Während Bastian schon meilenfern durch die pechschwarze Nacht dahinjagte, machten die zurückgebliebenen Kampfgenossen sich erst an den Aufbruch. Viele von ihnen waren verwundet, alle waren zu Tode erschöpft, und keiner hatte auch nur annähernd Bastians unermeßliche Kraft und Ausdauer. Selbst die schwarzen Panzerriesen auf ihren metallenen Pferden setzten sich nur schwerfällig in Bewegung, und jene anderen, die zu Fuß gingen, konnten ihren üblichen Gleichschritt nicht finden. Auch Xayídes Wille - durch den sie ja gelenkt wurden - schien demnach an den Grenzen seiner Kraft zu sein. Ihre Korallensänfte war beim Brand des Elfenbeinturmes den Flammen zum Opfer gefallen. So war aus allerlei Wagenbrettern, zerbrochenen Waffen und verkohlten Resten des Turms eine neue Sänfte gebaut worden, die freilich mehr einer Elendshütte glich. Das übrige Heer schleppte sich humpelnd und schlurfend hinterdrein. Auch Hýkrion, Hýsbald und Hýdorn, die ihre Pferde verloren hatten, mußten sich gegenseitig stützen. Niemand sprach ein Wort, aber alle wußten, daß es ihnen unmöglich sein würde, Bastian jemals einzuholen.
Der donnerte weiter durch die Finsternis dahin, der schwarze Mantel flatterte wild um seine Schultern, die metallenen Glieder des Riesenpferdes knirschten und kreischten bei jeder Bewegung, während die gewaltigen Hufe auf das Erdreich hämmerten.
»Ho!« schrie Bastian, »hoi! hoi! hoi!«
Es ging ihm nicht schnell genug.
Er wollte Atréju und Fuchur einholen, um jeden Preis, und wenn er dafür dieses metallene Ungeheuer von einem Pferd zuschanden reiten mußte!
Er wollte Rache! Zu dieser Stunde wäre er längst am Ziel all seiner Wünsche gewesen, aber Atréju hatte es vereitelt. Bastian war nicht Kaiser von Phantásien geworden. Das sollte Atréju bitterlich büßen!
Bastian trieb sein metallenes Reittier noch rücksichtsloser an. Dessen Gelenke knarrten und quietschten immer lauter, aber es gehorchte dem Willen seines Reiters und beschleunigte den rasenden Galopp.
Viele Stunden währte diese wilde Jagd, ohne daß die Nacht sich lichtete. Und immerfort sah Bastian in Gedanken den brennenden Elfenbeinturm vor sich und durchlebte immer von neuem den Augenblick, da Atréju ihm das Schwert auf die Brust gesetzt hatte - bis ihm zum ersten Mal die Frage aufstieg: Warum hatte Atréju gezögert? Warum hatte er es nach allem nicht über sich gebracht, ihn zu verwunden, um ihm AURYN mit Gewalt zu nehmen? Und nun mußte Bastian plötzlich an die Wunde denken, die er Atréju geschlagen hatte, und an dessen letzten Blick, als er zurücktaumelte und abstürzte.
Bastian steckte Sikánda, das er bis jetzt noch immer in der Faust geschwungen hatte, in seine rostige Scheide zurück.
Der Morgen graute, und nach und nach konnte er sehen, wo er sich befand. Es war eine Heide, über die das Metallpferd jetzt hinfegte. Die dunklen Umrisse von Wacholdergruppen sahen aus wie reglose Versammlungen kapuzentragender Riesenmönche oder Zauberer mit spitzen Hüten. Felsblöcke lagen dazwischen verstreut.
Und dann geschah es, daß das Metallpferd mitten im gestreckten Galopp ganz plötzlich einfach in seine Teile zerfiel.
Bastian blieb von der Wucht des Sturzes betäubt liegen. Als er sich endlich wieder aufraffte und die geprellten Glieder rieb, fand er sich in einem niedrigen Wacholdergebüsch. Er kroch heraus. Draußen lagen über eine weite Fläche verteilt die schalenartigen Trümmer des Rosses, als sei ein Reiterdenkmal explodiert.
Bastian stand auf, warf sich seinen schwarzen Mantel über die Schulter und ging ohne Ziel dem heller werdenden Morgenhimmel entgegen.
In dem Wacholdergebüsch aber blieb ein glitzerndes Ding zurück, das er dort verloren hatte: der Gürtel Gémmal. Bastian merkte nichts von diesem Verlust und dachte auch später nie mehr daran. Illuán hatte den Gürtel ganz umsonst aus den Flammen gerettet.
Ein paar Tage später wurde Gémmal von einer Elster gefunden, die nicht ahnte, was es mit diesem Glitzerding auf sich hatte. Sie trug es in ihr Nest, doch damit begann eine andere Geschichte, die ein andermal erzählt werden soll.
Gegen Mittag kam Bastian an einen hohen Erdwall, der sich quer durch die Heidelandschaft zog. Er kletterte hinauf. Dahinter lag ein weiter Talkessel, der - nach innen zu immer tiefer abfallend - wie ein flacher Krater geformt war. Und dieses ganze Tal war angefüllt mit einer Stadt- jedenfalls legte die Menge von Bauwerken diese Bezeichnung nahe, obgleich es die verrückteste Stadt war, die Bastian je erblickt hatte. Plan- und sinnlos schienen alle Gebäude durcheinandergewürfelt, als habe man sie einfach aus einem Riesensack dort hingeschüttet. Es gab weder Straßen noch Plätze, noch irgendeine erkennbare Ordnung.
Aber auch die einzelnen Bauwerke sahen irrsinnig aus, hatten die Haustür im Dach, Treppen dort, wo man nicht hinkommen konnte, oder auch solche, die man nur kopfunter hätte betreten können und die in der leeren Luft endeten: Türmchen standen quer, und Balkone hingen senkrecht an den Wänden, Fenster anstelle von Türen und Fußböden anstelle von Mauern. Es gab Brücken, deren geschwungene Bogen plötzlich irgendwo aufhörten, so als habe ihr Erbauer mitten in der Arbeit vergessen, was das Ganze werden sollte. Es gab Türme, die wie Bananen gebogen waren, auf die Spitze gestellte Pyramiden. Kurz, diese ganze Stadt vermittelte den Eindruck des Wahnsinns.
Dann sah Bastian die Bewohner. Es waren Männer, Frauen und Kinder. Der Gestalt nach schienen sie gewöhnliche Menschen, doch ihre Kleidung sah aus, als seien sie allesamt närrisch geworden und könnten nicht mehr unterscheiden zwischen Dingen, die zum Anziehen, und Gegenständen, die zu anderem Zwecke dienten. Auf den Köpfen trugen sie Lampenschirme, Sandeimerchen, Suppenschüsseln, Papierkörbe, Tüten oder Schachteln. Und um ihre Leiber hingen Tischtücher, Teppiche, große Stücke Silberpapier oder sogar Tonnen.
Viele zogen oder schoben Handkarren und Wagen herum, auf denen alles mögliche Gerumpel aufgestapelt war, zerbrochene Lampen, Matratzen, Geschirr, Lumpen und Flitterkram. Andere wieder schleppten ähnlichen Plunder in riesigen Ballen auf dem Rücken herum.
Je tiefer Bastian in die Stadt hinunterging, desto dichter wurde das Gewimmel. Doch schien keiner der Leute recht zu wissen, wohin er wollte. Mehrmals beobachtete Bastian, daß einer seinen Karren, den er mühsam in die eine Richtung gezogen hatte, nach kurzer Zeit schon wieder in die entgegengesetzte Richtung zerrte, um wenig später abermals eine neue Richtung einzuschlagen. Aber alle waren fieberhaft tätig.
Bastian beschloß, einen von ihnen anzusprechen.
»Wie heißt diese Stadt?«
Der Angeredete ließ seinen Karren los, richtete sich auf, rieb sich eine Weile die Stirn, als ob er angestrengt nachdächte, dann ging er fort und ließ seinen Karren einfach stehen. Er schien ihn vergessen zu haben. Doch schon wenige Minuten später bemächtigte sich eine Frau des Fahrzeugs und zog es mühsam irgendwohin. Bastian fragte sie, ob der Plunder ihr gehöre. Die Frau stand eine Weile in tiefes Grübeln versunken, dann ging sie weg.
Bastian versuchte es noch ein paarmal, aber auf keine einzige Frage bekam er eine Antwort.
»Es ist zwecklos, sie zu fragen«, hörte er plötzlich eine kichernde Stimme, »sie können dir nichts mehr sagen. Man könnte sie die Nichtssagenden nennen.«
Bastian drehte sich nach der Stimme um und sah auf einem Mauervorsprung (der die Unterseite eines Erkers war, der verkehrt herum stand) einen kleinen grauen Affen sitzen. Das Tier hatte einen schwarzen Doktorhut auf, von dem eine Quaste baumelte, und schien angelegentlich damit beschäftigt, etwas an den Fingern seiner Füße abzuzählen. Dann grinste es Bastian an und sagte:
»Verzeihung, ich habe mir bloß schnell etwas ausgerechnet.«
»Wer bist du?« fragte Bastian.
»Argax, mein Name, sehr angenehm!« antwortete das Äffchen und lüpfte den Doktorhut, »und mit wem habe ich das Vergnügen?«
»Ich heiße Bastian Balthasar Bux.«
»Eben!« sagte das Äffchen befriedigt.
»Und wie heißt diese Stadt?« erkundigte sich Bastian.
»Sie hat eigentlich keinen Namen«, erklärte Argax, »aber man könnte sie - sagen wir mal - die Alte Kaiser Stadt nennen.«
»Die Alte Kaiser Stadt?« wiederholte Bastian beunruhigt. »Warum? Ich sehe hier niemand, der wie ein Alter Kaiser aussieht.«
»Nein?« - das Äffchen kicherte -»und doch waren alle, die du hier siehst, zu ihrer Zeit einmal Kaiser von Phantásien - oder sie wollten es wenigstens werden.«
Bastian erschrak.
»Woher weißt du das, Argax?«
Der Affe lüpfte wieder den Doktorhut und grinste.
»Ich bin - sagen wir mal - der Aufseher über die Stadt.«
Bastian blickte herum. Ganz in der Nähe hatte ein alter Mann eine Grube ausgehoben. Jetzt stellte er eine brennende Kerze hinein und schaufelte das Loch wieder zu.
Das Äffchen kicherte.
»Kleine Stadtbesichtigung gefällig, Herr? Sagen wir mal - erste Bekanntschaft machen mit deinem künftigen Wohnort?«
»Nein«, sagte Bastian, »was redest du da?«
Das Äffchen sprang auf seine Schulter.
»Komm nur!« wisperte es, »kostet nichts. Hast schon alles bezahlt, was dich zum Eintritt berechtigt.«
Bastian begann zu gehen, obwohl er eigentlich lieber fortgelaufen wäre. Ihm war unbehaglich, und dieses Gefühl wuchs mit jedem Schritt. Er beobachtete die Leute, und ihm fiel auf, daß sie auch untereinander nicht redeten. Sie kümmerten sich überhaupt nicht umeinander, ja, sie schienen sich nicht einmal wahrzunehmen.
»Was ist los mit ihnen?« erkundigte sich Bastian, »warum benehmen sie sich so sonderbar?«
»Nicht sonderbar«, kicherte Argax ihm ins Ohr, »sie sind deinesgleichen, könnte man sagen, oder besser, sie waren es zu ihrer Zeit.«
»Was meinst du damit?« Bastian blieb stehen. »Willst du sagen, daß es Menschen sind?«
Argax hüpfte vor Belustigung auf Bastians Rücken auf und nieder:
»So ist es! So ist es!«
Bastian sah mitten auf seinem Weg eine Frau sitzen, die mit einer Stopfnadel Erbsen von einem Teller zu piken versuchte.
»Wie kommen die hierher? Was machen sie hier?« fragte Bastian.
»Oh, es hat zu allen Zeiten Menschen gegeben, die nicht in ihre Welt zurückgefunden haben«, erklärte Argax. »Erst wollten sie nicht mehr, und jetzt - sagen wir mal - können sie nicht mehr.«
Bastian blickte einem kleinen Mädchen nach, das mit größter Anstrengung einen Puppenwagen schob, der viereckige Räder hatte.
»Warum können sie nicht mehr?« fragte er.
»Sie müßten es sich wünschen. Aber sie wünschen sich nichts mehr. Sie haben ihren letzten Wunsch zu irgendwas anderem verwendet.«
»Ihren letzten Wunsch?« fragte Bastian mit blassen Lippen. »Kann man denn nicht so lang weiterwünschen, wie man will?«
Argax kicherte wieder. Er versuchte jetzt, Bastians Turban abzunehmen, um ihn zu lausen.
»Laß das!« rief Bastian. Er versuchte den Affen abzuschütteln, aber der hielt sich fest und kreischte vor Vergnügen.
»Nicht doch! Nicht doch!« keckerte er, »wünschen kannst du nur, so lang du dich an deine Welt erinnerst. Die hier haben alle ihre Erinnerungen ausgegeben. Wer keine Vergangenheit mehr hat, der hat auch keine Zukunft. Darum werden sie auch nicht älter. Schau sie dir an! Würdest du glauben, daß manche von ihnen schon tausend Jahre und sogar noch länger hier sind? Aber sie bleiben so, wie sie sind. Für sie kann sich nichts mehr ändern, weil sie selbst sich nicht mehr ändern können.«
Bastian beobachtete einen Mann, der einen Spiegel einseifte und dann anfing, ihn zu rasieren. Was ihm erst noch komisch vorgekommen war, jagte ihm jetzt eine Gänsehaut über den Rücken.
Er ging rasch weiter und wurde sich erst jetzt bewußt, daß er immer tiefer in die Stadt hineinging. Er wollte umkehren, aber irgend etwas zog ihn an wie ein Magnet. Er begann zu laufen und versuchte, den lästigen grauen Affen loszuwerden, aber der saß fest wie eine Klette und spornte ihn sogar noch an:
»Schneller! Hopp! Hopp! Hopp!«
Bastian sah ein, daß es nichts nützte, was er tat, und hielt inne.
»Und alle hier«, fragte er atemlos, »waren einmal Kaiser von Phantásien oder wollten es werden?«
»Klar«, sagte Argax, »jeder, der nicht zurückfindet, will früher oder später Kaiser werden. Nicht jeder hat's geschafft, aber alle haben es gewollt. Darum gibt es zwei Sorten von Narren hier. Das Ergebnis allerdings - könnte man sagen - ist das gleiche.«
»Welche zwei Sorten? Erkläre es mir! Ich muß es wissen, Argax!«
»Nur ruhig! Nur ruhig!« kicherte der Affe und umschlang Bastians Hals fester. »Die einen haben ihre Erinnerungen so nach und nach ausgegeben. Und als sie die letzte verloren hatten, konnte ihnen AURYN auch keine Wünsche mehr erfüllen. Danach kamen sie - sagen wir mal - ganz von selbst hierher. Die anderen, die sich zum Kaiser gemacht haben, verloren dabei auf einen Schlag alle Erinnerungen. Deshalb konnte ihnen AURYN ebenfalls keine Wünsche mehr erfüllen, weil sie keine mehr hatten. Wie du siehst, kommt es auf das gleiche heraus. Auch sie sind hier und können nicht mehr fort.«
»Heißt das, daß sie alle einmal AURYN hatten?«
»Das versteht sich!« antwortete Argax. »Aber sie haben es längst vergessen. Es würde ihnen ja auch nichts mehr helfen, den armen Narren.«
»Ist es ihnen -«, Bastian zögerte, »ist es ihnen weggenommen worden?«
»Nein«, sagte Argax, »wenn einer sich zum Kaiser macht, dann verschwindet es durch seinen eigenen Wunsch. Ist doch ganz sonnenklar, könnte man sagen, weil man die Macht der Kindlichen Kaiserin schließlich nicht dazu verwenden kann, ihr genau diese Macht wegzunehmen.«
Bastian fühlte sich so elend, daß er sich gerne irgendwo hingesetzt hätte, aber der kleine graue Affe ließ es nicht zu.
»Nein, nein, die Stadtbesichtigung ist noch nicht zu Ende«, schrie er, »das Wichtigste kommt erst noch! Geh weiter! Geh weiter!«
Bastian sah einen Jungen, der mit einem schweren Hammer Nägel in Strümpfe schlug, die vor ihm auf dem Boden lagen. Ein dicker Mann versuchte Briefmarken auf Seifenblasen zu kleben, die natürlich immer zerplatzten. Aber er ließ nicht ab, neue zu blasen.
»Schau!« hörte Bastian die kichernde Stimme des Argax, und er fühlte, daß dieser ihm mit seinen Affenhändchen den Kopf in eine bestimmte Richtung drehte, »schau dorthin! Ist das nicht lustig?«
Da stand eine große Gruppe von Leuten, Männer und Frauen, Alte und Junge, alle in den wunderlichsten Kleidungen, aber sie redeten nicht. Jedes war ganz für sich. Auf dem Boden lag eine Unmenge großer Würfel, und auf den sechs Seiten jedes Würfels standen Buchstaben. Immer wieder von neuem mischten die Leute diese Würfel durcheinander und starrten dann lange darauf hin.
»Was tun sie da?« flüsterte Bastian, »was ist das für ein Spiel? Wie heißt es?«
»Das Beliebigkeitspiel«, antwortete Argax. Er winkte den Spielern zu und rief: »Brav, meine Kinder! Nur weiter so! Nur nicht aufgeben!«
Dann wandte er sich wieder Bastian zu und raunte ihm ins Ohr:
»Sie können nichts mehr erzählen. Sie haben die Sprache verloren. Darum habe ich dieses Spiel für sie ausgedacht. Es beschäftigt sie, wie du siehst. Und es ist sehr einfach. Wenn du einmal nachdenkst, dann mußt du zugeben, daß alle Geschichten der Welt im Grunde nur aus sechsundzwanzig Buchstaben bestehen. Die Buchstaben sind immer die gleichen, bloß ihre Zusammensetzung wechselt. Aus den Buchstaben werden Wörter gebildet, aus den Wörtern Sätze, aus den Sätzen Kapitel und aus den Kapiteln Geschichten. Da schau, was steht dort?«
Bastian las:
»Ja«, kicherte der Argax, »so ist es meistens. Aber wenn man es sehr lang spielt, jahrelang, dann ergeben sich manchmal durch Zufall Wörter. Keine besonders geistreichen Wörter, aber wenigstens Wörter. »Spinatkrampf« zum Beispiel, oder »Bürstenwürste« oder »Kragenlack« . Wenn man es aber hundert Jahre, tausend Jahre, hunderttausend Jahre immer weiterspielt, dann muß nach aller Wahrscheinlichkeit dabei durch Zufall auch einmal ein Gedicht herauskommen. Und wenn man es ewig spielt, dann müssen dabei alle Gedichte, alle Geschichten, die überhaupt möglich sind, entstehen, dazu auch alle Geschichten der Geschichten und sogar diese Geschichte, in der wir beide uns gerade unterhalten. Das ist logisch, nicht wahr?«
»Das ist entsetzlich«, sagte Bastian.
»Oh«, meinte Argax, »das kommt auf den Standpunkt an. Diese dort - könnte man sagen - sind eifrig bei der Sache. Und außerdem, was sollen wir in Phantásien mit ihnen machen?«
Bastian sah den Spielern lange schweigend zu, dann fragte er leise:
»Argax - du weißt, wer ich bin, nicht wahr?«
»Wie denn nicht? Wer kennt deinen Namen nicht in Phantásien?«
»Sag mir eins, Argax. Wenn ich gestern Kaiser geworden wäre, wäre ich dann auch schon hier?«
»Heute oder morgen«, antwortete der Affe, »oder in einer Woche. Du hättest jedenfalls bald hierhergefunden.«
»Dann hat Atréju mich gerettet.«
»Das weiß ich nicht«, gab der Affe zu.
»Und wenn es ihm gelungen wäre, mir das Kleinod wegzunehmen, was wäre dann geschehen?«
Der Affe kicherte wieder.
»Man könnte sagen - dann wärst du auch hier gelandet.«
»Warum?«
»Weil du AURYN brauchst, um den Rückweg zu finden. Aber ehrlich gesagt, ich glaube nicht, daß du es noch schaffst.«
Der Affe klatschte in die Händchen, lüpfte seinen Doktorhut und grinste.
»Sag mir, Argax, was muß ich tun?«
»Einen Wunsch finden, der dich zurückbringt in deine Welt.«
Bastian schwieg wieder lange und fragte dann:
»Argax, kannst du mir sagen, wie viele Wünsche ich überhaupt noch haben kann?«
»Nicht mehr viel. Nach meiner Ansicht höchstens noch drei oder vier. Und damit wirst du schwerlich auskommen. Du fängst ein bißchen spät an, und der Rückweg ist nicht leicht. Du mußt übers Nebelmeer. Schon das allein kostet dich einen. Was danach kommt, weiß ich nicht. Niemand in Phantásien weiß, wo für euereins der Weg in eure Welt ist. Vielleicht findest du ja Yors Minroud, die letzte Rettung für manche wie dich. Obwohl, ich fürchte, für dich ist es - sagen wir mal - zu weit. Aus der Alten Kaiser Stadt wirst du für diesmal noch hinausfinden.«
»Danke, Argax!« sagte Bastian.
Der kleine graue Affe grinste.
»Auf Wiedersehen, Bastian Balthasar Bux!«
Und mit einem Satz war er in einem der irrsinnigen Häuser verschwunden. Den Turban hatte er mitgenommen.
Bastian stand noch eine Weile da, ohne sich zu regen. Was er erfahren hatte, verwirrte und bestürzte ihn so, daß er keinen Entschluß fassen konnte. Alle seine bisherigen Ziele und Pläne waren mit einem Schlag zusammengebrochen. Ihm war, als sei in seinem Inneren alles auf den Kopf gestellt - wie jene Pyramide dort, das Oberste war zuunterst gekehrt und das Hinterste zuvorderst. Was er gehofft hatte, war sein Verderben, und was er gehaßt hatte, seine Rettung.
Zunächst war ihm nur eines klar: Er mußte aus diesem Tollhaus von Stadt hinaus! Und er wollte nie wieder hierher zurück!
Er machte sich auf den Weg durch das Gewirr der sinnlosen Gebäude, und bald zeigte sich, daß der Weg hinein sehr viel einfacher gewesen war als der Weg hinaus. Immer wieder mußte er feststellen, daß er die Richtung verfehlt hatte und schon wieder dem Zentrum der Stadt zueilte. Er brauchte den ganzen Nachmittag, ehe es ihm gelang, den Erdwall zu erreichen. Dann lief er in die Heide hinaus und hörte nicht auf zu laufen, bis die Nacht - ebenso finster wie die vorherige - ihn zum Anhalten zwang. Er fiel erschöpft unter einen Wacholderstrauch und sank in tiefen Schlaf. Und in diesem Schlaf erlosch die Erinnerung in ihm, daß er einst hatte Geschichten erfinden können.
Die ganze Nacht hindurch sah er ein einziges Traumbild vor sich, das nicht weichen wollte und sich auch nicht veränderte: Atréju mit der blutenden Wunde auf der Brust stand da und sah ihn an, reglos und ohne Wort.
Von einem Donnerschlag geweckt, fuhr Bastian in die Höhe. Tiefste Finsternis umgab ihn, doch all die Wolkenmassen, die sich seit Tagen angesammelt hatten, schienen in wilden Aufruhr geraten zu sein. Ununterbrochen zuckten Blitze, die Donner polterten und grollten, daß die Erde bebte, der Sturm heulte über die Heide hin und bog die Wacholderbäume zu Boden. Regengüsse wehten wie graue Vorhänge über die Landschaft.
Bastian erhob sich. In seinen schwarzen Mantel gewickelt stand er da, das Wasser lief ihm übers Gesicht.
Ein Blitzstrahl fuhr direkt vor ihm in einen Baum und spaltete den knorrigen Stamm, die Zweige gingen sofort in Flammen auf, der Wind fegte einen Funkenregen über die nächtliche Heide hin, den die Wassergüsse sofort erstickten.
Bastian war von dem fürchterlichen Krachen auf die Knie geworfen worden. Nun begann er mit beiden Händen die Erde aufzugraben. Als das Loch tief genug war, band er das Schwert Sikánda von seiner Hüfte und legte es hinein.
»Sikánda!« sagte er leise in das Sturmgeheul, »ich nehme für immer Abschied von dir. Nie wieder soll Unheil kommen durch einen, der dich gegen einen Freund zieht. Und niemand soll dich hier finden, ehe vergessen ist, was durch dich und mich geschah.«
Dann grub er das Loch wieder zu und legte zuletzt Moos und Zweige über die Stelle, damit niemand sie entdecken sollte.
Und dort liegt Sikánda noch heute. Denn erst in einer fernen Zukunft wird einer kommen, der es ohne Gefahr berühren darf - doch das ist eine andere Geschichte und wird ein andermal erzählt werden.
Bastian ging durch die Dunkelheit fort.
Das Gewitter ließ gegen Morgen nach, der Wind legte sich, der Regen tropfte von den Bäumen, und es wurde still.
Mit dieser Nacht begann für Bastian eine lange, einsame Wanderung. Zurück zu den Weg- und Kampfgenossen, zurück zu Xayíde wollte er nicht mehr. Er wollte jetzt den Rückweg in die Menschenwelt suchen - aber er wußte nicht wie und wo. Gab es denn irgendwo ein Tor, eine Furt, eine Grenzscheide, die ihn hinüberführen konnte?
Er mußte es sich wünschen, das wußte er. Aber darüber hatte er keine Gewalt. Er fühlte sich wie ein Taucher, der auf dem Meeresgrund nach einem versunkenen Schiff sucht, der aber immer wieder nach oben getrieben wird, ehe er noch etwas finden konnte.
Er wußte auch, daß ihm nur noch wenige Wünsche blieben, deshalb achtete er sorgfältig darauf, keinen Gebrauch von AURYN zu machen. Die wenigen Erinnerungen, die ihm noch verblieben waren, durfte er nur opfern, wenn er dadurch seiner Welt näher kam, und nur dann, wenn es unbedingt nötig war.
Aber Wünsche kann man nach Belieben weder hervorrufen noch unterdrücken. Sie kommen aus tieferen Tiefen in uns als alle Absichten, mögen diese nun gut oder schlecht sein. Und sie entstehen unbemerkt.
Ohne daß Bastian dessen gewahr wurde, bildete sich in ihm ein neuer Wunsch und nahm nach und nach deutliche Gestalt an.
Die Einsamkeit, in der er schon seit vielen Tagen und Nächten dahinwanderte, bewirkte, daß er sich wünschte, zu irgendeiner Gemeinschaft zu gehören, aufgenommen zu sein in eine Gruppe, nicht als Herr oder Sieger oder überhaupt als ein Besonderer, sondern nur als einer unter anderen, vielleicht als der Kleinste oder am wenigsten Wichtige, aber als einer, der selbstverständlich dazugehört und an der Gemeinschaft teilhat.
Da geschah es eines Tages, daß er an einen Meeresstrand gelangte. Jedenfalls glaubte er das anfangs. Es war eine steile Felsenküste, auf der er stand, und vor seinen Augen dehnte sich ein Meer aus weißen, erstarrten Wogen. Erst später bemerkte er, daß diese Wogen nicht wirklich reglos waren, sondern sich sehr langsam bewegten, daß es Strömungen gab und Wirbel, die sich drehten, so unmerklich wie die Zeiger einer Uhr.
Es war das Nebelmeer!
Bastian wanderte an der Steilküste entlang. Die Luft war warm und ein wenig feucht, kein Windhauch regte sich. Es war noch früh am Vormittag, und die Sonne schien auf die schneeweiße Nebelfläche, die sich bis zum Horizont dehnte.
Bastian ging einige Stunden und gelangte gegen Mittag zu einer kleinen Stadt, die auf hohen Pfählen ein Stück vom Festland entfernt draußen im Nebelmeer stand. Eine lange, freischwebende Hängebrücke verband sie mit einem vorspringenden Teil der Felsenküste. Sie schwankte leise, als Bastian sie nun überschritt.
Die Häuser waren verhältnismäßig klein, die Türen, die Fenster, die Treppen, alles schien wie für Kinder gemacht. Und in der Tat, die Leute, die in den Straßen umhergingen, hatten alle die Größe von Kindern, obgleich es sich um ausgewachsene Männer mit Barten und Frauen mit hochgesteckten Frisuren handelte. Auffallend war, daß man sie kaum unterscheiden konnte, so sehr ähnelten sie sich untereinander. Ihre Gesichter waren dunkelbraun wie nasse Erde und sahen sehr sanft und still aus. Wenn sie Bastian erblickten, nickten sie ihm zu, aber keiner redete ihn an. Überhaupt schienen sie sehr schweigsam zu sein, nur selten war ein Wort oder ein Zuruf auf den Straßen und Gassen zu vernehmen, trotz des regen Treibens, das dort herrschte. Auch sah man niemals einen allein, immer gingen sie in kleinen oder größeren Gruppen umher, untergehakt oder sich an den Händen haltend.
Als Bastian die Häuser genauer besah, stellte er fest, daß sie alle aus einer Art von Korbgeflecht bestanden, manche aus gröberem, andere aus feinerem, ja sogar der Boden der Straßen war von derselben Beschaffenheit. Und schließlich bemerkte er auch, daß sogar die Kleidung der Leute, Hosen, Röcke, Jacken und Hüte aus dem nämlichen Geflecht gemacht waren, in diesem Fall allerdings aus sehr feinem und kunstvoll gewobenem. Offenbar machte man hier schlechthin alles aus dem gleichen Material.
Da und dort konnte Bastian einen Blick in verschiedene Werkstätten von Handwerkern werfen, und alle waren mit dem Herstellen geflochtener Dinge beschäftigt, sie machten Schuhe, Krüge, Lampen, Tassen, Regenschirme - alles aus diesem Flechtwerk. Und niemals arbeitete einer allein, denn alle diese Dinge konnten nur durch die Zusammenarbeit mehrerer hergestellt werden. Es war ein Vergnügen, zuzusehen, wie geschickt sie einander in die Hände arbeiteten und einer immer die Tätigkeit des anderen ergänzte. Dabei sangen sie meist eine einfache Melodie ohne Worte.
Die Stadt war nicht sehr groß, und so hatte Bastian bald ihren Rand erreicht. Und der Anblick, der sich ihm hier bot, zeigte unverkennbar, daß es sich um eine Seefahrerstadt handelte, denn hier gab es Hunderte von Schiffen jeder Form und Größe. Doch war es eine ziemlich ungewöhnliche Seefahrerstadt, denn alle diese Schiffe waren an riesigen Angelruten aufgehängt und schwebten, leise schwankend, eines neben dem anderen, über der Tiefe, in der die weißen Nebelmassen hinzogen. Übrigens schienen auch diese Schiffe allesamt aus Korbgeflecht zu bestehen und hatten weder Segel noch Masten, noch Ruder oder Steuer.
Bastian hatte sich über ein Geländer gebeugt und blickte auf das Nebelmeer hinunter. Wie hoch die Pfähle waren, auf denen die Stadt ruhte, konnte er aus den Schatten sehen, die sie im Schein der Sonne auf die weiße Fläche dort unten warfen.
»Nachts«, hörte er eine Stimme neben sich sagen, »steigen die Nebel bis auf die Höhe der Stadt. Dann können wir in See stechen. Tags zehrt die Sonne die Nebel auf und der Meeresspiegel sinkt. Das wolltest du doch wissen, Fremder, nicht wahr?«
Neben Bastian standen drei Männer an das Geländer gelehnt, die ihn sanft und freundlich anblickten. Er kam mit ihnen ins Gespräch und erfuhr, daß diese Stadt den Namen Yskál trug oder auch Korbstadt genannt wurde. Ihre Einwohner hießen Yskálnari. Das Wort bedeutete etwa »die Gemeinsamen« . Von Beruf waren die drei Nebelschiffer. Bastian wollte seinen Namen nicht nennen, um nicht erkannt zu werden, und sagte, er hieße Einer. Die drei Seeleute erklärten ihm, daß sie überhaupt keine Namen für jeden einzelnen hätten und das auch gar nicht nötig fänden. Sie seien alle zusammen die Yskálnari, und das genüge ihnen.
Da es gerade Mittagsessenszeit war, luden sie Bastian ein, mit ihnen zu gehen, und er nahm dankbar an. In einem nahegelegenen Gasthaus setzten sie sich zu Tisch, und während der Mahlzeit erfuhr Bastian alles über die Stadt Yskál und ihre Bewohner.
Das Nebelmeer, das bei ihnen der Skaidan hieß, war ein riesiger Ozean aus weißem Dunst, der zwei Teile Phantásiens voneinander trennte. Wie tief der Skaidan war, hatte noch niemand erforscht, und auch nicht, woher diese ungeheure Nebelmasse stammte. Zwar konnte man unterhalb der Oberfläche durchaus atmen, und man konnte von der Küste aus, wo der Nebel noch verhältnismäßig flach war, ein Stück weit auf dem Grund in das Meer hineingehen, doch nur, wenn man an ein Seil festgebunden war, an dem man zurückgezogen werden konnte. Der Nebel hatte nämlich die Eigenschaft, einen binnen kurzem jeglicher Orientierungsfähigkeit zu berauben. Viele Wagemutige oder Leichtsinnige waren im Lauf der Zeiten schon bei dem Versuch umgekommen, allein und zu Fuß den Skaidan zu durchqueren. Nur wenige hatte man retten können. Die einzige Art, wie man auf die andere Seite des Nebelmeeres kommen konnte, war die der Yskálnari.
Das Korbgeflecht nämlich, aus dem die Häuser der Stadt Yskál, alle Gebrauchsgegenstände, die Kleider und auch die Schiffe bestanden, wurde aus einer Art von Binsen gemacht, die nahe dem Ufer unter der Oberfläche des Nebelmeeres wuchsen, und die - wie nach dem vorher Gesagten leicht einzusehen ist - nur unter Lebensgefahr geschnitten werden konnten. Diese Binsen, obgleich außerordentlich biegsam und in der normalen Luft sogar schlaff, standen im Nebel aufrecht, weil sie leichter waren als dieser und auf ihm schwammen. Somit schwammen natürlich auch die Schiffe, die aus ihnen gebaut waren. Die Kleidung, die die Yskálnari trugen, war also zugleich eine Art Schwimmweste, für den Fall, daß jemand in den Nebel hineingeriet.
Aber das war noch nicht das eigentliche Geheimnis der Yskálnari und erklärte noch nicht den Grund für die eigentümliche Gemeinsamkeit, die alle ihre Tätigkeiten bestimmte. Wie Bastian bald bemerkte, schienen sie das Wörtchen »ich« nicht zu kennen, jedenfalls benützten sie es niemals, sondern sprachen immer nur per »wir« . Woher das kam, fand er erst später heraus.
Als er den Reden der drei Nebelschiffer entnahm, daß sie noch diese Nacht in See stechen würden, fragte er sie, ob sie ihn nicht als Schiffsjungen anheuern könnten. Sie erklärten ihm, daß eine Fahrt auf dem Skaidan sich beträchtlich von jeder anderen Seefahrt unterschied, weil man niemals wissen könne, wie lang man unterwegs sei und wo man schließlich ankäme. Bastian meinte, das sei ihm ganz recht, und so willigten die Seeleute ein, ihn mit auf ihr Schiff zu nehmen.
Bei Einbruch der Nacht begannen die Nebel wie erwartet zu steigen und hatten gegen Mitternacht die Höhe der Korbstadt erreicht. Nun schwammen alle die Schiffe, die vorher in der Luft gehangen hatten, auf der weißen Oberfläche. Das Schiff, auf dem Bastian sich befand - es war ein etwa dreißig Meter langer, flacher Kahn - wurde von seinen Tauen losgemacht und trieb langsam auf die Weite des nächtlichen Nebelmeeres hinaus.
Schon beim ersten Anblick hatte Bastian sich gefragt, mit welchem Antrieb diese Art von Schiff sich wohl fortbewegen mochte, da es weder Segel noch Ruder oder Schiffsschrauben gab. Segel, wie er erfuhr, hätten nichts genützt, da über dem Skaidan fast immer Windstille herrschte, und mit Rudern oder Schrauben konnte man erst recht nicht über den Nebel kommen. Die Kraft, mit der das Schiff fortbewegt wurde, war eine gänzlich andere.
Auf der Mitte des Decks befand sich eine kreisrunde, etwas erhöhte Fläche. Bastian hatte sie schon zu Beginn bemerkt und für eine Kommandobrücke oder dergleichen gehalten. Tatsächlich standen während der ganzen Fahrt mindestens zwei der Nebelschiffer dort oben, manchmal aber auch drei, vier oder noch mehr. (Die gesamte Besatzung zählte vierzehn Mann - ohne Bastian natürlich.) Die auf der runden Fläche hatten einander die Arme um die Schultern gelegt und blickten in Fahrtrichtung. Wenn man nicht sehr genau hinsah, konnte man glauben, sie stünden unbeweglich. Erst bei aufmerksamer Beobachtung war zu bemerken, daß sie sich sehr langsam und vollkommen übereinstimmend in einer Art Tanz wiegten. Dazu sangen sie eine immerfort wiederkehrende, einfache Melodie, die sehr schön und sanft war.
Bastian hatte dieses merkwürdige Verhalten zunächst für eine besondere Zeremonie oder Sitte gehalten, deren Sinn ihm verborgen war. Erst am dritten Tag der Reise fragte er einen seiner drei Freunde, der sich neben ihn gesetzt hatte. Der schien seinerseits verwundert über Bastians Staunen und erklärte ihm, daß die Männer das Schiff mit ihrer Vorstellungskraft antrieben.
Bastian konnte diese Erklärung zunächst nicht verstehen und fragte, ob sie irgendwelche verborgenen Räder in Bewegung setzten.
»Nein«, antwortete der Nebelschiff er, »wenn du deine Beine bewegen willst, genügt es dir doch auch, es dir vorzustellen - oder mußt du deine Beine durch Räderwerke betreiben?«
Der Unterschied zwischen dem eigenen Körper und einem Schiff bestand lediglich darin, daß mindestens zwei Yskálnari ihre Vorstellungskraft völlig zu einer werden lassen mußten. Denn erst durch diese Vereinigung entstand die Fortbewegungskraft. Und wollten sie schnellere Fahrt machen, so mußten mehrere von ihnen zusammenwirken. Normalerweise arbeiteten sie in Schichten zu je drei, die übrigen ruhten sich aus, denn es war, auch wenn es so leicht und anmutig aussah, eine schwere und anstrengende Arbeit, die große und ununterbrochene Konzentration erforderte. Aber es war die einzige Art, wie der Skaidan befahren werden konnte.
Und Bastian ging bei den Nebelschiffern in die Schule und erlernte das Geheimnis ihrer Gemeinsamkeit: den Tanz und das wortlose Lied.
Nach und nach während der langen Überfahrt wurde er einer der ihren. Es war eine ganz eigentümliche, unbeschreibliche Empfindung von Selbstvergessenheit und Harmonie, wenn er während des Tanzes fühlte, wie seine eigene Vorstellungskraft mit der der anderen zusammenschmolz und sich zu einem Ganzen vereinigte. Er fühlte sich wirklich aufgenommen in ihre Gemeinschaft und zu ihnen gehörig - und gleichzeitig schwand aus seinem Gedächtnis jede Erinnerung daran, daß es in der Welt, aus der er gekommen war, und in die er nun den Rückweg suchen wollte, Menschen gab, Menschen, die alle ihre eigenen Vorstellungen und Meinungen hatten. Das einzige, woran er sich noch dunkel erinnern konnte, war sein Zuhause und seine Eltern.
Doch tief auf dem Grunde seines Herzens lebte noch ein anderer Wunsch als der, nicht mehr allein zu sein. Und dieser andere Wunsch begann sich nun leise zu regen.
Das geschah an dem Tag, als er zum ersten Mal bemerkte, daß die Yskálnari ihre Gemeinsamkeit nicht dadurch erlangten, daß sie ganz verschieden geartete Vorstellungsweisen zusammenklingen ließen, sondern weil sie einander so völlig glichen, daß es sie keine Anstrengung kostete, sich als Gemeinschaft zu fühlen. Im Gegenteil, es gab für sie gar nicht die Möglichkeit, miteinander zu streiten oder uneins zu sein, denn keiner von ihnen fühlte sich als einzelner. Sie mußten keine Gegensätze überwinden, um Harmonie untereinander zu finden, und gerade diese Mühelosigkeit erschien Bastian nach und nach unbefriedigend. Ihre Sanftheit erschien ihm fade und die immer gleiche Melodie ihrer Lieder monoton. Er fühlte, daß ihm etwas an alledem fehlte, daß ihn nach etwas hungerte, doch konnte er noch nicht sagen, was es war.
Das wurde ihm erst klar, als einige Zeit später eine Riesen-Nebelkrähe am Himmel gesichtet wurde. Alle Yskálnari bekamen Angst und versteckten sich unter Deck, so rasch sie konnten. Aber einem gelang es nicht mehr rechtzeitig, der ungeheure Vogel stieß mit einem Schrei herab, packte den Unglücklichen und trug ihn im Schnabel fort.
Als die Gefahr vorüber war, kamen die Yskálnari wieder hervor und setzten die Reise mit Gesang und Tanz fort, als ob nichts geschehen wäre. Ihre Harmonie war nicht gestört, sie trauerten nicht und klagten nicht, sie verloren kein einziges Wort über den Vorfall.
»Nein«, sagte einer, als Bastian ihn deshalb befragte, »uns fehlt keiner. Worüber sollten wir klagen?«
Der einzelne zählte bei ihnen nichts. Und da sie sich nicht unterschieden, war keiner unersetzlich.
Aber Bastian wollte ein einzelner sein, ein Jemand, nicht bloß einer wie alle anderen. Er wollte gerade dafür geliebt werden, daß er so war, wie er war. In dieser Gemeinschaft der Yskálnari gab es Harmonie, aber keine Liebe.
Er wollte nicht mehr der Größte, der Stärkste oder der Klügste sein. Das alles hatte er hinter sich. Er sehnte sich danach, so geliebt zu werden, wie er war, gut oder schlecht, schön oder häßlich, klug oder dumm, mit all seinen Fehlern - oder sogar gerade wegen ihnen.
Aber wie war er denn?
Er wußte es nicht mehr. Er hatte so vieles in Phantásien bekommen, und nun konnte er unter all den Gaben und Kräften sich selbst nicht wiederfinden.
Von da an beteiligte er sich nicht mehr am Tanz der Nebelschiffer. Er saß ganz vorn im Bug und blickte über den Skaidan, alle Tage und manchmal auch die Nächte hindurch.
Und endlich war das andere Ufer erreicht. Das Nebelschiff legte an, Bastian bedankte sich bei den Yskálnari und ging an Land.
Es war ein Land voller Rosen, Wälder von Rosen in allen Farben. Und mitten durch diesen unendlichen Rosenhag lief ein geschwungener Pfad.
Bastian folgte ihm.