehenden sechseckig, aber bläulich beleuchtet. Die Bilder an den Wänden zeigten verschlungene Ornamente oder Schriftzeichen eines fremdartigen Alphabets. Hier waren die beiden Türen von gleicher Form, aber aus verschiedenem Material, die eine aus Holz, die andere aus Metall. Bastian entschied sich für die hölzerne.

Es ist unmöglich, sämtliche Türen und Zimmer zu beschreiben, durch die Bastian bei seiner Wanderung durch den Tausend Türen Tempel kam. Es gab Pforten, die aussahen wie große Schlüssellöcher oder andere, die Höhleneingängen glichen, es gab goldene und verrostete Türen, gepolsterte und nägelbeschlagene, papierdünne und solche, die dick waren wie Tresortüren, es gab eine, die wie der Mund eines Riesen aussah, und eine andere, die wie eine Zugbrücke geöffnet werden mußte, eine, die einem großen Ohr glich, und eine andere, die aus einem Lebkuchen bestand, eine, die wie eine Ofenklappe geformt war, und eine, die aufgeknöpft werden mußte. Jeweils hatten die beiden Türen, die aus einem Zimmer hinausführten, irgend etwas miteinander gemein - die Form, das Material, die Größe, die Farbe - aber irgend etwas unterschied sie auch grundsätzlich voneinander.

Bastian war schon viele Male von einem sechseckigen Raum in einen anderen getreten. Jede Entscheidung, die er traf, führte ihn immer vor eine neue Entscheidung, die ihrerseits abermals eine Entscheidung nach sich zog. Aber alle diese Entscheidungen änderten nichts daran, daß er noch immer im Tausend Türen Tempel war - und es auch bleiben würde. Während er weiter- und immer weiterging, begann er darüber nachzudenken, woran das liegen mochte. Sein Wunsch hatte zwar ausgereicht, ihn in den Irrgarten hineinzuführen, aber er war offenbar nicht genau genug, um ihn auch den Weg hinausfinden zu lassen. Er hatte sich gewünscht, in Gesellschaft zu kommen. Aber jetzt wurde ihm bewußt, daß er sich darunter überhaupt nichts Genaues vorstellte. Und es half ihm nicht im geringsten zu entscheiden, ob er eine Tür aus Glas oder eine aus Korbgeflecht wählen sollte. Bis jetzt hatte er seine Wahl auch einfach so aus Lust und Laune getroffen, ohne viel dabei nachzudenken. Eigentlich hätte er jedesmal ebensogut die andere Tür nehmen können. Aber so würde er niemals hinausfinden.

Er stand gerade in einem Raum, dessen Licht grünlich war. Drei der sechs Wände waren mit Wolkenformen bemalt. Die Tür zur Linken war aus weißem Perlmutter, die zur rechten aus schwarzem Ebenholz. Und plötzlich wußte er, was er sich wünschte: Atréju!

Die perlmutterne Tür erinnerte Bastian an den Glücksdrachen Fuchur, dessen Schuppen wie weißes Perlmutter glitzerten, also entschied er sich für diese.

Im nächsten Raum gab es zwei Türen, deren eine aus Gras geflochten war, die andere bestand aus einem Eisengitter. Bastian wählte die aus Gras, weil er an das Gräserne Meer, Atréjus Heimat, dachte.

Im darauffolgenden Raum fand er sich vor zwei Türen, die sich nur dadurch unterschieden, daß die eine aus Leder war, die andere aus Filz. Bastian ging natürlich durch die aus Leder.

Wieder stand er vor zwei Türen, und hier mußte er doch noch einmal überlegen. Die eine war purpurrot und die andere olivgrün. Atréju war eine Grünhaut, und er trug einen Mantel aus dem Fell der Purpurbüffel. Auf der olivgrünen Tür waren einige einfache Zeichen mit weißer Farbe gemalt, so wie Atréju sie auf Stirn und Wangen hatte, als der alte Caíron zu ihm gekommen war. Dieselben Zeichen waren aber auch auf der purpurroten Tür, und davon, daß auf Atréjus Mantel solche Zeichen gewesen wären, wußte Bastian nichts. Also mußte es sich da um einen Weg handeln, der zu einem anderen, aber nicht zu Atréju führte.

Bastian öffnete also die olivgrüne Tür - und stand im Freien!

Zu seiner Verwunderung war er aber nicht etwa im Gräsernen Meer gelandet, sondern in einem lichten Frühlingswald. Sonnenstrahlen drangen durch das junge Laubwerk und ihre Licht- und Schattenspiele flirrten auf dem moosigen Boden. Es duftete nach Erde und Pilzen, und die laue Luft war von Vogelgezwitscher erfüllt.

Bastian drehte sich um und sah, daß er soeben aus einer kleinen Waldkapelle herausgetreten war. Für diesen Augenblick also war die Pforte der Ausgang des Tausend Türen Tempels gewesen. Bastian öffnete sie noch einmal, aber er sah nur den engen, kleinen Kapellenraum vor sich. Das Dach bestand nur noch aus einigen morschen Balken, die in die Waldesluft ragten, und die Wände waren mit Moos überzogen.

Bastian machte sich auf den Weg, ohne zunächst zu wissen wohin. Er zweifelte nicht daran, früher oder später auf Atréju zu stoßen. Und er freute sich ganz unbändig auf das Zusammentreffen. Er pfiff den Vögeln zu, die ihm antworteten, und er sang laut und übermütig, was ihm gerade so in den Sinn kam.

Nach kurzer Wanderung erblickte er auf einer Lichtung eine Gruppe von Gestalten, die dort lagerten. Beim Näherkommen erkannte er, daß es sich um mehrere Männer in prachtvollen Rüstungen handelte. Auch eine schöne Dame war bei ihnen. Sie saß im Gras und klimperte auf einer Laute. Im Hintergrund standen einige Pferde, die kostbar gesattelt und gezäumt waren. Vor den Männern, die im Grase lagen und plauderten, war ein weißes Tuch ausgebreitet, auf dem allerlei Speisen und Trinkbecher standen.

Bastian näherte sich der Gruppe, doch zuvor verbarg er das Amulett der Kindlichen Kaiserin unter seinem Hemd, denn er hatte Lust, erst einmal unerkannt und ohne Aufsehen zu erregen, die Gesellschaft kennenzulernen.

Als sie ihn kommen sahen, standen die Männer auf und begrüßten ihn höflich, indem sie sich verbeugten. Sie hielten ihn offensichtlich für einen morgenländischen Prinzen oder dergleichen. Auch die schöne Dame neigte lächelnd ihren Kopf vor ihm und zupfte weiter auf ihrem Instrument. Unter den Männern war einer besonders groß und besonders prunkvoll gekleidet. Er war noch jung und hatte blonde Haare, die ihm auf die Schultern herabfielen.

»Ich bin Held Hynreck«, sagte er, »diese Dame ist Prinzessin Oglamár, die Tochter des Königs von Lunn. Diese Männer sind meine Freunde Hýkrion, Hýsbald und Hýdorn. Und wie ist Euer Name, junger Freund?«

»Ich darf meinen Namen nicht nennen - noch nicht«, antwortete Bastian.

»Ein Gelübde?« fragte Prinzessin Oglamár ein wenig spöttisch, »so jung und schon eine Gelübde?«

»Ihr kommt gewiß von weither?« wollte Held Hynreck wissen.

»Ja, von sehr weit«, erwiderte Bastian.

»Seid Ihr ein Prinz?« erkundigte sich die Prinzessin und betrachtete ihn wohlgefällig.

»Das verrate ich nicht«, entgegnete Bastian.

»Nun, jedenfalls willkommen bei unserer Tafelrunde!« rief Held Hynreck, »wollt Ihr uns die Ehre erweisen, bei uns Platz zu nehmen und mit uns zu tafeln, junger Herr?«

Bastian nahm dankend an, setzte sich und griff zu.

Aus dem Gespräch, das die Dame und die vier Herren führten, erfuhr er, daß ganz in der Nähe die große und herrliche Silberstadt Amargánth lag. Dort sollte eine Art Wettkampf stattfinden. Von nah und fern kamen die wagemutigsten Helden, die besten Jäger, die tapfersten Krieger, aber auch allerlei Abenteurer und verwegene Kerle, um an der Veranstaltung teilzunehmen. Nur die drei Mutigsten und Besten, die alle anderen besiegt hatten, sollten der Ehre teilhaftig werden, an einer Art Suchexpedition teilzunehmen. Es sollte sich dabei um eine wahrscheinlich sehr lange und abenteuerliche Reise handeln, deren Ziel es war, eine bestimmte Persönlichkeit zu finden, die sich irgendwo in einem der zahllosen Länder Phantásiens aufhielt und die nur »der Retter« genannt wurde. Den Namen kannte noch niemand. Ihm jedenfalls verdanke das Phantásische Reich, daß es wieder, oder noch immer, existierte. Irgendwann vor Zeiten sei nämlich eine entsetzliche Katastrophe über Phantásien hereingebrochen, durch die es um ein Haar ganz und gar vernichtet worden wäre. Das habe der besagte »Retter« im letzten Augenblick abgewehrt, indem er gekommen sei und der Kindlichen Kaiserin den Namen Mondenkind gegeben habe, unter dem sie heute jedes Wesen in Phantásien kenne. Seither irre er aber unerkannt durch die Lande, und Aufgabe der Suchexpedition würde es sein, ihn ausfindig zu machen und ihn dann sozusagen als Leibwache zu begleiten, damit ihm nichts zustoße. Dazu aber waren nur die tüchtigsten und mutigsten Männer ausersehen, denn es konnte sein, daß es dabei unvorstellbare Abenteuer zu bestehen galt.

Der Wettkampf, bei dem diese Auswahl getroffen werden sollte, war zwar von Silbergreis Quérquobad veranstaltet worden - in der Stadt Amargánth regierte immer der älteste Mann oder die älteste Frau, und Quérquobad war hundertsieben Jahre alt - aber nicht er würde die Auswahl unter den Wettkämpfern treffen, sondern ein junger Wilder namens Atréju, ein Knabe aus dem Volk der Grünhäute, der bei Silbergreis Quérquobad zu Gast war. Dieser Atréju sollte auch später die Expedition führen. Er war nämlich der einzige, der den »Retter« erkennen konnte, weil er ihn einmal in einem Zauberspiegel gesehen hatte.

Bastian schwieg und hörte nur zu. Das fiel ihm nicht leicht, denn er hatte sehr bald begriffen, daß es sich bei dem »Retter« um ihn selbst handelte. Und als dann sogar Atréjus Name fiel, da lachte ihm das Herz im Leib, und er hatte die größte Mühe, sich nicht zu verraten. Aber er war entschlossen, vorläufig noch sein Inkognito zu wahren.

Übrigens ging es Held Hynreck bei der ganzen Angelegenheit nicht so sehr um die Suchexpedition und ihre Ziele, als darum, das Herz der Prinzessin Oglamár zu gewinnen. Bastian hatte sofort bemerkt, daß Held Hynreck bis über beide Ohren in die junge Dame verliebt war. Er seufzte ab und zu an Stellen, wo es gar nichts zu seufzen gab, und blickte seine Angebetete immer wieder mit traurigen Augen an. Und sie tat, als ob sie es nicht bemerke. Wie sich herausstellte, hatte sie nämlich bei irgendeiner Gelegenheit das Gelübde abgelegt, nur den größten aller Helden zum Mann zu nehmen, den, der alle anderen besiegen konnte. Mit weniger wollte sie sich nicht zufrieden geben. Das war Held Hynrecks Problem, denn wie sollte er ihr beweisen, daß er der Größte war. Er konnte schließlich nicht einfach jemand totschlagen, der ihm nichts getan hatte. Und Kriege hatte es schon lange nicht mehr gegeben. Er hätte gern gegen Ungeheuer und Dämonen gekämpft, er hätte ihr, wenn es nach ihm gegangen wäre, jeden Morgen einen blutigen Drachenschwanz auf den Frühstückstisch gelegt, aber es gab weit und breit keine Ungeheuer und keine Drachen. Als der Bote von Silbergreis Quérquobad zu ihm gekommen war, um ihn zu dem Wettkampf einzuladen, hatte er natürlich sofort zugesagt. Prinzessin Oglamár aber hatte darauf bestanden, mitzukommen, denn sie wollte sich mit eigenen Augen davon überzeugen, was er konnte.

»Den Berichten von Helden«, sagte sie lächelnd zu Bastian, »kann man bekanntlich nicht trauen. Sie haben alle einen Hang zum Ausschmücken.«

»Mit oder ohne Ausschmückung«, warf Held Hynreck ein, »bin ich jedenfalls hundertmal mehr wert als der sagenhafte Retter.«

»Woher wollt Ihr das wissen?« fragte Bastian.

»Nun«, meinte Held Hynreck, »wenn der Bursche nur halb soviel Mark in den Knochen hätte wie ich, dann brauchte er keine Leibwache, die ihn behüten und betreuen muß wie ein Baby. Scheint mir ein ziemlich jämmerliches Kerlchen zu sein, dieser Retter.«

»Wie könnt Ihr so etwas sagen!« rief Oglamár entrüstet. »Schließlich hat er Phantásien vor dem Untergang bewahrt!«

»Und wenn schon!« erwiderte Held Hynreck geringschätzig. »Dazu wird wohl keine besondere Heldentat nötig gewesen sein.«

Bastian beschloß, ihm bei passender Gelegenheit einen kleinen Denkzettel zu verabfolgen.

Die drei anderen Herren waren erst unterwegs zufällig zu dem Paar gestoßen und hatten sich ihm angeschlossen. Hýkrion, der einen wilden schwarzen Schnurrbart trug, behauptete, der stärkste und gewaltigste Haudegen Phantásiens zu sein. Hýsbald, der rothaarig war und im Vergleich zu den anderen zart wirkte, behauptete, niemand ginge gewandter und flinker mit der Klinge um als er. Und Hýdorn schließlich war davon überzeugt, daß niemand ihm beim Kampf an Zähigkeit und Ausdauer gleichkäme. Seine Erscheinung gab dieser Behauptung recht, denn er war lang und mager und schien nur aus Sehnen und Knochen zu bestehen.

Nachdem die Mahlzeit beendet war, brach man auf. Geschirr, Tuch und Speisevorräte wurden in den Satteltaschen eines Saumtiers verstaut. Prinzessin Oglamár bestieg ihren weißen Zelter und trabte einfach fort, ohne sich nach den anderen umzusehen. Held Hynreck sprang auf seinen kohlschwarzen Hengst und galoppierte ihr nach. Die drei übrigen Herren schlugen Bastian vor, auf dem Saumtier zwischen den Vorratstaschen Platz zu nehmen. Er schwang sich hinauf, die Herren bestiegen ebenfalls ihre prächtig gezäumten Pferde, und dann ging es im Trab, Bastian als letzter, durch den Wald. Das Saumtier, eine ältere Mauleselin, blieb immer weiter zurück, und Bastian versuchte sie anzutreiben. Aber statt schneller zu laufen, blieb die Mauleselin stehen, wandte ihren Kopf zurück und sagte:

»Du brauchst mich nicht anzutreiben, ich bin absichtlich zurückgeblieben, Herr.«

»Warum?« fragte Bastian.

»Ich weiß, wer du bist, Herr.«

»Woher willst du das wissen?«

»Wenn man bloß ein halber Esel ist wie ich und kein ganzer, dann fühlt man so was. Sogar die Pferde haben etwas gemerkt. Du brauchst mir nichts zu sagen, Herr. Ich würde es gern meinen Kindern und Enkeln erzählen können, daß ich den Retter getragen und als erste begrüßt habe. Leider hat unsereins keine Kinder.«

»Wie heißt du?« fragte Bastian.

»Jicha, Herr.«

»Hör mal, Jicha, verdirb mir nicht den Spaß und behalte vorerst für dich, was du weißt. Willst du?«

»Gern, Herr.«

Und dann setzte die Mauleselin sich in Trab, um die anderen wieder einzuholen.

Die Gruppe wartete am Waldrand. Alle blickten bewundernd zu der Stadt Amargánth hinunter, die im Sonnenschein vor ihnen glänzte. Der Waldrand lag auf einer Anhöhe, und von hier aus hatte man einen weiten Ausblick über einen großen, fast veilchenblauen See, der zu allen Seiten von ähnlichen bewaldeten Hügeln umgeben war. Und mitten in diesem See lag die Silberstadt Amargánth. Alle Häuser standen auf Schiffen, die großen Paläste auf breiten Lastkähnen, die kleineren auf Barken und Booten. Und jedes Haus und jedes Schiff bestand aus Silber, aus feinziseliertem und kunstvoll verziertem Silber. Die Fenster und Türen der kleinen und großen Paläste, die Türmchen und Balkone, waren aus Silberfiligran so wundervoller Art, daß es in ganz Phantásien nicht seinesgleichen gab. Allenthalben auf dem See waren Boote und Barken zu sehen, die Besucher von den Ufern in die Stadt brachten. So beeilte sich nun auch Held Hynreck und seine Begleitung den Strand zu erreichen, wo eine Silberfähre mit herrlich geschwungenem Bug wartete.Die ganze Gesellschaft samt Pferden und Saumtier fand darauf Platz.

Unterwegs erfuhr Bastian von dem Fährmann, der übrigens ein Kleid aus Silbergewebe trug, daß die veilchenblauen Wasser des Sees so salzig und bitter waren, daß nichts auf die Dauer ihrer zersetzenden Wirkung widerstehen konnte - nichts, außer dem Silber. Der See hieß Murhu oder der Tränensee. In längst vergangenen Zeiten habe man die Stadt Amargánth mitten auf den See hinausgefahren, um sie gegen Überfälle zu sichern, denn wer auch immer auf Holzschiffen oder Eisenkähnen versucht habe, sie zu erreichen, sei untergegangen und verloren gewesen, weil das Wasser Schiff und Besatzung in kurzer Zeit aufgelöst habe. Aber jetzt habe man einen anderen Grund, Amargánth auf dem Wasser zu lassen. Die Bewohner liebten es nämlich, ihre Häuser ab und zu umzugruppieren und Straßen und Plätze neu zusammenzustellen. Wenn zum Beispiel zwei Familien, die an den entgegengesetzten Rändern der Stadt wohnten, sich befreundeten oder miteinander verwandt wurden, weil ihre jungen Leute heirateten, dann verließen sie ihren bisherigen Standort und legten ihre Silberschiffe einfach nebeneinander, wodurch sie Nachbarn wurden. Das Silber war, nebenbei bemerkt, besonderer Art und ebenso einmalig wie die unvergleichliche Schönheit seiner Bearbeitung.

Bastian hätte gern noch mehr darüber gehört, aber die Fähre war in der Stadt angekommen, und er mußte mit seinen Reisegenossen aussteigen.

Zunächst suchten sie nun eine Herberge, um Unterkunft für sich und ihre Tiere zu finden. Das war nicht ganz leicht, denn Amargánth war von Reisenden, die von nah und fern zu den Wettkämpfen gekommen waren, förmlich erobert. Aber schließlich fanden sie doch noch Platz in einem Gasthaus. Als Bastian die Mauleselin in den Stall führte, flüsterte er ihr noch ins Ohr:

»Vergiß nicht, was du versprochen hast, Jicha. Wir sehen uns bald wieder.«

Jicha nickte nur mit dem Kopf.

Danach erklärte Bastian seinen Reisegenossen, daß er ihnen nicht länger zur Last fallen wolle, sondern gern auf eigene Faust die Stadt besichtigen würde. Er bedankte sich bei ihnen für ihre Freundlichkeit und verabschiedete sich. In Wirklichkeit brannte er natürlich darauf, Atréju zu finden.

Die großen und kleinen Schiffe waren untereinander durch Stege verbunden, manche schmal und zierlich, so daß jeweils nur eine Person darüber gehen konnte, andere breit und prächtig wie Straßen, auf denen sich die Menge drängte. Es gab auch geschwungene Brücken mit Dächern darüber, und in den Kanälen zwischen den Palastschiffen fuhren Hunderte von kleinen Silbernachen hin und her. Doch wo man auch ging und stand, immerfort fühlte man unter den Sohlen ein leichtes Heben und Senken des Bodens, das einen daran erinnerte, daß die ganze Stadt auf dem Wasser schwamm.

Die Menge der Besucher, von der die Stadt schier überzukochen schien, war so bunt und vielgestaltig, daß ihre Beschreibung ein eigenes Buch füllen würde. Die Amargánther waren leicht zu erkennen, denn sie alle trugen die Kleidung aus Silbergewebe, das fast so schön war wie Bastians Mantel. Auch ihre Haare waren silbern, sie waren groß und wohlgestalt und hatten Augen, so veilchenblau wie Murhu, der Tränensee. Nicht ganz so schön war der größte Teil der Besucher. Da gab es muskelbepackte Riesen mit Köpfen, die zwischen ihren gewaltigen Schultern klein wie Äpfel aussahen. Da liefen finster und verwegen aussehende Nacht-Rabauken herum, einzelgängerische Kerle, denen man ansah, daß mit ihnen nicht gut Kirschen essen war. Da gab es Firlefänze mit flinken Augen und flinken Händen, und Berserker, die breitspurig daherkamen, und denen Rauch aus Mund und Nase stieg. Da wirbelten Spiegelfechter herum wie lebendige Kreisel, und Waldschratte trotteten auf knorrigen Beinen daher, dicke Keulen über den Schultern. Einmal sah Bastian sogar einen Felsenbeißer, dessen Zähne wie stählerne Meißel aus seinem Mund ragten. Der silberne Steg bog sich unter seinem Gewicht, als er seines Weges einherstampfte. Aber ehe Bastian ihn fragen konnte, ob er vielleicht Pjörnrachzarck hieß, war er im Gedränge verschwunden.

Schließlich erreichte Bastian das Zentrum der Stadt. Und hier war es, wo die Wettkämpfe stattfanden. Sie waren bereits in vollem Gang. Auf einem großen, runden Platz, der wie eine riesenhafte Zirkusarena aussah, maßen Hunderte von Wettkämpfern ihre Kräfte und zeigten, was sie konnten. Um das weite Rund drängte sich eine Menge von Zuschauern, welche die Wettkämpfer durch Zurufe anfeuerten, auch die Fenster und Balkone der umliegenden Schiffs-Paläste quollen fast über von Zuschauern, und manchen war es gar gelungen, auf die silberfiligrangeschmückten Dächer hinaufzuklettern.

Aber Bastian war zunächst nicht so sehr an dem Schauspiel interessiert, das die Wettkämpfer boten. Er wollte Atréju finden, der ja gewiß von irgendeinem Punkt aus den Spielen zusah. Und dann beobachtete er, daß die Menge immer wieder erwartungsvoll zu einem bestimmten Palast hinblickte - vor allem dann, wenn einem der Wettstreiter offenbar ein besonders eindrucksvolles Stückchen gelungen war. Aber Bastian mußte sich erst über eine der geschwungenen Brücken drängen und dann an einer Art Laternenpfahl emporklettern, ehe er einen Blick auf jenen Palast werfen konnte.

Auf einem breiten Balkon waren dort zwei hohe Stühle aus Silber aufgestellt. Auf dem einen saß ein sehr alter Mann, dessen silbernes Bart- und Haupthaar bis auf den Gürtel herabwallte. Das mußte Quérquobad, der Silbergreis, sein. Neben ihm saß ein Junge, etwa in Bastians Alter. Er trug lange Hosen aus weichem Leder, sein Oberkörper war nackt, so daß man seine olivgrüne Haut sehen konnte. Der Ausdruck des schmalen Gesichtes war ernst, ja beinahe streng. Das lange, blauschwarze Haar trug er in einem Schöpf, der mit Lederschnüren zusammengebunden war, auf dem Hinterkopf. Um seine Schultern lag ein purpurroter Mantel. Er blickte ruhig und doch eigentümlich angespannt auf den Kampfplatz hinunter. Nichts schien seinen dunklen Augen zu entgehen. Atréju!

In diesem Augenblick erschien in der offenen Balkontür hinter Atréju noch ein anderes, sehr großes Gesicht, das löwenähnlich aussah, nur daß es anstelle eines Fells weiße Perlmutterschuppen hatte und vom Maul lange weiße Barten herunterhingen. Die Augenbälle waren rubinrot und funkelten, und als sich der Kopf nun hoch über Atréju hob, sah man, daß er auf einem langen, geschmeidigen und ebenfalls mit Perlmutterschuppen bedeckten Hals saß, von dem eine Mähne wie weißes Feuer herunterfiel. Es war Fuchur, der Glücksdrache. Und er schien Atréju etwas ins Ohr zu sagen, denn dieser nickte.

Bastian ließ sich wieder von dem Laternenpfahl herabgleiten. Er hatte genug gesehen. Jetzt wandte er seine Aufmerksamkeit den Wettkämpfern zu.

Im Grunde genommen handelte es sich dabei nicht so sehr um wahre und wirkliche Kämpfe, als vielmehr um eine Art Zirkusvorstellung in großem Maßstab. Zwar gab es da gerade einen Ringkampf zwischen zwei Riesen, deren Leiber zu einem einzigen gewaltigen Knoten verschlungen waren, der hin und her rollte, zwar gab es da und dort Paare gleicher oder ganz verschiedener Art, die ihre Kunst im Schwertfechten oder im Handhaben der Keule oder der Lanze vorführten, aber natürlich gingen sie sich dabei nicht ernstlich an Leib und Leben. Es gehörte sogar auch zu den Spielregeln, zu zeigen, wie fair und anständig einer kämpfte und wie gut er sich in der Gewalt hatte. Ein Wettkämpfer, der sich aus Zorn oder Ehrgeiz hätte hinreißen lassen, seinen Kampfpartner ernstlich zu verletzen, wäre sowieso sofort für untauglich erklärt worden. Die meisten waren damit beschäftigt, ihre Fertigkeit im Bogenschießen zu beweisen, oder ihre Kräfte zu zeigen, indem sie riesige Gewichte stemmten, andere führten ihre Talente vor, indem sie akrobatische Kunststücke machten oder allerlei Mutproben ablegten. So verschiedenartig die Bewerber waren, so vielfältig war, was sie zeigten.

Immer wieder mußten einige, die übertroffen worden waren, den Platz verlassen, und so wurden es nach und nach immer weniger. Dann sah Bastian, daß Hýkrion, der Starke, Hýsbald, der Flinke, und Hýdorn, der Zähe, das Rund betraten. Held Hynreck und seine Angebetete, Prinzessin Oglamár, waren nicht bei ihnen.

Zu diesem Zeitpunkt befanden sich noch etwa hundert Wettkämpfer auf dem Platz. Da es sich bei diesen um die Auslese der Besten handelte, fiel es Hýkrion, Hýsbald und Hýdorn nicht so leicht, wie sie vielleicht geglaubt hatten, sich gegen ihre Gegner zu behaupten. Es dauerte den ganzen Nachmittag, bis Hýkrion sich als der Mächtigste unter den Starken, Hýsbald als der Gewandteste unter den Flinken und Hýdorn als der Ausdauerndste unter den Zähen erwiesen hatte. Das Publikum jubelte und klatschte ihnen begeistert zu, und die drei verbeugten sich in Richtung des Balkons, wo der Silbergreis Quérquobad und Atréju saßen. Atréju erhob sich bereits, um etwas zu sagen, da trat plötzlich noch ein Wettkämpfer auf den Platz. Es war Hynreck. Gespannte Stille breitete sich aus, und Atréju setzte sich wieder. Da nur drei Männer ihn begleiten sollten, war nun dort unten einer zu viel. Einer von ihnen würde zurücktreten müssen.

»Meine Herren«, sagte Hynreck mit lauter Stimme, so daß jeder ihn hören konnte, »ich nehme nicht an, daß diese kleine Schaustellung eurer Fähigkeiten, die ihr bereits hinter euch habt, eure Kräfte angegriffen haben könnte. Gleichwohl wäre es meiner nicht würdig, euch unter diesen Umständen einzeln zum Zweikampf herauszufordern. Da ich bisher noch keinen mir angemessenen Gegner unter all diesen Wettkämpfern gesehen habe, habe ich nicht mitgemacht und bin deshalb noch frisch. Wenn einer von euch sich allzu erschöpft fühlen sollte, so möge er freiwillig ausscheiden. Andernfalls bin ich bereit, es mit euch allen dreien gleichzeitig aufzunehmen. Habt ihr dagegen einen Einwand?«

»Nein«, antworteten die drei wie aus einem Mund.

Und dann gab es ein Gefecht, daß die Funken sprangen. Hýkrions Schläge hatten nicht das Geringste von ihrer Gewalt eingebüßt, aber Held Hynreck war stärker. Hýsbald fuhr wie ein Blitz von allen Seiten auf ihn zu, aber Held Hynreck war schneller. Hýdorn versuchte ihn zu zermürben, aber Held Hynreck war ausdauernder. Das ganze Gefecht hatte kaum zehn Minuten gedauert, da waren alle drei Herren entwaffnet und beugten das Knie vor Held Hynreck. Er blickte stolz umher und suchte offenbar nach einem bewundernden Blick seiner Dame, die wohl irgendwo in der Menge stand. Jubel und Beifall der Zuschauer brauste wie ein Orkan über den Platz. Wahrscheinlich konnte man ihn noch an den entferntesten Ufern des Tränensees Murhu hören.

Als es still wurde, erhob sich Silbergreis Quérquobad und fragte laut:

»Gibt es noch jemand, der es wagen möchte, gegen Held Hynreck anzutreten?«

Und in das allgemeine Schweigen hinein hörte man eine Knabenstimme antworten:

»Ja, ich!«

Es war Bastian gewesen.

Alle Gesichter wandten sich ihm zu. Die Menge machte ihm eine Bahn frei, und er trat auf den Platz hinaus. Ausrufe des Staunens und der Sorge wurden hörbar. »Seht, wie schön er ist!« -»Schade um ihn!« -»Laßt es nicht zu!«

»Wer bist du?« fragte Silbergreis Quérquobad.

»Meinen Namen«, antwortete Bastian, »will ich erst nachher sagen.«

Er sah, daß Atréjus Augen schmal geworden waren und ihn forschend, aber noch voller Ungewißheit anblickten.

»Junger Freund«, sagte Held Hynreck, »wir haben zusammen gegessen und getrunken. Warum willst du nun, daß ich dich beschäme? Ich bitte dich, nimm dein Wort zurück und geh fort.«

»Nein«, antwortete Bastian, »was ich gesagt habe, gilt.«

Held Hynreck zögerte einen Augenblick. Dann schlug er vor:

»Es wäre nicht recht von mir, wenn ich mich im Kampfspiel mit dir messe. Wir wollen zuerst einmal sehen, wer von uns den Pfeil höher zu schießen vermag.«

»Einverstanden!« erwiderte Bastian.

Für jeden von ihnen wurde ein starker Bogen und ein Pfeil herbeigebracht. Hynreck spannte die Sehne und schoß den Pfeil in den Himmel hinauf, höher, als man ihm mit den Augen zu folgen vermochte. Fast im gleichen Moment spannte Bastian seinen Bogen und schickte seinen Pfeil hinterher.

Es dauerte eine kleine Weile, ehe beide Pfeile zurückkamen und zwischen den beiden Schützen zu Boden fielen. Und nun zeigte sich, daß Bastians Pfeil, mit roten Federn, den von Held Hynreck, mit blauen Federn, offenbar an der höchsten Stelle mit solcher Wucht getroffen haben mußte, daß er ihn von hinten aufgespalten hatte.

Held Hynreck starrte die ineinandersteckenden Pfeile an. Er war ein wenig blaß geworden, nur auf seinen Wangen zeigten sich rote Flecke.

»Das kann nur Zufall sein«, murmelte er. »Wir wollen sehen, wer mit dem Florett gewandter ist.«

Er verlangte zwei Degen und zwei Kartenspiele. Beides wurde ihm gebracht. Er mischte sorgfältig beide Spiele.

Nun warf er ein Kartenspiel hoch in die Luft, zückte blitzschnell die Klinge und stach zu. Als die übrigen Karten zu Boden gefallen waren, sah man, daß er das Herzas getroffen hatte, und zwar mitten in das einzige Herz, das die Karte zeigte. Wieder blickte er sich suchend nach seiner Dame um, während er das Florett mit der Karte herumzeigte.

Jetzt warf Bastian das andere Kartenspiel in die Höhe und ließ seine Klinge durch die Luft sausen. Keine Karte fiel zu Boden. Er hatte sämtliche zweiunddreißig Karten des Spiels aufgespießt, genau in der Mitte und obendrein noch in der richtigen Reihenfolge - obgleich Held Hynreck sie doch so gut gemischt hatte.

Held Hynreck besah sich die Sache. Er sagte nichts mehr, nur seine Lippen zitterten ein wenig.

»Aber an Kraft bist du mir nicht über«, brachte er schließlich ein wenig heiser hervor.

Er griff nach dem schwersten aller Gewichte, die noch auf dem Platz herumlagen und stemmte es langsam in die Höhe. Doch ehe er es wieder absetzen konnte, hatte Bastian ihn schon ergriffen und samt dem Gewicht in die Höhe gehoben. Held Hynreck machte ein so fassungsloses Gesicht, daß einige Zuschauer sich das Lachen nicht verbeißen konnten.

»Bis jetzt«, sagte Bastian, »habt Ihr bestimmt, worin wir uns messen wollen. Seid Ihr einverstanden, daß ich nun etwas vorschlage?«

Held Hynreck nickte stumm.

»Es ist eine Mutprobe«, fuhr Bastian fort.

Held Hynreck raffte sich noch einmal zusammen.

»Es gibt nichts, wovor mein Mut zurückschreckte!«

»Dann«, erwiderte Bastian, »schlage ich vor, daß wir um die Wette durch den Tränensee schwimmen. Wer zuerst das Ufer erreicht, hat gewonnen.«

Atemlose Stille herrschte auf dem ganzen Platz.

Held Hynreck wurde abwechselnd rot und blaß.

»Das ist keine Mutprobe«, stieß er hervor, »das ist Wahnsinn.«

»Ich«, antwortete Bastian, »bin bereit dazu. Also kommt!«

Nun verlor Held Hynreck die Beherrschung.

»Nein!« schrie er und stampfte mit dem Fuß auf, »Ihr wißt so gut wie ich, daß die Wasser Murhus alles auflösen. Das hieße, in den sicheren Tod gehen.«

»Ich fürchte mich nicht«, versetzte Bastian ruhig, »ich habe die Wüste der Farben durchwandert und vom Feuer des Bunten Todes gegessen und getrunken und darin gebadet. Ich habe vor diesen Wassern keine Angst mehr.«

»Das lügt Ihr!« brüllte Held Hynreck puterrot vor Zorn. »Niemand in Phantásien kann den Bunten Tod überleben, das weiß doch jedes Kind!«

»Held Hynreck«, sagte Bastian langsam, »anstatt mich der Lüge zu bezichtigen, solltet Ihr lieber zugeben, daß Ihr ganz einfach Angst habt.«

Das war zuviel für Held Hynreck. Besinnungslos vor Zorn riß er sein großes Schwert aus der Scheide und ging auf Bastian los. Dieser wich zurück und wollte ein Wort der Warnung anbringen, aber dazu ließ Held Hynreck ihn nicht mehr kommen. Er schlug auf Bastian ein, und es war ihm blutiger Ernst. Im selben Augenblick fuhr das Schwert Sikánda wie ein Blitzstrahl aus seiner verrosteten Scheide in Bastians Hand und begann zu tanzen.

Was nun geschah, war so unerhört, daß keiner der Zuschauer es je in seinem Leben wieder vergaß. Zum Glück konnte Bastian den Schwertgriff in seiner Hand nicht loslassen, und so mußte er jeder Bewegung folgen, die Sikánda von sich aus vollführte. Zunächst zerschnitt das Schwert, Stück für Stück, Held Hynrecks prachtvolle Rüstung. Die Fetzen flogen nur so nach allen Seiten, doch seine Haut wurde nicht einmal geritzt. Held Hynreck wehrte sich verzweifelt und schlug um sich wie ein Verrückter, aber Sikándas Blitzen zuckte um ihn her wie ein Feuerwirbel und blendete ihn, so daß keiner seiner Streiche traf. Als er schließlich nur noch in der Unterwäsche dastand und immer noch nicht aufhörte, auf Bastian einzuschlagen, zerschnitt Sikánda sein Schwert buchstäblich in kleine Scheiben, und zwar mit solcher Geschwindigkeit, daß dessen Klinge noch für einen Moment als Ganzes in der Luft schwebte, ehe sie, klingelnd wie ein Haufen Münzen, zu Boden fiel. Held Hynreck starrte mit aufgerissenen Augen auf den nutzlosen Griff, der ihm in der Hand verblieben war. Er ließ ihn fallen und senkte den Kopf. Sikánda fuhr in seine rostige Scheide zurück, und Bastian konnte es loslassen.

Ein Aufschrei der Begeisterung und Bewunderung erhob sich tausendstimmig aus der Menge der Zuschauer. Sie stürmten den Platz, ergriffen Bastian, hoben ihn hoch und trugen ihn im Triumph herum. Der Jubel wollte kein Ende nehmen. Bastian schaute sich aus seiner Höhe nach Held Hynreck um. Er wollte ihm ein versöhnliches Wort zurufen, denn eigentlich tat der Arme ihm leid, und er hatte nicht vorgehabt, ihn derartig zu blamieren. Aber Held Hynreck war nirgends mehr zu sehen.

Dann wurde es plötzlich still. Die Menge wich zurück und machte Platz. Da stand Atréju und blickte lächelnd zu Bastian empor. Auch Bastian lächelte. Man ließ ihn von den Schultern herunter, und nun standen sich die beiden Jungen gegenüber und sahen sich lange schweigend an. Schließlich begann Atréju zu reden.

»Wenn ich noch einen Begleiter brauchte, um auf die Suche nach dem Retter Phantásiens zu gehen, so würde ich mich mit diesem einen begnügen, denn er zählt mehr als hundert andere zusammen. Aber ich brauche keinen Begleiter mehr, denn die Suchexpedition wird nicht mehr stattfinden.«

Ein Gemurmel der Verwunderung und Enttäuschung war zu hören.

»Der Retter Phantásiens bedarf unseres Schutzes nicht«, fuhr Atréju mit erhobener Stimme fort, »denn er vermag sich selbst besser zu schützen, als wir alle zusammen es könnten. Und wir brauchen ihn nicht mehr zu suchen, denn er hat uns schon gefunden. Ich habe ihn nicht gleich erkannt, denn als ich ihn im Zauber Spiegel Tor des Südlichen Orakels erblickte, sah er anders aus als jetzt - ganz anders. Aber den Blick seiner Augen habe ich nicht vergessen. Es ist derselbe, der mich jetzt trifft. Ich kann mich nicht irren.«

Bastian schüttelte lächelnd den Kopf und sagte:

»Du irrst dich nicht, Atréju. Du warst es, der mich zur Kindlichen Kaiserin gebracht hat, damit ich ihr einen neuen Namen gebe. Und ich danke dir dafür.«

Ein ehrfürchtiges Raunen flog wie ein Windstoß durch die Menge der Zuschauer.

»Du hast versprochen«, antwortete Atréju, »uns nun auch deinen Namen zu nennen, den außer der Goldäugigen Gebieterin der Wünsche noch niemand in Phantásien kennt. Willst du es nun tun?«

»Ich heiße Bastian Balthasar Bux.«

Jetzt konnten die Zuschauer nicht mehr länger an sich halten. Ihr Jubel explodierte in Tausenden von Hochrufen. Viele fingen vor Begeisterung an zu tanzen, so daß die Stege und Brücken, ja der ganze Platz ins Schwanken geriet.

Atréju streckte Bastian lachend die Hand hin und Bastian schlug ein, und so - Hand in Hand - gingen sie in den Palast, auf dessen Eingangsstufen Silbergreis Quérquobad und Fuchur, der Glücksdrache, auf sie warteten.

An diesem Abend feierte die Stadt Amargánth das schönste Fest, das sie je gefeiert hat. Alles, was Beine hatte, ob kurze oder lange, krumme oder gerade, tanzte, und alles, was Stimme hatte, ob schöne oder häßliche, tiefe oder hohe, sang und lachte.

Als es dunkel wurde, entzündeten die Amargánther Tausende von bunten Lichtern an ihren silbernen Schiffen und Palästen. Und um Mitternacht wurde ein Feuerwerk abgebrannt, wie es selbst in Phantásien noch nie gesehen wurde. Bastian stand mit Atréju auf dem Balkon, links und rechts von ihnen standen Fuchur und Silbergreis Quérquobad und sahen zu, wie die bunten Feuergarben am Himmel und die tausend Lichter der Silberstadt sich in den dunklen Wassern des Tränensees Murhu spiegelten.

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