Kapitel 9

Die Gerüchte waren Hedley Humber kaum gerecht geworden. Was den Stallangestellten dort Übles zugemutet wurde, hatte so viel Methode, daß ich am ersten Tag schon zu dem Schluß kam, die Mißstände seien gewollt, damit niemand zu lange blieb. Ich fand heraus, daß lediglich der Futter- und der Reisefuttermeister, die beide in Posset wohnten, seit mehr als drei Monaten im Stall beschäftigt waren und daß der gemeine Pfleger im Schnitt nach acht bis zehn Wochen zu der Erkenntnis kam, mit sechzehn Pfund sei er hier unterbezahlt.

Das bedeutete, daß außer den beiden Futtermeistern niemand vom Stallpersonal wußte, was im Sommer mit Superman geschehen war, denn damals waren sie alle noch nicht hier. Die beiden Topleute aber blieben zweifellos gerade deshalb, weil sie wußten, was ablief; wenn ich sie also nach Superman fragte, konnte es mir sehr schnell so ergehen wie Tommy Stapleton.

Ich hatte genug über die schmutzigen, verlotterten Unterkünfte in manchen Ställen gehört und wußte auch, daß manche Pfleger es nicht besser verdienten — etwa solche, die ihre Stühle verheizten, statt Kohlen zu holen, oder die zum Geschirrabwaschen die Toilettenspülung nahmen —, aber die Verhältnisse bei Humber waren nahezu unmenschlich.

Als Schlafraum diente ein schmaler Heuspeicher über den Pferden. Man konnte jeden Hufschlag und das Rasseln

der Ketten hören, und durch die Ritzen im Bretterboden sah man direkt in die Boxen. Eisige Zugluft trug den Geruch von schmutzigem Stroh herauf. Über dem Heuspeicher gab es keine Decke, nur die Dachsparren und Schindeln, und er war nur über eine Leiter durch ein Loch im Boden zu erreichen. Eine Scheibe des einzigen kleinen Fensters war zerbrochen und mit Packpapier überklebt worden, so daß statt Licht nur Kälte hereinkam.

Die sieben Betten, die das ganze Mobiliar des Heuspeichers darstellten, waren einfache Rahmen aus Metallrohren mit straff darübergespanntem Segeltuch. Für jedes Bett waren zwei graue Decken und ein Kopfkissen vorgesehen, aber ich mußte mir mein Zeug erst erobern, weil andere es beim Weggang meines Vorgängers in Beschlag genommen hatten. Das Kissen war ohne Bezug, es gab keine Laken, keine Matratzen. Alle schliefen der Wärme wegen in ihren Kleidern, und als ich den dritten Tag dort war, fing es an zu schneien.

Die Küche am Fuß der Leiter, der einzige Raum, der den Pflegern noch zur Verfügung stand, war nichts anderes als die letzte Box auf der einen Stallseite. Man hatte so wenig dazu getan, sie wohnlich zu gestalten, daß sich der Gedanke aufdrängte, ihre Benutzer würden als Tiere angesehen und auch so behandelt. Das kleine Fenster war noch vergittert, und die zweiteilige Stalltür ließ sich immer noch von außen verriegeln. Der nackte Betonfußboden war von Abflußrinnen durchzogen, eine Wand bestand aus rohen Brettern, die ein Pferd mit den Hufen traktiert hatte, die drei anderen aus nacktem Backstein. Es war immer kalt, feucht und schmutzig in dem Raum, und wenn er einem Pferd vielleicht auch genügend Platz geboten hatte, so war er für sieben Männer doch ungemütlich eng.

Die spärliche Einrichtung bestand aus grobgezimmerten Sitzbänken an zwei Wänden, einem Holztisch, einem arg ramponierten Elektroherd, einem Bord fürs Geschirr und einem alten Marmorwaschtisch mit Blechkanne und Blechschüssel, unserem ganzen Bad. Anderen Bedürfnissen diente ein Holzhäuschen neben dem Misthaufen.

Das Essen, von einer schlampigen Frau zubereitet, die allzeit Lockenwickler trug, war noch schlimmer als die Unterkunft.

Humber, der mich mit einem gleichgültigen Blick und einem Nicken eingestellt hatte, wies mir mit dem gleichen Mangel an Interesse bei meiner Ankunft im Stall vier Pferde zu und sagte mir ihre Boxennummern. Weder er noch sonst jemand sagte mir ihre Namen. Der Futtermeister, der ein Pferd selbst betreute, hatte entgegen der allgemeinen Gepflogenheit offenbar wenig zu sagen; es war Humber, der die Anweisungen gab und darauf achtete, daß sie befolgt wurden. Er war ein Tyrann, nicht so sehr, was das Wie, sondern das Wieviel der geforderten Arbeit anging. Es standen gut dreißig Pferde im Stall. Der Futtermeister versorgte eins davon, der Reisefuttermeister, der auch den Transporter fuhr, gar keins. So kamen neunundzwanzig Pferde auf sieben Pfleger, die obendrein die Trainingsbahn und Haus und Hof in Schuß zu halten hatten. An Renntagen, wenn ein oder zwei Pfleger unterwegs waren, mußten die anderen oft jeder sechs Pferde versorgen.

Meine Zeit bei Inskip war dagegen ein Erholungsurlaub gewesen.

Beim geringsten Anzeichen von Drückebergerei teilte Humber empfindliche kleine Strafen aus und schrie mit schneidender Stimme, er zahle mehr Lohn für mehr Arbeit, und wem das nicht passe, der könne gehen. Da sie alle nur dort waren, weil bessere Ställe die Finger von ihnen ließen, bedeutete der Weggang von Humber automatisch ihren Abschied von der Rennwelt. Da spielte es dann auch keine Rolle mehr, was sie über den Stall wußten. Klug ausgedacht.

Meine Gefährten in diesem finsteren Loch waren weder freundlich noch liebenswert. Der beste von ihnen war noch der zurückgebliebene Junge, den ich Weihnachten in Stafford gesehen hatte. Er hieß Jerry und mußte eine Menge Knüffe einstecken, weil er langsamer und dümmer war als alle anderen.

Zwei der Leute hatten Knasterfahrung, und gegen ihre Lebenseinstellung nahm sich Soupy Tarleton wie ein Sonntagsschüler aus. Einem dieser beiden mußte ich meine Decken, dem anderen, einem bulligen Schläger namens Charlie, mein Kopfkissen entreißen. Sie waren die beiden Raufbolde der Truppe und traten nicht nur gern um sich, sondern logen auch wie gedruckt und sorgten dafür, daß stets andere an ihrer Stelle bestraft wurden.

Reggie war der Mundräuber. Dünn, blaß, mit einem Tic im linken Augenlid, hatte er lange, geschmeidige Hände, die einem schneller das Brot vom Teller klauten, als das Auge wahrnahm. Ich trat viel von meinen mageren Rationen an ihn ab, bevor ich ihn in flagranti ertappte, und es blieb mir ein Rätsel, wie er ein solcher Strich sein konnte, obwohl er mehr als alle anderen aß.

Einer war hörbehindert. Eintönig leiernd erzählte er mir, er habe, als er klein war, von seinem Vater zuviel Schläge hinter die Ohren bekommen. Da er sich im Bett manchmal einnäßte, stank er.

Der siebte, Geoff, war schon am längsten da und dachte selbst nach zehn Wochen noch nicht ans Weggehen. Er hatte die Angewohnheit, sich verstohlen umzublicken, und da er, wenn Jimmy oder Charlie Schwanke aus dem Knast erzählten, immer aussah, als müsse er heulen, gelangte ich zu dem Schluß, daß er irgend etwas auf dem Kerbholz hatte und befürchtete, es könne herauskommen. Vielleicht waren zehn Wochen bei Humber dem Gefängnis ja vorzuziehen, aber darüber ließ sich streiten.

Der Reisefuttermeister, Jud Wilson, hatte sie über mich ins Bild gesetzt. Daß ich nicht vertrauenswürdig sei, glaubten sie gern, aber ihrer Meinung nach hatte ich großes Schwein gehabt, am Knast vorbeigekommen zu sein, wenn das mit Octobers Tochter stimmte, und sie kriegten sich kaum darüber ein und rissen gnadenlos obszöne Witze, die mir oft genug unter die Haut gingen.

Ich fand ihre ständige Nähe anstrengend, das Essen scheußlich, die Arbeit aufreibend und die Kälte grauenhaft. So lernte ich auf recht unsanfte Weise, daß mein Leben in Australien auch in den schwierigsten Zeiten ein Zuckerlecken gewesen war.

Bevor ich zu Humber ging, hatte ich mich gewundert, wie irgend jemand so dumm sein konnte, für teures Geld einen derart erfolglosen Trainer in Anspruch zu nehmen, aber nach und nach fand ich die Erklärung dafür. Schon der Stall selbst war eine Überraschung. So wie die Pferde auf der Rennbahn aussahen, hätte man sich ihr Zuhause voller Unkraut, mit aus den Angeln gebrochenen Stalltüren, abgeblättertem Lack vorgestellt, doch der Betrieb war sauber und machte einen gutgeführten Eindruck, für den die Pfleger ihre Nachmittage opferten. Die hübsche Fassade kostete Humber nichts als hin und wieder einen Eimer Farbe und etwas Sklaventreiberei.

Gegenüber den Besitzern, die mitunter zur Stallbesichtigung vorbeikamen, trat er selbstbewußt und überzeugend auf, und wie ich später herausfand, nahm er geringere Gebühren als jeder andere, was ihm natürlich auch Zulauf brachte. Außerdem waren nicht nur Rennpferde bei ihm, sondern auch einige Jagdpferde, deren Unterbringung, Verköstigung und Bewegung er sich gut bezahlen ließ, ohne für ihr Training verantwortlich zu sein.

Von den anderen Pflegern erfuhr ich, daß in der ganzen Saison nur sieben Pferde aus dem Stall gestartet waren, die dafür aber um so härter ranmußten und im Schnitt alle zehn Tage ein Rennen absolvierten. Ein Sieger, zwei Zweite, ein dritter Platz war das Ergebnis.

Von den sieben betreute ich keins. Ich war einem Quartett zugeteilt worden, das aus zwei offenbar Humber selbst gehörenden Rennpferden und zwei Jagdpferden bestand. Die beiden Rennpferde waren Braune, ungefähr sieben Jahre alt; das eine hatte ein feines Maul und keinen Speed, das andere ging zwar gut über die Trainingssprünge, war aber unleidlich. Ich löcherte Cass, den Futtermeister, bis er mir sagte, sie hießen Dobbin und Sooty. Diese turfuntypischen Namen tauchten weder in den gesammelten Rennberichten noch unter Humber in Horses in Training auf, und ich hielt es für mehr als wahrscheinlich, daß Rudyard, Superman, Charcoal und die anderen ihr kurzes Zwischenspiel hier unter ähnlich nichtssagenden Pseudonymen gegeben hatten.

Ein aus der Rennwelt verabschiedeter Pfleger würde niemals den Dobbin oder Sooty, den er einmal betreut hatte, mit dem Rudyard in Verbindung bringen, der unter einem anderen Trainer zwei Jahre später ein Rennen gewann.

Aber wieso, wieso gewann er zwei Jahre später? Darüber wußte ich noch immer nichts.

Die Kälte kam, biß sich fest und blieb. Aber so schlimm wie der vorige Winter könne es unmöglich werden, meinten die anderen, und ich mußte daran denken, daß ich im Januar und Februar damals in der Sonne gebraten hatte. Ich fragte mich, was Belinda, Helen und Philip aus ihren langen Ferien machten und was sie davon halten würden, wenn sie mich in meinem dreckfressenden Schattendasein sehen könnten. Auch die Vorstellung, was meine Leute wohl zu ihrem auf den Hund gekommenen Chef sagen würden, heiterte mich auf, und solche kleinen Lichtblicke waren es, die mir nicht nur die öde Zeit verkürzten, sondern auch halfen, meine innere Identität zu bewahren.

Während die Schinderei tagein, tagaus weiterging, begann ich mich zu fragen, ob jemand, der sich auf ein so radikales Rollenspiel einließ, wirklich wußte, was er tat.

Ausdruck, Sprechweise und Bewegungen mußten rigoros auf die überzeugende Darbietung blöder Schnoddrig-keit hin zugeschnitten werden. Ich arbeitete schlampig und ritt schweren Herzens wie ein Kartoffelsack; aber auch das Verstellen fiel mit der Zeit leichter. Es war, als könnte einem der Verkorkste, den man spielte, in Fleisch und Blut übergehen. Ob man sich die menschliche Würde soweit abschminken konnte, daß man sie schließlich, ohne es zu merken, ganz verlor? Die Frage blieb akademisch, hoffte ich, und solange ich ab und zu noch im stillen über mich lachen konnte, war ich vermutlich außer Gefahr.

Meine Annahme, daß die Pfleger nach drei Monaten in aller Form gegangen wurden, fand ich bei Kandidat Geoff Smith bestätigt.

Humber ritt nie mit seinen Pferden aus, sondern kam mit einem Kleintransporter zum Trainingsgelände, schaute ihnen bei der Arbeit zu und war vor ihnen wieder daheim, um die Stallungen unter die Lupe zu nehmen.

Eines Tages, als wir mit dem zweiten Lot zurückkamen, stand Humber wieder einmal sichtlich mißgestimmt auf dem Hof.

«Smith und Roke, Sie bringen die Pferde in ihre Boxen und kommen wieder her.«

Wir gehorchten.

«Roke.«

«Sir.«

«Die Krippen Ihrer Pferde sind ja nicht zum Ansehen. Machen Sie die sauber.«

«Ja, Sir.«

«Und damit Sie sich in Zukunft dafür Zeit nehmen, stehen Sie nächste Woche um halb sechs auf.«

«Sir.«

Ich seufzte innerlich, empfand die Schikane aber noch als eine der milderen aus seinem Katalog, da mir Früh-aufstehen weiter nichts ausmachte. Man mußte lediglich gut eine Stunde lang untätig im Hof herumstehen. Dunkel, kalt und langweilig. Er selbst war auch kein Langschläfer. Sein Schlafzimmerfenster ging auf den Hof, und wenn jemand nicht Punkt zwanzig nach sechs mit brennender Taschenlampe draußen angetreten war, wußte er es immer.

«Nun zu Ihnen. «Er sah Geoff berechnend an.»In Box 7 steht der Dreck. Sie schaffen das Stroh raus und schrubben den Boden mit Desinfektionsmittel, bevor Sie essen gehen.«

«Aber Sir«, wandte Geoff unvorsichtigerweise ein,»wenn ich nicht mit den anderen am Tisch bin, lassen die mir nichts übrig.«

«Das hätten Sie sich vorher überlegen sollen, dann hätten Sie auch Ihre Arbeit gemacht. Für die fünfzig Prozent, die ich mehr zahle als andere Trainer, will ich Leistung sehen. Sie tun gefälligst, was ich Ihnen sage.«

«Aber Sir«, jammerte Geoff, der wußte, daß ihm ohne die Hauptmahlzeit schwer der Magen knurren würde,»Kann ich das nicht heute nachmittag machen?«

Humber ließ beiläufig den Gehstock durch seine Hand gleiten und faßte ihn am unteren Ende. Dann holte er aus und zog den knorrigen Griff mit Wucht über Geoffs Oberschenkel.

Geoff schrie auf und rieb sich das Bein.

«Vor dem Essen«, wiederholte Humber — und ging, auf den Stock gestützt, davon.

Geoff wurde um seinen Anteil an dem halb zerkochten, wäßrigen Hammelfleisch betrogen und bekam gerade noch mit, wie der letzte Rest Brotpudding in Charlies großem Schlingmaul verschwand.

«Ihr Schweine«, rief er hilflos.»Ihr verdammten Saukerle.«

Eine ganze Woche hielt er es noch aus. Sechs harte Schläge auf den Körper ließ er sich noch verabreichen, dreimal noch die warme Hauptmahlzeit, zweimal das Frühstück, einmal das Abendbrot wegnehmen. Er heulte nur noch, aber er wollte nicht gehen.

Am fünften Tag kam Cass beim Frühstück in die Küche und sagte zu Geoff:»Ich glaube, der Chef hat was gegen dich. Dem kannst du es nicht mehr recht machen. Ich rate dir in deinem eigenen Interesse, dich nach etwas anderem umzusehen. Der Chef kriegt manchmal solche Anfälle, da paßt ihm nichts, was einer macht, und dann ist die Sache gelaufen. Jetzt kannst du rackern, bis du schwarz wirst, der pfeift drauf. Hast du von seinem Knüppel noch nicht genug? Was du bis jetzt erlebt hast, war erst der Anfang, verstehst du? Ich sag dir das in deinem eigenen Interesse.«

Trotzdem dauerte es noch zwei Tage, bis Geoff, der Geschundene, seinen alten Tornister packte und schnüffelnd von dannen zog.

Als Ersatz erschien am nächsten Morgen ein schmächtiger Junge, der aber nur drei Tage blieb, weil sich Jimmy seine Decken unter den Nagel gerissen hatte und er sich nicht traute, sie ihm abzunehmen. Er stöhnte zwei eiskalte Nächte hindurch jämmerlich und war am dritten Tag verschwunden.

Am nächsten Morgen, vor dem Frühstück, kassierte Jimmy selbst einen Schlag mit dem Gehstock.

Er kam verspätet herein, fluchte vor sich hin und riß Jerry ein angebissenes Brot aus der Hand.

«Wo ist mein Frühstück?«

Wir hatten es natürlich aufgegessen.

«Na ja«, und er sah uns giftig an,»dann könnt ihr euch meine Pferde auch gleich teilen, ich hau ab. Was soll ich hier? Da ist der Knast noch besser. Ich mach hier nicht den Prügelknaben, das steht fest.«

«Wehr dich doch«, meinte Reggie.

«Wie denn?«

«Na… zeig ihn an.«

«Sonst geht’s dir noch gut?«fragte Jimmy entgeistert.

«So ein Schwachsinn. Soll ich mit meinen Vorstrafen vielleicht zu den Bullen gehen und sagen, Leute, mein Chef haut mich mit seinem Spazierstock? Die lachen mich doch aus. Einen Ast lachen die sich. Und dann? Angenommen, sie kommen her und fragen Cass, ob er gesehen hat, daß hier einer geschlagen worden ist? Hat er nicht, denn der gute Cass will sein Pöstchen behalten. Aber nein, wird er sagen, Mr. Humber ist immer nett und freundlich, der hat ein Herz aus Gold, aber was kann man von einem Knacki schon anderes erwarten, als daß er Mist erzählt? Da lachen ja die Hühner. Ich hau ab, und wenn ihr gescheit seid, kratzt ihr auch die Kurve.«

Doch niemand befolgte seinen Rat.

Ich erfuhr von Charlie, daß Jimmy vierzehn Tage vor ihm bei Humber angefangen hatte, nach seiner Rechnung also rund elf Wochen geblieben war.

Als Jimmy trotzig aus dem Hof marschierte, machte ich mich nachdenklich an meine Arbeit. Elf, höchstens zwölf Wochen, bis Humber mit dem Knüppeln anfing. Drei war ich schon dort, blieben mir maximal neun, um herauszufinden, wie er das Doping bewerkstelligt hatte. Wenn es darauf ankam, konnte ich sicher so lange durchhalten wie Geoff, nur mußte ich hinter Humbers Methode kommen, bevor er sich darauf konzentrierte, mich rauszuekeln, denn nachher standen meine Chancen schlecht.

Drei Wochen, dachte ich, und herausgefunden hast du lediglich, daß du so schnell wie möglich wieder weg willst.

Zwei neue Pfleger kamen für Geoff und Jimmy, ein langer Schlaks namens Lenny, der stolz auf seine Zeit in der Besserungsanstalt war, und Cecil, ein hartgesottener Trinker, Mitte Dreißig. Man habe ihn aus jedem zweiten Rennstall Englands rausgeworfen, weil er die Finger nicht von der Flasche lassen könne, erzählte er. Ich weiß nicht, wie er an den Schnaps kam oder wo er ihn versteckt hielt, aber um vier war er jeden Tag stramm, und jede Nacht schlief er den Schlaf des Vergessens.

Das Leben, wenn man das hier so nennen konnte, ging weiter.

Alle Pfleger Humbers hatten offenbar triftige Gründe, hinter dem hohen Lohn herzusein. Lenny mußte Geld, das er einem anderen Arbeitgeber gestohlen hatte, zurückerstatten, Charlie seiner Frau Unterhalt zahlen, Cecil trank, Reggie war ein zwanghafter Sparer, und Jerrys Lohn wurde von Humber direkt an dessen Eltern überwiesen. Jerry war stolz darauf, sie unterstützen zu können.

Ich hatte Jud Wilson und Cass zu verstehen gegeben, daß ich dringend sechzehn Pfund die Woche brauchte, weil ich mit der Abzahlung meines Motorrads in Rückstand geraten sei, womit auch hinreichend erklärt war, was ich samstags nachmittags immer auf der Poststelle in Posset zu suchen hatte.

Eine Bus- oder Bahnverbindung nach Posset, dem zweieinhalb Kilometer entfernten, nächsten größeren Ort, gab es nicht. Cass und Jud Wilson hatten zwar Autos, nahmen aber keinen mit. Das einzige andere Transportmittel war mein Motorrad, doch zur lautstark geäußerten Empörung meiner Gefährten weigerte ich mich, es abends auf den vereisten, verschneiten Straßen als Kneipentaxi einzusetzen. So kamen wir selten nach Posset, außer an unseren beiden Samstagnachmittags-Frei stunden und abends nach der etwas ruhigeren Sonntagsarbeit, die uns genügend Energie ließ, um zu Fuß in die Kneipe zu gehen.

Samstags wickelte ich das Motorrad aus der dicken Plastikplane und brauste mit Jerry als begeistertem Sozius nach Posset. Ich nahm den einfältigen armen Jungen immer mit, weil es ihm die ganze Woche am schlimmsten erging, und in Posset hatten wir unsere feste Tour. Als erstes fuhren wir zur Poststelle, weil ich» meine Raten überweisen «mußte. Direkt am Schalter, zwischen Stößen von Telegrammformularen und rosa Löschpapier, schrieb ich meinen Wochenbericht für October, wobei ich achtgab, daß mir niemand vom Stall über die Schulter sah. Eventuelle Antwortbriefe warf ich, nachdem ich sie gelesen hatte, handgeschreddert in den Papierkorb.

Jerry ging davon aus, daß ich mindestens eine Viertelstunde am Schalter zu tun hatte, und verbrachte die Zeit arglos in der Spielwarenabteilung auf der anderen Seite des Ladens. Zweimal kaufte er sich ein großes Modellauto mit Friktionsantrieb und spielte in unserem Schlafraum damit, bis sie den Geist aufgaben, und jede Woche kaufte er sich ein Comicheft mit Bildgeschichten, die ihn tagelang erfreuten. Er konnte die Sprechblasen nicht lesen und fragte mich oft, was da geschrieben stand, so daß ich die Abenteuer von Mickey dem Affen und Flip McCoy eingehend kennenlernte.

Von der Poststelle düsten wir zweihundert Meter weiter, um essen zu gehen — die rituelle Teemahlzeit in einem ungastlichen Cafe mit margarinefarbenen Wänden, kaltem Licht und schmutzigen Tischplatten. Pepsi-Cola-Schilder waren das einzige Dekor und die einzige Bedienung ein schlafäugiges, Strümpfe verachtendes Mädchen mit dünnen, graubraunen Haaren, die sie zu einem verfilzten Haufen hochgesteckt hatte.

Sei es drum. Jerry und ich bestellten und aßen mit unbeschreiblichem Vergnügen eine Ladung Lammkoteletts, Spiegeleier, weiche Fritten und leuchtendgrüne Erbsen. An den Nebentischen ließen es sich Charlie und die anderen schmecken. Das Mädchen wußte, woher wir kamen, und sah auf uns herab, da ihrem Vater das Cafe gehörte. An der Kasse stopften wir uns noch die Taschen mit Schokolade zur Ergänzung von Humbers Hauskost voll, ein Vorrat, der jedesmal reichte, bis Reggie ihn fand.

Um fünf waren wir wieder im Stall, das Motorrad eingepackt, der Höhepunkt der Woche nichts als eine Erinnerung, ein Rülpsen, und vor uns lagen die nächsten trostlosen sieben Tage.

Zum Nachdenken gab es bei diesem Trott Zeit genug. Stunden, während man die Pferde auf Feldwegen in der froststarren Flur herumführte, Stunden, während man ihnen den Staub aus dem Fell bürstete, den Mist aus ihren Boxen schaffte und ihnen Wasser und Heu brachte, Stunden, in denen man nachts wachlag, unterhalten vom

Stampfen der Pferde, vom Geschnarche und Geflüster aus den anderen Betten.

Immer und immer wieder überdachte ich, was ich gesehen, gelesen, gehört hatte, seit ich in England war, und das Bedeutsamste von allem schien mir der Auftritt Supermans in Stafford zu sein. Er war gedopt worden, er war der zwölfte in der Reihe, nur hatte er nicht gesiegt. Schließlich stellte ich diese Gedankenfolge um. Er war gedopt worden und hatte nicht gesiegt; aber war er tatsächlich der zwölfte in der Reihe? Er konnte der dreizehnte oder vierzehnte sein… schon andere konnten sich als Fehlschlag erwiesen haben.

Am dritten Samstag, gut drei Wochen nach meinem Antritt bei Humber, schrieb ich October mit der Bitte, mir den von Tommy Stapleton zurückgelassenen Zeitungsausschnitt über das durchgedrehte Pferd in Cartmel herauszusuchen, das am Führring eine Frau tödlich verletzt hatte. Ich bat ihn, die Lebensgeschichte des Pferdes zu recherchieren.

Acht Tage später kam seine maschinengeschriebene Antwort.

Old Etonian, getötet Pfingsten letzten Jahres in Cartmel, Lancashire, war den November und Dezember davor bei Humber. Humber hatte ihn nach einem Verkaufsrennen ersteigert und schlug ihn sieben Wochen darauf in Leicester wieder los.

Aber: Old Etonian ist im Führring vor dem Rennen wild geworden; er sollte in einem Ausgleichs-, nicht in einem Verkaufsrennen starten; und die Zielgerade in Cartmel ist kurz. Nichts davon entspricht dem bei den anderen Fällen festgestellten Muster.

Die Dopingproben bei Old Etonian waren negativ. Niemand konnte sich sein Verhalten erklären.

Tommy Stapleton mußte eine Ahnung gehabt haben, sonst hätte er den Bericht nicht ausgeschnitten, dachte ich, aber er hatte sich Gewißheit verschaffen wollen. Und das hatte ihn das Leben gekostet. Daran gab es jetzt keinen Zweifel mehr.

Ich zerriß den Brief und fuhr mit Jerry ins Cafe, hatte die Gefährlichkeit meines Spiels zwar mehr im Hinterkopf als sonst, ließ mir den Appetit auf das einzig wahre Essen der Woche davon aber nicht verderben.

Beim Abendessen ein paar Tage später, als Charlie sein Kofferradio mit dem Pop aus Luxemburg, den ich inzwischen ganz gern hörte, noch nicht eingeschaltet hatte, brachte ich das Gespräch auf die Rennbahn in Cartmel; wie die so wäre, wollte ich wissen.

Nur Cecil, der Trinker, kannte sie.

«Das ist nicht mehr dasselbe wie früher«, meinte er feierlich und bemerkte nicht, wie Reggie ihm ein Stück Brot mit Margarine stibitzte.

Cecil glaste aus wäßrigen Augen, aber ich hatte meine Frage glücklicherweise genau zum richtigen Zeitpunkt gestellt, in der gesprächigen halben Stunde zwischen der bleiernen Nachmittagsdröhnung und seinem Abtauchen zum Volltanken für die Nacht.

«Wie war es denn früher?«fragte ich.

«Die hatten einen Jahrmarkt dabei. «Er hickste.»Mit Karussells, Schaukeln, Schaubuden und allem. Für die Feiertage. Pfingsten und so. Außer dem Derby das einzige, wo man beim Pferderennen auf den Rummel gehen konnte. Das ist jetzt vorbei. Die wollen nicht, daß man seinen Spaß hat. Hat doch keinem geschadet, der Jahrmarkt.«

«Jahrmärkte«, schnaubte Reggie verächtlich und faßte den Brotkanten ins Auge, den Jerry in der Hand hielt.

«Gut zum Abgreifen«, meinte Lenny großspurig.

«Ja«, räumte Charlie ein, der sich noch nicht darüber klar war, ob Lenny sich dank der Besserungsanstalt als Kumpel von jemand der hohen Schule qualifizierte.

«Was?«Cecil kam nicht mit.

«Abgreifen. Taschen ausräumen«, erläuterte Lenny.

«Ach so. Damit war es bei den Hunderennen wohl nichts, aber die gibt’s auch nicht mehr. Das ging doch gut zusammen. Ein Renntag in Cartmel war immer was Besonderes, aber jetzt ist es der gleiche Zimt wie überall. Da kannst du auch nach Newton Abbot gehen. Alles nach Schema F. «Er rülpste.

«Was waren das für Hunderennen?«fragte ich.

«Na, Hunderennen eben. «Er lächelte töricht.»Gab eins vor und eins nach den Pferderennen, und jetzt ist es Essig damit. Spielverderber sind das. Trotzdem«, er grinste pfiffig,»wenn man sich auskennt, kann man immer noch auf die Hunde setzen. Die laufen jetzt morgens, auf der anderen Seite vom Ort, aber wenn man sein Pferd schnell versorgt, kann man da noch mitwetten.«

«Hunde?«sagte Lenny ungläubig.»Die laufen doch auf so ’ner Rennbahn nicht. Schon weil kein elektrischer Hase da ist.«

Cecil drehte sich unsicher nach ihm um.

«Für Hunde brauchst du keine Bahn«, sagte er belehrend, mit schwerer Zunge.»Da reicht eine Fährte, Mann. Jemand zieht mit einem Sack Anissamen und Paraffin oder so etwas los und schleift ihn ein paar Meilen durch die Pampa. Dann lassen sie die Hunde los, und der erste, der rumkommt, hat gewonnen. Vor zwei Jahren hat einer im letzten Kilometer auf den Favorit geschossen, und es gab Zoff. Aber der Schuß ging daneben. Getroffen hat’s den Hund dahinter, einen nicht gesetzten Außenseiter.«

«Reggie hat mein Brot verputzt«, warf Jerry traurig ein.

«Warst du voriges Jahr auch in Cartmel?«fragte ich.

«Nein«, bedauerte Cecil.»Hab ich verpaßt. Da ist eine Zuschauerin tödlich verletzt worden.«

«Wie denn das?«fragte Lenny gespannt.

«Ein Pferd ist im Führring ausgeklinkt und über den Zaun gesprungen, genau auf eine Frau, die sich bloß einen schönen Nachmittag machen wollte. Die hatte wirklich Pech. Das durchgedrehte Pferd muß sie richtig plattgetrampelt haben in dem Gewühl. Es kam nicht weit, aber es hat nach allen Seiten ausgekeilt und noch einem Mann das Bein zerdonnert, bevor der Tierarzt es erschießen konnte. Übergeschnappt, hieß es. Ein Freund von mir hat vor dem Rennen ein anderes Pferd rumgeführt, und er sagte, es war furchtbar, wie die halb zerfetzte Frau da vor seinen Augen verblutet ist.«

Die grausige Geschichte verfehlte ihre Wirkung auf die Runde nicht, mit Ausnahme von Bert, der kein Wort davon hörte.

«So«, sagte Cecil und stand auf,»Zeit für meinen kleinen Spaziergang.«

Der kleine Spaziergang führte ihn vermutlich zu seinem Schnapsversteck, denn wie gewohnt kam er knapp eine Stunde später zurück, hangelte sich die Leiter hoch und fiel nur noch aufs Bett.

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