Das Büro war so kalt und abweisend wie Humber, doch im Gegensatz zu seinem Wagen überhaupt nicht protzig. Es bestand aus einem langen, schmalen Raum mit Tür und einem kleinen Fenster auf der dem Hof zugewandten Längsseite. Links hinten führte eine Tür zu einem weiß gestrichenen Waschraum mit drei schießschartenähnlichen Milchglasfenstern und von dort eine Tür zur Toilette. Im Waschraum selbst gab es ein Spülbecken, einen Tisch mit Kunststoffplatte, einen Kühlschrank und zwei Wandschränke. Im ersten Wandschrank fand sich alles an Verbandszeug, Salben und Medikamenten, was man üblicherweise zur Verarztung von Pferden braucht.
Ohne irgend etwas zu verrücken, sah ich die Flaschen, Schachteln, Dosen durch. Soweit ich feststellen konnte, war nichts Stimulierendes darunter.
Der zweite Schrank jedoch enthielt jede Menge Stimu-lantien in Form von alkoholischen Getränken, ein eindrucksvolles Flaschenarsenal mit einem gutsortierten Gläserbord darüber. Zur Bewirtung von Besitzern, nicht zum Aufpeppen ihrer Pferde. Ich schloß die Tür.
Im Kühlschrank waren lediglich vier Flaschen Bier, Milch und ein paar Schalen mit Eiswürfeln.
Ich kehrte ins Büro zurück.
Humbers Schreibtisch stand am Fenster, so daß er, wenn er dort saß, direkt auf den Hof sehen konnte. Es war ein massives Möbel mit Schubladen auf beiden Seiten, so aufgeräumt, daß es fast schon weh tat. Humber war zwar in Nottingham und hatte sich an diesem Morgen nur kurz im Büro aufgehalten, doch wie es aussah, herrschte hier immer Ordnung. Die Schubladen waren nicht abgesperrt, und ihr Inhalt (Schreibpapier, Steuertabellen und so weiter) ließ sich auf einen Blick erfassen. Auf der Tischplatte nichts als ein Telefon, eine verstellbare Leselampe, eine Schale mit Schreibstiften und ein grüner Briefbeschwerer aus Glas von der Größe eines Kricketballs. In seinem Innern waren Luftblasen gefangen, ein erstarrter Wasserstrudel.
Der Bogen Papier, auf dem der Briefbeschwerer lag, war lediglich eine Liste der anstehenden Arbeiten und offenbar für Cass bestimmt. Mit Bestürzung sah ich, daß ich am Nachmittag mit Kenneth, der pausenlos quasselte und quengelte wie ein Kind, das Sattelzeug reinigen sollte und am Abend fünf Pferde zu versorgen hatte, weil Bert auf der Rennbahn war und seine Tiere unter uns anderen aufgeteilt werden mußten.
Neben dem Schreibtisch hatte der Raum einen bis zur Decke ragenden Schrank, in dem Rennberichte und Rennfarben aufbewahrt wurden und in dem sehr viel Luft war. An den Wänden reihten sich drei dunkelgrüne Aktenschränke, zwei Ledersessel und ein Stuhl mit ledernem Sitz.
Ich zog die unverschlossenen Schubladen der Aktenschränke eine nach der anderen heraus und durchsuchte sie rasch. Sie enthielten Rennkalender, alte Bücher, Quittungen, Zeitungsausschnitte, Fotos, Unterlagen über die in Training stehenden Pferde, Formanalysen, Korrespondenz der Besitzer, Belege über Sattelzeug und Futter; alles, was im Büro eigentlich jeden Trainers zu finden war.
Ich sah auf meine Uhr. Cass machte gewöhnlich eine Stunde Mittagspause. Ich hatte fünf Minuten gewartet, nachdem er zum Hof hinausgefahren war, und wollte zehn Minuten vor seiner zu erwartenden Rückkehr das Büro wieder verlassen. Die Dreiviertelstunde, die ich mich also umsehen konnte, war fast zur Hälfte vorbei.
Mit einem Bleistift aus der Schreibschale und einem Blatt Papier aus der Schublade klemmte ich mich hinter die laufenden Geschäftsbücher. Für jedes der siebzehn Rennpferde gab es ein eigenes, blau gebundenes Buch, in das alle großen und kleinen Ausgaben für sein Training eingetragen wurden. Ich schrieb mir ihre Namen heraus, von denen mir nur wenige vertraut waren, dazu ihre Besitzer und das Datum ihrer Aufnahme im Stall. Einige waren schon seit Jahren da, doch drei waren in den letzten drei Monaten dazugekommen, und nur die brauchten mich eigentlich zu interessieren. Keines der gedopten Pferde war länger als vier Monate bei Humber gewesen.
Die drei neuesten Pferde hießen Chin-Chin, Kandersteg und Starlamp. Das erste gehörte Humber selbst, die anderen beiden Adams.
Ich räumte die Geschäftsbücher wieder an ihren Platz und sah auf die Uhr. Noch siebzehn Minuten. Ich legte den Bleistift zurück, faltete die Liste mit den Pferdenamen zusammen und steckte sie in meinen Geldgürtel. Dessen Fächer füllten sich wieder mit Fünfpfundnoten, da ich von meinem Lohn wenig ausgegeben hatte, doch der Gürtel lag immer noch flach und unsichtbar unter dem Hosenbund, und ich hatte darauf geachtet, daß den Jungs das Versteck verborgen blieb, damit ich nicht bestohlen wurde.
Ich blätterte rasch die gesammelten Zeitungsausschnitte und Fotos durch, fand aber nichts über die elf Pferde und ihre Erfolge. In den Rennkalendern immerhin war Superman bei dem Verkaufsrennen am zweiten Weihnachtsfeiertag mit Bleistift angekreuzt, doch in Sedgefield, wo das nächste Verkaufsrennen anstand, war es auch damit wieder nichts.
Ganz hinten im Fach mit den Quittungen machte ich den größten Fund. Dort lag ein weiteres blaues Geschäftsbuch, in dem jedem der elf Pferde eine Doppelseite gewidmet war. Zwischen den elf siegreichen waren neun andere dokumentiert, die auf irgendeine Art ihren Zweck nicht erfüllt hatten. Dazu gehörte Superman, und dazu gehörte Old Etonian.
Auf der linken Seite war jeweils die gesamte Rennlaufbahn der Pferde nachzulesen, und auf der rechten standen bei meinen elf alten Bekannten genaue Angaben zu dem Rennen, das sie mit Unterstützung gewonnen hatten. Die darunter angeführten Summen hatte Humber vermutlich dabei verdient. Es waren jeweils Tausende. Auf Supermans Seite hatte er geschrieben:»Verlust 300 Pfund«. Auf der rechten Seite für Old Etonian stand kein Rennachweis, sondern nur das Wort» Getötet«.
Alle Seiten bis auf die für ein Pferd namens Six-Ply waren durchgestrichen, und am Schluß waren zwei Doppelseiten neu angelegt, eine für Kandersteg, eine für Starlamp.
Die linken Seiten für diese drei Pferde waren ausgefüllt, die rechten leer.
Ich klappte das Buch zu und legte es wieder an seinen Platz. Es war höchste Zeit zu gehen, und nachdem ich mich mit einem Blick vergewissert hatte, daß alles genauso war wie vorher, schlüpfte ich unbemerkt zur Tür hinaus und ging in die Küche, um zu sehen, ob die Jungs mir wie durch ein Wunder einen Happen übriggelassen hatten. Fehlanzeige.
Am nächsten Morgen verschwand Jerrys Pferd Mickey vom Hof, während wir mit dem zweiten Lot unterwegs waren, doch Cass erzählte Jerry, Jud habe Mickey zu einem Bekannten Humbers an die Küste gefahren, damit er zur Kräftigung der Beine im Meerwasser planschen könne, und er werde am Abend zurückgebracht. Doch der Abend kam und Mickey nicht.
Am Mittwoch ließ Humber wieder ein Pferd starten, und ich verzichtete auf mein Mittagessen, um mich in seinem Haus umzusehen, solange er fort war. Durch einen geöffneten Luftschacht kam ich zwar leicht hinein, aber ich fand keinerlei Hinweis darauf, wie die Pferde gedopt wurden.
Den ganzen Donnerstag machte ich mir Gedanken darüber, daß Mickey noch an der Küste war. An sich schien das ganz in Ordnung. Warum sollte ein Trainer, der zwanzig Kilometer von der Küste entfernt wohnte, die Möglichkeit nicht nutzen? Seewasser tat Pferdebeinen gut. Aber manchmal geschah bei Humber mit Pferden etwas, das ein späteres Doping ermöglichte, und ich hatte den überaus unangenehmen Verdacht, daß es bei Mickey gerade soweit war und ich die einmalige Chance verpaßte, der Sache auf den Grund zu kommen.
Den Geschäftsbüchern nach gehörten Adams neben den beiden Huntern noch vier Rennpferde auf dem Hof. Da sie uns alle nicht unter ihrem richtigen Namen bekannt waren, konnte Mickey jedes von den vieren sein. Er konnte durchaus Kandersteg oder Starlamp sein. Es sah ganz so aus, als wäre er einer von den beiden und sollte in Supermans Fußstapfen treten. Also machte ich mir Gedanken.
Freitag früh brachte ein gemieteter Transporter unseren Starter nach Haydock, und Humbers Transporter blieb ebenso wie Jud, der sonst immer die Pferde fuhr, bis Mittag auf dem Hof. Das war eine klare Abweichung vom Trott, und ich nutzte die Gelegenheit, mir den Kilometerstand auf dem Tacho anzusehen.
Jud fuhr mit dem Transporter zum Hof hinaus, während wir noch die Mittagspampe löffelten, und wir sahen ihn auch nicht wiederkommen, da wir auf der am weitesten vom Stall entfernten Arbeitsbahn die Grasplacken wieder einsetzten, die im Lauf der Woche beim Training aus dem weichen Boden gerissen worden waren, doch als wir zur Abendstallzeit um vier zurückkamen, stand Mickey in seiner Box.
Ich stieg ins Fahrerhaus des Transporters und sah mir den Kilometerstand an. Jud hatte genau sechsundzwanzigeinhalb Kilometer zurückgelegt. An der Küste konnte er nicht gewesen sein. Grimmig dachte ich mir mein Teil.
Als ich mit meinen beiden Rennpferden fertig war, ging ich mit den Bürsten und Heugabeln zu Adams’ schwarzem Hunter hinüber und sah Jerry nebenan mit Tränen im Gesicht vor Mickeys Box stehen.
«Was hast du?«fragte ich und stellte mein Zeug ab.
«Mickey… hat mich gebissen«, sagte er. Er zitterte vor Angst und Schmerzen.
«Laß mal sehen.«
Ich half ihm, den linken Arm aus dem Pullover zu ziehen, und sah mir den Schaden an. Am Oberarm, nicht weit von der Schulter, zeichnete sich blaurot ein dicker, runder Striemen ab. Das Pferd hatte voll zugebissen.
Cass kam herüber.
«Was ist denn hier los?«
Aber er sah Jerrys Arm und wußte Bescheid. Er schaute über die Stalltür in Mickeys Box, wandte sich an Jerry und sagte:»Seine Beine waren schon zu kaputt für die Meerwasserkur. Der Tierarzt meinte, die müßte er scharf einreiben, und das hat er heute nachmittag gemacht, als Mickey wiederkam. Deswegen stellt er sich so an. Er ist etwas mitgenommen, und das wärst du ja auch, wenn sie dir ein Pflaster, das so brennt, aufs Bein pappen würden. Also hör auf zu flennen, geh rein und schau, daß du mit ihm fertig wirst. Und du, Dan, machst dich an den Hunter und kümmerst dich um deinen Kram. «Er ließ uns stehen.
«Ich kann nicht«, meinte Jerry mehr zu sich selbst als zu mir.
«Das schaffst du schon«, ermunterte ich ihn.
Er sah mich entsetzt an.»Der beißt mich noch mal.«
«Ach was.«
«Er hat’s dauernd versucht. Und er keilt wie verrückt aus. Ich trau mich da nicht rein…«Steif, angstbebend stand er da, und mir wurde klar, daß er so wirklich nicht mehr in die Box gehen konnte.
«Na schön«, sagte ich,»ich nehme dir Mickey ab, du machst meinen Hunter. Aber mach ihn gut, Jerry, er muß tipptopp sein. Mr. Adams reitet ihn morgen wieder, und ich will nicht noch mal einen Samstag auf den Knien herumrutschen.«
Er sah mich verdutzt an.»So was hat noch keiner für mich getan.«
«Wir tauschen ja nur«, sagte ich schroff.»Wenn du mit meinem Hunter schluderst, beiße ich dich schlimmer als Mickey.«
Er hörte auf zu zittern und grinste, wie ich es mir gewünscht hatte; dann zog er den Pullover wieder über den schmerzenden Arm, griff sich meine Bürsten und öffnete die Tür zur Box des Hunters.
«Du sagst doch Cass nichts davon?«fragte er besorgt.
«Nein«, versicherte ich ihm und sperrte Mickeys Tür auf.
Das Pferd war fest angebunden und trug einen verstellbaren hölzernen Halskragen, damit es sich nicht die Verbände von den Vorderbeinen abreißen konnte. Unter den Verbänden waren Mickeys Beine laut Cass» geblistert«, das hieß, mit einem scharfen Mittel eingerieben, das zur Straffung und Kräftigung der Sehnen diente. Blistern oder scharfes Einreiben war bei Sehnenschwäche durchaus üblich. Nur, daß Mickeys Beine der Behandlung nicht bedurft hatten. Für meine Begriffe waren sie völlig in Ordnung gewesen. Jetzt dagegen schmerzten sie ihn offensichtlich und mindestens so sehr wie vom Blistern, wenn nicht stärker.
Mickey war so erregt, wie Jerry gesagt hatte. Weder Hand noch Stimme konnten ihn beruhigen; er schlug mit den Hinterbeinen aus, sobald er mich in Reichweite wähnte, und auch mit den Zähnen war er kräftig dabei. Ich hielt mich hinter ihm fern, auch wenn er sich redlich mühte, mich vor die Hufe zu bekommen, während ich die Box einstreute. Ich brachte ihm Heu und Wasser, doch das interessierte ihn nicht, und legte ihm eine neue Decke auf, da die alte schweißdurchtränkt war und er sich in der Nacht damit erkältet hätte. Der Deckenwechsel gestaltete sich etwas schwierig, aber da ich Mickeys Angriffe mit der Heugabel abwehrte, kam ich mit heiler Haut davon.
Ich ging mit Jerry zu den Futterkisten, wo Cass jedem Pferd sein Futter zuteilte, und als wir wieder bei den Boxen waren, tauschten wir feierlich die Maße aus. Jerry grinste glücklich. Mickey wollte nicht fressen, höchstens ein paar Stückchen von mir. Die bekam er nicht. Ich ließ ihn für die Nacht angebunden und brachte mich mit Jerrys Putzzeug auf der anderen Seite der Tür in Sicherheit. Bis zum Morgen würde er sich hoffentlich einigermaßen beruhigt haben.
Jerry striegelte dem schwarzen Hunter die Haare praktisch einzeln und summte dabei leise vor sich hin.
«Bist du soweit?«fragte ich.
«Ist es gut so?«fragte er zurück.
Ich trat in die Box, um mir sein Werk anzusehen.
«Prima«, sagte ich wahrheitsgemäß. Pferde putzen konnte Jerry wirklich gut; und am nächsten Tag ließ Adams zu meiner großen Erleichterung beide Hunter kommentarlos durchgehen und sagte nichts weiter zu mir. Er war in Eile, weil er zu einem weit entfernten Jagdtreffen mußte, aber anscheinend war es mir doch auch geglückt, einen des Quälens unwürdigen, rückgratlosen Eindruck auf ihn zu machen.
Um Mickey stand es an diesem Morgen noch viel schlimmer. Als Adams gefahren war, trat ich mit Jerry an die Tür von Mickeys Box und schaute hinein. Das arme Tier hatte sich trotz des Halskragens einen der Verbände abgerissen, und wir sahen eine große, offene Stelle über der Sehne.
Mickey drehte sich mit wildem Blick und angelegten Ohren nach uns um, den Hals aggressiv vorgestreckt. Die Muskeln an seinen Schultern und der Hinterhand zitterten stark. So hatte ich noch nie ein Pferd erlebt, außer wenn es kämpfte, und ich hielt ihn für gefährlich.
«Der ist durchgeknallt«, flüsterte Jerry gebannt.
«Armes Tier.«
«Willst du da reingehen?«fragte er.»Der bringt dich doch um.«
«Hol Cass«, sagte ich.»Da gehe ich erst rein, wenn Cass und Humber selbst Bescheid wissen. Lauf zu Cass und sag ihm, daß Mickey übergeschnappt ist. Dann kommt er ihn sich bestimmt ansehen.«
Jerry trabte los und kam mit Cass zurück, der zwischen Besorgnis und Verachtung hin- und hergerissen schien. Als er Mickey dann sah, gewann die Besorgnis prompt die Oberhand; er ermahnte Jerry, auf keinen Fall Mickeys Tür zu öffnen, und lief zu Humber.
Humber kam, auf seinen Stock gestützt, im Eilschritt über den Hof, während der kleinere Cass neben ihm hertrabte. Und Humber sah sich Mickey eine ganze Weile an. Dann richtete er den Blick auf Jerry, der bei dem Gedanken, ein Pferd in diesem Zustand versorgen zu müssen, wieder zitterte, und schließlich auf mich, der vor der Tür der nächsten Box stand.
«Das ist die Box von Mr. Adams’ Hunter«, sagte er zu mir.
«Ja, Sir. Mr. Adams hat ihn gerade abgeholt, Sir.«
Er musterte mich, musterte Jerry und meinte dann zu Cass:»Roke und Webber tauschen am besten. Sie haben zwar beide keinen Mumm, aber Roke ist größer, kräftiger und älter.«
Und außerdem, dachte ich mit plötzlicher Klarsicht, hat Jerry Eltern, die Theater machen, wenn ihm etwas passiert, wogegen bei Roke keine Angehörigen vermerkt sind.
«Alleine geh ich da nicht rein, Sir«, sagte ich.»Cass muß ihn mit der Gabel in Schach halten, während ich saubermache. «Und selbst dann konnten wir von Glück sagen, wenn wir nicht getreten wurden.
Cass erklärte Humber zu meiner Belustigung schleunigst, wenn ich Angst hätte, es allein zu machen, werde er noch einen Pfleger hinzuholen. Humber beachtete uns jedoch beide nicht, sondern starrte düster wieder Mickey an.
Schließlich wandte er sich an mich und sagte:»Nehmen Sie einen Eimer und kommen Sie zum Büro.«
«Einen leeren Eimer, Sir?«
«Ja«, sagte er ungeduldig,»einen leeren Eimer.«
Schon drehte er sich um und hinkte zu dem langen Backsteinbau hinüber. Ich nahm den Eimer aus der Box des Hunters, ging hinter ihm her und wartete an der Tür.
Er kam mit einem Arzneimittelfläschchen in der einen und einem Teelöffel in der anderen Hand wieder heraus.
Das Fläschchen hatte einen Glasstöpsel und war zu drei Vierteln mit einem weißen Pulver gefüllt. Er bedeutete mir, ihm den Eimer hinzuhalten, und schüttete einen halben Teelöffel von dem Pulver hinein.
«Füllen Sie den Eimer nur zu einem Drittel mit Wasser«, sagte er,»und stellen Sie ihn Mickey in die Krippe, damit er ihn nicht umschmeißen kann. Wenn er das erst mal trinkt, beruhigt er sich.«
Er verschwand mit Fläschchen und Löffel wieder im Büro, und ich entnahm dem Eimer eine Prise des weißen Pulvers und schüttete sie in die zusammengefaltete Liste von Humbers Pferden in meinem Geldgürtel. Dann leckte ich mir über Finger und Daumen — die Pulverreste hatten einen leicht bitteren Geschmack. Das Fläschchen, das ich schon aus dem Schrank im Waschraum kannte, enthielt laut Etikett» Lösliches Phenobarbital«, und erstaunlich war nur, wieviel Humber davon auf Vorrat hatte.
Ich ließ Wasser in den Eimer laufen, rührte es mit der Hand um und kehrte zu Mickeys Box zurück. Cass war verschwunden. Jerry versorgte auf der anderen Hofseite sein drittes Pferd. Ich sah mich nach Hilfe um, aber niemand ließ sich blicken. Ich fluchte. Allein zu Mickey hineinzugehen wäre sträfliche Dummheit gewesen.
Humber kam wieder über den Hof.
«Worauf warten Sie?«
«Ich würde das Wasser verschütten, wenn ich ihm ausweiche, Sir.«»Ha!«
Mickeys Hufe krachten wild gegen die Wand.
«Sie trauen sich bloß nicht.«
«Nur ein Idiot geht da allein rein, Sir«, sagte ich mürrisch.
Er starrte mich böse an, merkte aber offenbar, daß es zwecklos war, mich zu drängen. Plötzlich nahm er den Gehstock in die linke Hand und ergriff mit der rechten die Heugabel, die an der Wand lehnte.
«Kommen Sie schon«, sagte er barsch.»Es wird Zeit.«
Er gab ein merkwürdiges Bild ab, wie er da in seinem Aufzug wie aus einer Anzeige für Country Life die beiden unkonventionellen Waffen schwenkte. Hoffentlich war er auch so entschlossen, wie er sich anhörte.
Ich sperrte Mickeys Tür auf, und wir traten ein. Zu Unrecht hatte ich angenommen, Humber könnte die Flucht ergreifen und mich im Stich lassen; er war kaltblütig wie immer, als kenne er überhaupt keine Angst. Geschickt drängte er Mickey erst auf die eine, dann auf die andere Seite der Box, während ich ausmistete und frisches Stroh einstreute, und auch während ich die Futterreste aus der Krippe entfernte und den Eimer mit dem arzneiversetzten Wasser festklemmte, hielt er die Stellung. Mickey machte es ihm nicht leicht. Gebiß und Hufe waren rühriger und gefährlicher als am Abend zuvor.
Angesichts der Kaltblütigkeit Humbers war es besonders ärgerlich, den Hasenfuß spielen zu müssen, obschon es mir vor ihm leichter fiel als vor Adams.
Als ich fertig war, befahl mir Humber, als erster hinauszugehen, und sein Anzug hatte nicht ein Stäubchen abbekommen, als er hinter mir den Rückzug antrat.
Ich war mit einem Satz von der Tür weg und mimte Furcht und Zittern. Humber musterte mich angewidert.
«Roke«, meinte er sarkastisch,»ich hoffe, wenn Mickey halb betäubt ist, fühlen Sie sich ihm wieder gewachsen.«
«Ja, Sir«, sagte ich leise.
«Dann schlage ich vor, daß wir ihn noch ein paar Tage unter Beruhigungsmitteln halten, damit Ihr Mut nicht zu sehr auf die Probe gestellt wird. Jedesmal, wenn Sie ihm einen Eimer Wasser holen, lassen Sie sich von Cass oder mir was reintun. Verstanden?«
«Ja, Sir.«
Ich trug den Sack schmutzigen Strohs zum Misthaufen und sah mir den Verband, den sich Mickey abgerissen hatte, dort genauer an. Blister war ein rotes Zeug. An Mickeys Bein hatte ich vergeblich nach roter Paste gesucht, und auch an dem Verband war keine. Von der Größe der Wunde her hätte man eine halbe Tasse voll erwartet.
Am Nachmittag nahm ich Jerry wieder auf dem Motorrad mit nach Posset und ließ ihn nach Herzenslust in der Spielwarenabteilung der Poststelle stöbern.
Auf mich wartete ein Brief von October:
«Wieso haben wir vorige Woche keinen Bericht bekommen? Sie sind verpflichtet, uns auf dem laufenden zu halten.«
Ich zerriß das Blatt und schürzte die Lippen. Verpflichtet! Das brachte mich nun wirklich auf die Palme. Als würde ich mich aus Pflichtbewußtsein bei Humber wie ein Sklave halten lassen! Ich war lediglich stur, ich brachte gern zu Ende, was ich anfing, und auch wenn es etwas hochtrabend klang, wollte ich doch nach Möglichkeit den britischen Hindernissport aus Adams’ Klauen befreien. Wäre es nur um Pflichterfüllung gegangen, hätte ich October sein Geld zurückgegeben und tschüs gesagt.
«Sie sind verpflichtet, uns auf dem laufenden zu halten.«
Er war immer noch böse wegen Patty, dachte ich mürrisch, und den Satz hatte er nur geschrieben, weil er wußte, daß ich mich daran stoßen würde.
Ich setzte meinen Bericht auf.
«Ihr ergebener und gehorsamer Diener bedauert, daß es ihm in der vergangenen Woche nicht möglich war, Sie auf dem laufenden zu halten.
Vieles ist nach wie vor unklar, doch eines steht jetzt immerhin fest: Die elf Altgedopten werden nicht noch einmal gedopt werden, sondern als nächster Sieger ist ein Pferd namens Six-Ply vorgesehen. Sein derzeitiger Besitzer ist Mr. Henry Waddington aus Lewes in Sussex.
Darf ich um die Beantwortung folgender Fragen bitten:
Ist das Pulver in dem beigefügten Briefchen lösliches Phenobarbital?
Welches sind die eingetragenen äußeren Kennzeichen der Rennpferde Chin-Chin, Kandersteg und Starlamp?
Wann hat Blackburn zuletzt in einem Heimspiel Arsenal geschlagen?«
Pflicht erfüllt, dachte ich grinsend, als ich den Umschlag zuklebte, und jetzt ist er erst mal dran.
Jerry und ich schlugen uns im Cafe den Bauch voll. Ich war seit fünf Wochen und zwei Tagen bei Humber, und meine Sachen wurden mir zu weit.
Als wir nichts mehr hinunterbrachten, fuhr ich noch einmal bei der Post vorbei, um eine Wanderkarte von der Umgebung und einen billigen Zirkel zu kaufen. Jerry leistete sich einen Spielzeugpanzer für fünfzehn Shilling, dem er bisher widerstanden hatte, und — nicht ohne sich zu vergewissern, ob er von mir verlangen konnte, es ihm vorzulesen — ein zweites Comicheft. Dann fuhren wir zurück zu Humber.
Tage vergingen. Mickey trank sein präpariertes Wasser, und ich konnte seine Box sauberhalten und ihn ohne große Mühe versorgen. Cass nahm ihm den zweiten Verband ab, und wieder war von roter Paste nichts zu sehen. Die Wunden begannen zu heilen.
Da Mickey nicht geritten werden konnte und sehr ängstlich reagierte, wenn man ihn auf die Straße bringen wollte, mußte er jeden Tag eine Stunde im Hof herumgeführt werden, was mich mehr anstrengte als ihn, mir aber Zeit gab, einigen produktiven Gedanken nachzugehen.
Humbers Stock krachte Dienstag früh schallend auf Charlies Schultern, und im ersten Moment sah es aus, als würde Charlie zurückschlagen, doch Humber starrte ihn kalt an, bis er den Blick senkte, und versetzte ihm am nächsten Morgen einen noch festeren Schlag auf die Schultern. An diesem Abend blieb Charlies Bett leer. Er war der vierte Abgang in den sechs Wochen meines Aufenthalts bei Humber (nicht mitgezählt den Jungen, der nur drei Tage blieb), und von meinen sechs ursprünglichen Schlafsaalgenossen waren nur noch Bert und Jerry übrig. Der Zeitpunkt, da ich die Abschußliste anführen würde, rückte in greifbare Nähe.
Adams begleitete Humber, als der am Donnerstag abend seinen gewohnten Rundgang machte. Sie blieben vor Mickeys Box stehen, begnügten sich aber mit einem Blick über die Halbtür.
«Geh nicht rein, Paul«, sagte Humber warnend.»Er ist trotz der Sedierung noch unberechenbar.«
Adams sah mich drinnen bei Mickey stehen.
«Wieso macht der Zigeuner das Pferd? Ich denke, das hat der Schwachkopf. «Es klang wütend und bestürzt.
Humber erklärte ihm, daß er uns hätte tauschen lassen, nachdem Mickey Jerry gebissen habe. Adams hielt zwar immer noch nichts davon, aber wie es schien, wollte er sich erst dazu äußern, wenn sie unter sich waren.
Er sagte:»Wie heißt der Zigeuner?«
«Roke«, erwiderte Humber.
«Na, Roke, dann kommen Sie mal aus der Box raus.«
«Denk dran, Paul, daß wir schon einen Mann zu wenig haben«, sagte Humber besorgt.
Das hörte sich nicht gerade vertrauenerweckend an. Ich ging durch die Box, ohne Mickey aus den Augen zu lassen, trat zur Tür hinaus, blieb krumm stehen und schaute auf den Boden.
«Roke«, sagte Adams mit Kreide in der Stimme,»wofür geben Sie Ihren Lohn aus?«
«Ich stottere mein Motorrad ab, Sir.«
«Sie stottern was? Ach so. Und wie viele Raten haben Sie noch?«
«Ehm, ungefähr fünfzehn, Sir.«
«Und Sie wollen hier bleiben, bis Sie es abbezahlt haben?«
«Ja, Sir.«
«Nimmt man Ihnen das Motorrad weg, wenn Sie nicht weiterzahlen?«
«Das kann sein, Sir.«
«Dann braucht Mr. Humber also keine Angst zu haben, daß Sie ihn verlassen?«
Langsam und widerstrebend, durchaus aber wahrheitsgemäß sagte ich:»Nein, Sir.«
«Gut«, meinte er aufgeräumt,»dann wäre das ja geklärt. Und jetzt sagen Sie mir mal, woher Sie den Mut nehmen, ein unberechenbares, halb verrücktes Pferd zu pflegen.«
«Es ist ruhiggestellt, Sir.«»Sie und ich, Roke, wissen doch beide, daß ein ruhiggestelltes Pferd noch kein ungefährliches Pferd ist.«
Ich schwieg. Wenn ich jemals eine Eingebung gebraucht hatte, dann jetzt, aber in meinem Kopf war Mattscheibe.
«Ich glaube nicht, daß Sie so pflaumenweich sind, wie Sie tun, Roke«, sagte er leise.»Mir scheint, daß sehr viel mehr in Ihnen steckt, als Sie uns weismachen wollen.«
«Nein, Sir«, sagte ich hilflos.
«Das wollen wir doch gleich mal feststellen.«
Er streckte die Hand aus, und Humber reichte ihm seinen Gehstock. Adams holte aus und versetzte mir einen ziemlich schmerzhaften Schlag auf den Oberschenkel.
Wenn ich bei Humber bleiben wollte, mußte ich etwas tun, damit er aufhörte. Staub fressen war angezeigt. Ich schnappte nach Luft, rutschte an der Stalltür runter und setzte mich auf den Hintern.
«Bitte nicht, Sir«, rief ich.»Ich habe mir Tabletten besorgt. Weil ich so eine Angst vor Mickey hatte, hab ich mir am Samstag in der Apotheke in Posset Tabletten geben lassen, die Mut machen, und die nehme ich jetzt immer.«
«Was für Tabletten?«fragte Adams ungläubig.
«Irgendwas mit Trankie, oder wie das heißt.«
«Tranquilizer.«
«Ja, genau. Schlagen Sie mich bitte nicht mehr, Sir. Ich hatte eine Heidenangst vor Mickey. Bitte schlagen Sie mich nicht mehr, Sir.«
«Du liebe Zeit«, lachte Adams.»Ich fass’ es nicht. Darauf muß man erst mal kommen. «Er gab Humber den Stock zurück, und als wäre nichts gewesen, gingen beide zur nächsten Box.
«Hast du Schiß, nimm Tranquilizer. Na ja, warum nicht?«
Immer noch lachend, gingen sie zum nächsten Pferd hinein.
Ich stand langsam auf und klopfte mir den Hosenboden ab. Verdammt, dachte ich unglücklich, aber was blieb mir denn anderes übrig? Warum war Stolz nur so wichtig, und warum war es so bitter, ihn aufzugeben?
Fest stand, daß Schwäche mein einziger Aktivposten war. Adams hatte den perversen Drang, jeden kleinzukriegen, der Charakter zeigte. Er beherrschte Humber, verlangte unbedingten Gehorsam von Cass und hatte zwei Verbündete in ihnen. Wenn ich ihm auch nur ansatzweise die Stirn bot, würde ich mir nichts als blaue Flecken einhandeln und ihm Anlaß geben, sich zu fragen, wieso ich trotzdem blieb. Je mehr Standhaftigkeit ich bewies, desto mehr mußte ihn das verwundern. Die Raten fürs Motorrad erklärten nicht alles. Er war auf Draht. Wenn er scharf nachdachte, würde ihm einfallen, daß ich aus Octobers Rennstall kam. Sicher wußte er, daß October in der Hindernisbehörde saß und damit sein natürlicher Feind war. Tommy Stapleton würde ihm einfallen. Der siebte Sinn des Gejagten würde ihn hellhörig machen. Er konnte auf die Post gehen und in Erfahrung bringen, daß ich nicht jede Woche Geld anwies, er konnte in die Apotheke gehen und herausbekommen, daß ich keine Tranquilizer gekauft hatte. Wer so tief drinsteckte wie er, mußte das Risiko vermeiden, daß ein zweiter Stapleton auftauchte; sobald ich in Verdacht geriet, waren zumindest meine Tage als Ermittler gezählt. Wenn er mich dagegen weiterhin als Menschen ohne Rückgrat ansah, würde er sich den Teufel um mich scheren, und ich konnte nötigenfalls noch fünf bis sechs Wochen bei Humber bleiben. Gott behüte, dachte ich.
Auch wenn seine Reaktion nicht vom Kopf, sondern aus dem Bauch kam, war Adams doch zu Recht beunruhigt, daß ich an Jerrys Stelle jetzt Mickey betreute.
In den Stunden, die ich bei dem Pferd verbracht hatte, war mir klargeworden, was eigentlich mit ihm los war, und nach und nach hatten sich die gesammelten Informationen über die betroffenen Pferde mit dem, was ich über Pferde allgemein wußte, schlüssig zusammengefügt. Ich konnte mir inzwischen denken, wie Adams und Humber ihre Pferde das Siegen gelehrt hatten.
Ich ahnte es, wußte es aber nicht genau. Eine These, die noch zu beweisen war. Dafür brauchte ich Zeit, und wenn ich Zeit nur damit erkaufen konnte, daß ich mich auf den Boden setzte und Adams anflehte, mich nicht zu schlagen, dann mußte es eben sein. Abscheulich war es trotzdem.