Kapitel 3

Ich schlich mich behutsam in die neue Umgebung ein wie ein Ketzer in den Himmel, um nicht auf- und hinauszufliegen, bevor ich ganz dazugehörte. Am ersten Abend kargte ich mit Worten, weil ich meinem angelernten Akzent nicht traute, aber bald wurde mir klar, daß bei der Vielfalt von Dialekten, die im Stall gesprochen wurden, mein Cockney-Australisch gar nicht auffiel.

Wally, der Futtermeister, ein drahtiger kleiner Mann mit schlechtsitzenden dritten Zähnen, hatte mich zur Schlafplatzbelegung in das Haus beim Tor geschickt, in dem etwa ein Dutzend unverheiratete Pferdepfleger wohnten. Ich kam in einen kleinen, vollgestopften Raum im ersten Stock mit sechs Betten, einem Kl ei der schrank, zwei Kommoden und vier Stühlen, die die Nachttische ersetzten; nur in der Mitte waren ungefähr zwei Quadratmeter frei. Dünne, geblümte Vorhänge an den Fenstern, auf dem Fußboden blankes Linoleum.

Mein Bett war mit den Jahren in der Mitte zwar arg eingesunken, aber nicht unbequem, und es war mit weißen Laken und grauen Wolldecken frisch hergerichtet. Mrs. Allnut, die mich ohne zu fackeln in ihrem Haus aufnahm, war eine rundliche kleine Frohnatur mit einem Haarknoten auf dem Kopf. Sie hielt das Haus blitzsauber und achtete auch darauf, daß sich die Pfleger wuschen. Sie konnte kochen, und das Essen war einfach, aber reichlich. Alles in allem ein gutes Quartier.

Anfangs nahm ich mich sehr in acht, aber die Anpassung an die Umgebung, an die Gemeinschaft war doch leichter, als ich mir vorgestellt hatte.

Ein paarmal konnte ich mich in den ersten Tagen gerade noch bremsen, als ich einem anderen Pfleger sagen wollte, was er zu tun habe; neun Jahre alte Gewohnheiten sind zäh. Und ich war überrascht, ja ein wenig bestürzt über die unterwürfige Haltung, die alle gegenüber Inskip einnahmen, wenigstens wenn er dabei war; meine Leute zu Hause gingen mit mir viel vertraulicher um. Daß ich sie bezahlte und sie Lohn empfingen, stellte mich als Mensch nicht über sie, und das war uns auch allen klar. Aber bei Inskip und, wie ich noch feststellen sollte, überhaupt in England war wenig von dem beinah aggressiven Gleichheitsstreben Australiens zu spüren. Die Pferdepfleger schienen sich generell damit abzufinden, daß sie in der Welt niedriger eingestuft wurden als Menschen wie Inskip und October. Ich fand das würdelos, beschämend und seltsam. Aber ich behielt meine Ansicht für mich.

Wally, der es unerhört fand, wie lässig ich bei meiner Ankunft aufgetreten war, wies mich an, Inskip mit» Sir «und October mit» Mylord «anzureden; wenn ich aber ein verdammter Kommunist sei, könne ich gleich wieder abhauen — und so legte ich schleunigst den, wie er es nannte,»geziemenden «Respekt an den Tag.

Andererseits fiel es mir gerade wegen der zwanglosen Beziehung zu meinen eigenen Leuten jetzt nicht weiter schwer, Pfleger unter Pflegern zu sein. Ich spürte keine Zurückhaltung auf ihrer und — nachdem sich das Akzentproblem erledigt hatte — auch keine Befangenheit auf meiner Seite. Von daher mußte ich October recht geben: Wäre ich in England aufgewachsen und nach Eton statt nach unserem ebenso exklusiven Geelong gegangen, hätte ich mich in die Stallgemeinschaft nicht so leicht einfügen können.

Inskip teilte mir drei neu eingetroffene Pferde zu, und das war aus meiner Sicht nicht gerade ideal, denn auf die Rennbahn würde ich vorerst mit denen nicht kommen. Sie waren weder fit noch für irgendwelche Rennen genannt, und selbst wenn sie sich als brauchbar erwiesen, würde es Wochen dauern, bis sie antreten konnten. Darüber dachte ich nach, während ich ihnen Heu und Wasser brachte, ihre Boxen ausfegte und sie in der Morgenarbeit ritt.

Am zweiten Abend erschien October gegen sechs mit einer Gruppe von Gästen. Inskip, vorab informiert, hatte uns allen Beine gemacht, damit wir schneller fertig wurden, und sich durch einen vorgezogenen Kontrollgang überzeugt, daß alles in Butter war.

Jeder Pfleger stand bei demjenigen der von ihm betreuten Pferde, das dem Ausgangspunkt der Inspektion am nächsten war. October und seine Freunde, begleitet von Inskip und Wally, schritten von Box zu Box, plauderten, lachten, besprachen im Vorbeigehen die einzelnen Pferde.

Als sie zu mir kamen, warf mir October einen Blick zu und sagte:»Sie sind neu hier, was?«

«Ja, Mylord.«

Das war es dann auch schon, aber als ich das erste Pferd für die Nacht eingeschlossen hatte und weiter unten im Stall beim zweiten wartete, kam er herüber, um meinen Schützling zu streicheln und seine Beine abzutasten, und als er sich dann aufrichtete, zwinkerte er mir verschmitzt zu. Da die anderen Leute vor mir standen, bewahrte ich mit Mühe ein ernstes Gesicht. Er schneuzte sich, um nicht zu lachen. Wir waren beide in solchen Täuschungsmanövern nicht geübt.

Nach der Inspektion und dem anschließenden Abendessen mit den anderen Pflegern ging ich mit zweien von ihnen zu Fuß nach Slaw ins Gasthaus. Als wir unser erstes

Bier halb getrunken hatten, stand ich auf, spazierte hinaus und rief October an.

«Wer spricht, bitte?«erkundigte sich eine Männerstimme.

Einen Augenblick war ich ratlos, dann sagte ich:»Per-looma«, denn wenn er das hörte, würde er sofort schalten.

Er kam an den Apparat.»Probleme?«

«Nein«, sagte ich.»Werden vom Amt hier Ihre Gespräche mitgehört?«

«Gute Frage. «Er zögerte.»Wo sind Sie?«

«In Slaw, in der Telefonzelle am Ortseingang.«

«Ich habe Gäste heute abend; hat es Zeit bis morgen?«

«Ja.«

Er überlegte.»Können Sie mir sagen, um was es geht?«

«Ja. Ich brauche die gesammelten Rennberichte der letzten sieben oder acht Jahre und alles, was Sie an Informationen über die elf… Betroffenen beibringen können.«

«Wonach suchen Sie?«

«Das weiß ich noch nicht«, sagte ich.

«Brauchen Sie sonst noch was?«

«Ja, aber das geht nicht am Telefon.«

Er überlegte.»Hinter den Stallungen ist ein Bach, der aus dem Moor kommt. Laufen Sie morgen nach dem Mittagessen ein Stück da hinauf.«

«Gut. «Ich hängte ein und kehrte in die Kneipe zu meinem Bier zurück.

«Du warst aber lange weg«, sagte Paddy, einer der beiden Pfleger, mit denen ich dort war.»Wir sind schon eins weiter. Hast du die Wandsprüche auf dem Klo studiert, oder was?«

«Da stehen ein paar Sachen«, meinte der andere, ein schlaksiger Achtzehnjähriger,»aus denen ich nicht schlau werde.«

«Das schadet nichts«, versicherte ihm Paddy. Mit seinen vierzig Jahren vertrat er bei vielen der jüngeren Pfleger die Vaterstelle.

Sie schliefen links und rechts von mir, Paddy und Grits, in unserem kleinen Schlafsaal. Paddy, blitzgescheit im Gegensatz zu Grits, war ein zäher kleiner Ire mit Augen, denen nichts entging. Von dem Moment an, als ich meinen Koffer auf das Bett geworfen und unter seinem neugierigen Blick meine Schlafsachen ausgepackt hatte, war ich froh gewesen, daß October darauf bestanden hatte, mich völlig neu einzukleiden.

«Trinken wir noch ein Glas?«

«Na gut«, stimmte Paddy zu.»Eins kann ich mir wohl gerade noch leisten.«

Ich ging mit den Gläsern zur Theke und holte Nachschub; Paddy und Grits kramten in ihren Taschen, wurden fündig und gaben mir jeder elf Pence zurück. Das starke, bittere Bier schien mir die sieben Kilometer Fußweg nicht wert zu sein, aber viele von den Pflegern hatten Fahrräder oder klapprige Autos und kamen mehrmals die Woche hierher.

«Heute abend tut sich nichts«, brummelte Grits. Sein Gesicht hellte sich auf.»Morgen ist Zahltag.«

«Da wird die Bude voll«, stimmte Paddy bei.»Soupy und die Grangerleute und das ganze Volk.«

«Die Grangerleute?«fragte ich.

«Du weißt aber auch gar nichts«, meinte Grits ein wenig herablassend.»Die Leute von Grangers Stall, auf der anderen Seite vom Berg.«»Kommst du denn vom Mond?«fragte Paddy.

«Er ist ja neu im Rennsport«, verteidigte mich Grits.

«Na, trotzdem!«Paddy trank über den Mittelstrich weg und wischte sich den Mund mit dem Handrücken.

Grits trank aus und seufzte.»Das wär’s. Ich glaub, dann sollten wir mal wieder.«

Auf dem Rückweg zum Stall unterhielten wir uns wie immer über Pferde.

Am nächsten Nachmittag verließ ich unauffällig den Hof und schlenderte am Bach entlang, wobei ich hin und wieder einen Stein nahm und ihn hineinwarf, als sähe ich gern, wie das Wasser aufspritzte. Ein paar Pfleger spielten auf der Koppel hinterm Hof Fußball, aber sie achteten nicht auf mich. Ein ganzes Stück bergauf, wo der Bach durch eine tiefe, grasbewachsene Rinne lief, stieß ich auf October, der, eine Zigarette rauchend, auf einem Stein saß. Er hatte einen Jagdhund, einen schwarzen Retriever, bei sich und eine Flinte und eine volle Jagdtasche vor sich liegen.

«Dr. Livingstone, nehme ich an«, sagte er lächelnd.

«Ganz recht, Mr. Stanley. Wie haben Sie das erraten?«

Ich setzte mich auf den nächsten Stein.

Er tippte mit dem Fuß an die Jagdtasche.»Da sind die Rennberichte drin und ein Notizbuch mit allem, was Beckett und ich an Fakten über die elf Pferde in so kurzer Zeit zusammengekriegt haben. Aber da nützen Ihnen die Berichte in den Akten, die Sie gesehen haben, doch sicher mehr.«

«Alles kann nützlich sein… das weiß man nie. In Stapletons Kuvert war auch ein interessanter Ausschnitt. Ein Artikel über bekannte Dopingfälle. Da stand, daß be-stimmte Pferde einfach durch chemische Veränderungen in ihrem Körper harmlose Nahrung in etwas umsetzen, das beim Dopingtest positiv anschlägt. Funktioniert das vielleicht auch umgekehrt? Ich meine, könnte es sein, daß manche Pferde ein Dopingmittel in harmlose Stoffe aufspalten, so daß bei den Kontrollen nichts festzustellen ist?«

«Ich kümmere mich darum.«

«Etwas anderes noch«, sagte ich.»Ich bin drei von den Kleppern zugeteilt worden, um die Sie Ihren Stall bereichert haben, das heißt, ich komme auf keine Rennbahn. Aber wenn Sie einen davon vielleicht wieder verkaufen, hätte ich Gelegenheit, bei der Auktion mit Leuten von anderen Ställen zusammenzukommen. Da hier noch drei andere Pfleger je drei Pferde betreuen, wäre ich nicht gleich überflüssig, und vielleicht bekäme ich dann ein renntaugliches Pferd anvertraut.«

«Ich verkaufe eins«, sagte er,»aber bis es zur Versteigerung kommt, das dauert. Der Antrag muß fast einen Monat vor dem Verkaufstermin beim Auktionator sein.«

Ich nickte.»Es ist zum Verzweifeln. Wenn ich bloß wüßte, wie ich an ein Pferd komme, das demnächst läuft. Am besten noch auf einer weit entfernten Rennbahn, denn mit Zwischenstation wäre es ideal.«

«Pfleger bekommen nicht einfach neue Pferde«, sagte er und rieb sich das Kinn.

«Ich weiß. Das ist Glückssache. Man kriegt sie, wenn sie kommen, und behält sie, bis sie gehen. Taugen sie nichts, hat man Pech gehabt.«

Wir standen auf. Der Retriever, der, die Schnauze auf den Pfoten, die ganze Zeit still dagelegen hatte, kam ebenfalls hoch, streckte sich, wedelte mit dem Schwanz und sah seinen Herrn vertrauensvoll an. October bückte sich, gab dem Hund einen zärtlichen Klaps und hob die Flinte auf. Ich nahm die Jagdtasche und hängte sie mir um.

Wir gaben uns die Hand, und October sagte lächelnd:

«Es interessiert Sie vielleicht, daß Inskip der Meinung ist, Sie reiten ungewöhnlich gut für einen Pfleger. Wörtlich sagte er, daß er Leuten von Ihrem Aussehen eigentlich nicht traut, aber Sie hätten Hände wie ein Engel. Passen Sie lieber auf.«

«Verflucht«, sagte ich.»Daran habe ich gar nicht gedacht.«

Er grinste und ging den Berg hinauf, während ich mich wieder bachabwärts wandte und wenig Grund zum Grinsen fand. So lustig es sein mochte, im Wolfspelz herumzulaufen — wenn ich jetzt auch noch meine Reitkünste verstecken mußte, ging das an meinen Stolz.

Die Kneipe in Slaw hatte Hochbetrieb an diesem Abend, und die Lohntüten wurden geplündert. Etwa die Hälfte von Octobers Leuten waren dort — einer hatte mich im Auto mitgenommen — und auch ein Teil der Grangerleute, einschließlich dreier Mädels, die eine Menge Zweideutigkeiten zu hören bekamen und ihren Spaß daran hatten. Hauptsächlich aber wurde immer wieder gutmütig damit geprahlt, daß die eigenen Pferde besser seien als alle anderen.

«Mein Gaul gewinnt am Mittwoch sonnenklar.«

«Klarer Fall von denkste.«

«Du mit deinem Walroß mußt doch ganz still sein.«

«Das war der Jockey, Mann, der hat den Start versaut.«

«… fett für zwei und störrisch wie ein Esel.«

Die Sprüche flogen hin und her, während die Luft stickig wurde vom Zigarettenrauch und von zu vielen Leuten auf zu engem Raum. In einer Ecke lief ein Dartspiel zwischen schlecht zielenden Gegnern, in einer anderen klackten Billardkugeln. Ich lümmelte mich auf einen Stuhl, den Arm über die Lehne gehängt, und sah Paddy und einem von Grangers Leuten bei einer scharfen Runde Domino zu. Pferde, Autos, Fußball, Boxen, Kino, das letzte Tanzfest und wieder Pferde, immer wieder Pferde. Ich hörte mir das alles an und kam lediglich zu der Überzeugung, daß die meisten hier mit ihrem Leben zufrieden, daß sie gutmütig, aufmerksam und harmlos waren.

«Du bist neu hier, was?«sagte eine herausfordernde Stimme in mein Ohr.

Ich drehte den Kopf und sah zu dem Mann hoch.»Ja«, sagte ich träge.

Seine Augen waren die ersten in Yorkshire, in denen ich etwas von der Falschheit entdecken konnte, nach der ich suchte. Ich gab ihm seinen Blick zurück, bis seine Lippen sich in der Erkenntnis kräuselten, daß ich einer von seiner Sorte sei.

«Wie heißt du?«

«Dan«, antwortete ich,»und du?«

«Thomas Nathaniel Tarleton. «Er wartete auf irgendeine Reaktion, bloß ahnte ich nicht, auf welche.

«T.N.T.«, sagte Paddy entgegenkommend und sah von seinen Steinen auf.»Soupy. «Sein rascher Blick streifte uns beide.

«Hochexplosiv, der Herr«, murmelte ich.

Soupy Tarleton zeigte ein kleines raubtierhaftes Lächeln, wohl um mich zu beeindrucken. Er war ungefähr in meinem Alter, aber ein heller Typ, mit der rötlichen Gesichtsfarbe, die mir bei so vielen Engländern schon aufgefallen war. Seine hellbraunen Augen standen ein wenig vor, und ein schmaler Oberlippenbart zierte den wulstigen, feucht aussehenden Mund. Am rechten kleinen Finger trug er einen schweren Goldring, am linken Handgelenk eine teure goldene Uhr. Seine Kleidung war aus gutem Tuch, sehr modisch, und die wunderschöne, mit Webpelz gefütterte Steppjacke, die er über dem Arm trug, mußte ihn drei Wochenlöhne gekostet haben.

Er machte keine Anstalten, sich mit mir anzufreunden. Nachdem er mich so eingehend gemustert hatte wie ich ihn, nickte er lediglich, sagte:»Bis dann «und schob ab, um beim Billard zuzusehen.

Grits kam mit einem kleinen Bier von der Theke und setzte sich neben Paddy auf die Bank.

«Soupy darfst du nicht trauen«, erklärte er mir freundlich, nichts als Güte in dem grobknochigen, unintelligenten Gesicht.

Paddy legte eine doppelte Drei an, drehte sich zu uns um und warf mir einen langen, prüfenden Blick zu.

«Um Dan brauchst du dir keine Gedanken zu machen, Grits«, sagte er.»Der ist wie Soupy. Die passen gut zusammen. Gleich und gleich gesellt sich gern, das weißt du.«

«Aber du hast doch gesagt, ich soll Soupy nicht trauen«, wandte Grits ein und sah beunruhigt von einem zum anderen.

«Ganz recht«, meinte Paddy nur. Er legte eine Drei-Vier an und konzentrierte sich aufs Domino.

Grits rückte ein Stück näher an Paddy heran und warf mir einen wirren, verlegenen Blick zu. Dann hatte er plötzlich nur noch Augen für sein Bierglas und sah mich nicht mehr an.

Genau das war der Moment, glaube ich, wo aus dem Spiel für mich Ernst wurde. Ich mochte Paddy und Grits, und drei Tage lang hatten sie mich ohne weiteres akzeptiert. Jetzt sah Paddy mich als jemanden, der Fäden in Richtung Soupy spann, und hatte sich konsequent von mir abgewandt. Ich hätte darauf gefaßt sein müssen, aber es traf mich, und es war ein Vorgeschmack dessen, was kommen sollte.

Colonel Becketts Stabsarbeit blieb weiterhin erstklassig. Nachdem wir einmal die Offensive ergriffen hatten, zögerte er nicht, den Angriff massiv zu unterstützen; sobald er also von October erfuhr, daß ich mit drei unnützen Pferden im Stall festsaß, traf er Anstalten zu meiner Befreiung.

Am Dienstag nachmittag — ich war seit einer Woche dort

— hielt mich Wally, der Futtermeister, an, als ich mit zwei Eimern Wasser über den Hof kam.

«Dein Pferd in der 17 wird morgen abgeholt«, sagte er.

«Du mußt dich also bis Mittag dranhalten, ihr fahrt um halb eins. Das Pferd kommt in einen Rennstall bei Nottingham. Ihr ladet es aus und bringt dafür ein neues mit. Okay?«

«Okay«, sagte ich. Wally wahrte Distanz zu mir; doch übers Wochenende hatte ich mich damit abgefunden, daß ich nun mal ein gewisses Mißtrauen erregen mußte, auch wenn es mir gegen den Strich ging.

Fast den ganzen Sonntag über hatte ich die Rennberichte studiert, für die anderen im Haus eine ganz normale Beschäftigung, und als am Abend alle in die Kneipe zogen, machte ich mich mit dem Bleistift konzentriert an die Arbeit und nahm die elf Pferde und ihre forcierten Siege unter die Lupe. Richtig war, wie ich den Zeitungsausschnitten in London schon entnommen hatte, daß zu jedem Pferd ein anderer Besitzer, Trainer und Jockey gehörte, doch traf es nicht zu, daß sie überhaupt nichts gemeinsam gehabt hätten. Als ich den Umschlag mit meinen Aufzeichnungen zuklebte und ihn zusammen mit Octobers Notizbuch unter ein paar Rennberichtsjahrgängen in der Jagdtasche verstaute, weg von den neugierigen Blicken der angeheiterten Heimkehrer, war ich im Besitz von immerhin vier, wenn auch wenig hilfreichen Übereinstimmungen.

Erstens hatten alle Pferde Verkaufsrennen gewonnen — Rennen, nach denen der Sieger zur Versteigerung kommt. Drei Pferde waren dabei von ihren Besitzern zurückersteigert, die übrigen zu mäßigen Preisen verkauft worden.

Zweitens hatten alle Pferde in ihrer Rennlaufbahn bewiesen, daß sie im Feld gut aussehen konnten, nur beim Finish hatte es ihnen entweder an Kraft oder an Mut gefehlt.

Drittens hatte keines von ihnen je ein Rennen gewonnen außer demjenigen, für das es gedopt worden war, wenngleich sich alle hin und wieder hatten plazieren können.

Viertens, keines von ihnen hatte bei einer Quote unter 110 zu 10 gesiegt.

Octobers Notizen wie auch den Rennberichten entnahm ich, daß einige der Pferde mehr als einmal den Trainer gewechselt hatten, aber bei so mäßigen, erfolglosen Tieren war das nicht anders zu erwarten. Ebensowenig half mir die Information, daß die Pferde alle von verschiedenen Vätern und aus verschiedenen Müttern stammten, daß ihr Alter zwischen fünf und elf Jahren lag, daß sie nicht alle von einer Farbe waren. Sie hatten auch nicht alle auf der gleichen Rennbahn gesiegt, allerdings nun auch nicht alle auf verschiedenen; nach der ungefähren Vorstellung in meinem Kopf lagen die fraglichen Bahnen alle im Norden Englands — Kelso, Haydock, Sedgefield, Stafford und Ludlow. Ich wollte mir das auf einer Karte ansehen, aber im Hause Allnut gab es keine.

Ich ging zu Bett in dem überfüllten kleinen Schlafsaal, wo die Bierfahnen der Pferdepfleger alsbald den vertrauten Geruch nach Schuhcreme und Haar öl verdrängten, doch mein Vorschlag, das kleine Schiebefenster etwas mehr als nur zehn Zentimeter zu öffnen, wurde glatt abgelehnt. Anscheinend richteten sich die Jungs alle nach Paddy, dem Aufgewecktesten am Ort, und wenn Paddy mir nicht grün war, waren sie es auch nicht. Hätte ich unter diesen Umständen verlangt, das Fenster ganz zu schließen, wäre es wahrscheinlich weit aufgestoßen worden, und ich hätte frische Luft genug bekommen. Ich lächelte schief im Dunkeln, lauschte den knarrenden Sprungfedern, den schläfrigen, kichernden Stimmen, die noch einmal die Sprüche des Abends durchgingen, und während ich mich herumwälzte, um eine angenehme Lage auf der verbeulten Matratze zu finden, mußte ich an die Leute in meiner Schlafbaracke daheim denken und fragte mich, wie eigentlich für sie das Leben aussah.

Mittwoch früh bekam ich einen Vorgeschmack vom schneidenden Yorkshire-Wind, und während wir mit eisigen Händen und laufenden Nasen herumsausten, versicherte mir einer von den Jungs vergnügt, der Wind könne sechs Monate am Stück so blasen. Ich versorgte meine drei Pferde im Eiltempo, aber als der Transporter mich und eines von ihnen um halb eins abholte, dachte ich angesichts meiner dürftigen Garderobe nur noch, daß Octobers großes, viereckiges Haus oben an der Auffahrt über eine sehr gute Zentralheizung verfügen müsse.

Nach sechs oder sieben Kilometern drückte ich auf die Klingel, die in den meisten Pferdetransportern Laderaum und Fahrerhaus verbindet. Der Fahrer hielt auch prompt und sah mich fragend an, als ich neben ihm einstieg.

«Das Pferd ist ruhig«, sagte ich,»und hier hab ich’s wärmer.«

Er grinste, fuhr wieder an und brüllte fast, um den Lärm des Motors zu übertönen.»Dacht’ ich doch gleich, daß du nicht alles so genau nimmst. Das Pferd wird verkauft und soll in gutem Zustand ankommen… den Chef würd’s umhauen, wenn er wüßte, daß du vorne sitzt.«

Ich war mir ziemlich sicher, daß der Chef, also Inskip, sich darüber keineswegs gewundert hätte; nach mir selbst zu urteilen, waren Vorgesetzte nicht so naiv.

«Der Chef kann mich mal«, gab ich zurück.

Dafür sah er mich schräg an, und ich dachte bei mir, daß es doch recht einfach war, sich einen schlechten Ruf zu verschaffen, wenn man es darauf anlegte. Pferdetransportfahrer kamen scharenweise zu den Rennen und hatten, wenn sie erst mal dort waren, nichts zu tun. Sie konnten in der Kantine schwätzen, den ganzen Nachmittag konnten sie umherlaufen und reden. Dabei würde sich schnell genug herumsprechen, daß es unter Inskips Leuten offenbar ein schwarzes Schaf gab.

Wir machten halt, um in einem Fernfahrercafe etwas zu essen, und ein Stück weiter dann noch einmal, damit ich mir zwei Wollhemden, einen schwarzen Pullover, dicke Socken, Wollhandschuhe und eine Strickmütze kaufen konnte, wie die anderen Pfleger sie an diesem kalten Morgen getragen hatten. Der Fahrer, der mitgekommen war, um sich ein Paar Socken zu kaufen, sah auf mein Zeug und meinte, ich hätte wohl ganz schön Geld. Ich grinste bedeutungsvoll und sagte, man müsse eben wissen, wo es zu holen sei, worauf er sichtlich noch mehr an mir zweifelte.

Mitte des Nachmittags rollten wir in den Hof eines Rennstalls in Leicestershire, und hier zeigte sich, wie hervorragend Becketts Stabsarbeit war. Das Pferd, das ich mit zurücknehmen und fortan betreuen sollte, war ein fähiger

Hürdler, der, in Jagdrennen noch sieglos, am Anfang seiner Karriere als Steepler stand, und er war mit sämtlichen Nennungen an Colonel Beckett gegangen. Wie ich von seinem bisherigen Pfleger, der ihn mir mit saurer Miene übergab, erfuhr, konnte er also in allen Rennen starten, für die sein Vorbesitzer ihn gemeldet hatte.

«Und wo wäre das?«fragte ich.

«Ach, der kommt rum — Newbury, Cheltenham, San-down und so weiter, und nächste Woche soll er in Bristol ran. «Traurig gab der Pfleger mir das Strickhalfter in die Hand.»Mir ist schleierhaft, wieso der Alte sich auf einmal von ihm trennt. Das ist ein Prachtkerl, und wenn er jemals auf der Rennbahn nicht so gut und so gepflegt aussieht wie jetzt, bekommst du es mit mir zu tun, verlaß dich drauf.«

Ich hatte schon festgestellt, wie sehr im Rennsport die Pfleger an ihren Pferden hingen, und ich glaubte dem Mann aufs Wort.

«Wie heißt er denn?«fragte ich.

«Sparking Plug… Gemein, den so zu nennen… He, Sparks, alter Freund… hm, mein Alter… he, Alter…«

Liebevoll streichelte er die Nase des Pferdes.

Wir luden ihn in den Transporter, und diesmal blieb ich hinten, wo ich hingehörte, um auf ihn aufzupassen. Wenn Beckett sich das Unternehmen ein Vermögen kosten ließ — denn billig kam man an ein so ideales Pferd nicht innerhalb von Tagen —, dann sollte das Vermögen auch in guten Händen sein.

Ehe wir zurückfuhren, warf ich einen Blick auf die Straßenkarte im Fahrerhaus und sah zu meiner Freude, daß alle Rennbahnen im Land darauf mit Tusche markiert waren. Ich lieh sie mir sofort aus und studierte sie während der Fahrt. Die Bahnen, für die Sparking Plug laut seinem

Pfleger genannt war, lagen fast alle im Süden. Fahrten mit Übernachtung, wie gewünscht. Ich grinste.

Die fünf Rennbahnen, auf denen die elf Pferde gesiegt hatten, lagen jedoch nicht alle so weit nördlich, wie ich angenommen hatte. Ludlow und Stafford konnte man noch beinah zum Süden rechnen, zumal ich bei meinem Englandbild unwillkürlich von Harrogate ausging. Auf der Karte schienen die fünf Bahnen in keiner Beziehung zueinander zu stehen: Weit davon entfernt, einen säuberlichen Kreis zu bilden, aus dem sich ein Mittelpunkt hätte ableiten lassen, waren sie mehr oder weniger in einem Bogen von Nordosten nach Südwesten angeordnet, und ihre Lage sagte mir nichts.

Den Rest der Rückfahrt verbrachte ich — wie überhaupt den größten Teil meiner Arbeitszeit — damit, daß ich mir alles, was ich von den elf Pferden wußte, durch den Kopf gehen ließ und auf eine Eingebung wartete wie ein Angler auf den Fisch, als müßten sich all die unzusammenhängenden Fakten plötzlich zu einem schlüssigen Gesamtbild fügen. Aber eigentlich rechnete ich noch nicht damit, denn ich hatte ja kaum angefangen, und selbst elektronische Gehirne finden erst Lösungen, wenn man sie ausreichend mit Daten füttert.

Am Freitag abend besuchte ich wieder die Kneipe in Slaw und schlug Soupy beim Dartspiel. Er stöhnte, wies auf den Billardtisch und rächte sich umgehend. Dann tranken wir ein Bier zusammen und glotzten uns an. Wir machten wenig Worte und brauchten auch keine; bald stand ich wieder auf, um den Dartspielern zuzusehen. Sie waren so schlecht wie in der Woche zuvor.

«Du hast Soupy geschlagen, was, Dan?«

Ich nickte, und schon bekam ich ein paar Pfeile in die Hand gedrückt.

«Wenn du Soupy schlägst, gehörst du in die Mannschaft.«

«Welche Mannschaft?«

«Die vom Stall. Wir spielen gegen andere Ställe und haben so was wie eine Yorkshire-Liga. Manchmal fahren wir nach Middleham, Wetherby oder Richmond, manchmal kommen die anderen her. Soupy ist der Beste im Granger-team. Meinst du, du packst ihn noch mal, oder war das Glück?«

Ich warf drei Darts. Alle gingen in die Zwanzig. Aus einem unerfindlichen Grund hatte ich schon immer gut zielen können.

«Gott«, riefen die Jungs.»Weiter.«

Ich warf noch drei: In der Zwanzig wurde es ziemlich voll.

«Du bist in der Mannschaft«, sagten sie.»Himmel noch mal.«

«Wann ist das nächste Match?«fragte ich.

«Hier war vor vierzehn Tagen eins. Das nächste ist kommenden Sonntag in Burndale, nach dem Fußballspiel. Kannst du mit einem Ball zufällig auch so umgehen?«

«Bedaure.«

Ich schaute auf den letzten Pfeil in meiner Hand. Ich konnte mit einem Stein eine Ratte im Lauf treffen; das war mir oft genug gelungen, wenn meine Leute zwischen den Futterkisten eine entdeckt und sie herausgescheucht hatten. Wieviel einfacher mußte es sein, ein galoppierendes Pferd — eine weit größere Zielscheibe — mit einem Pfeil zu treffen.

«Wirf den ins Zentrum«, drängte der Pfleger neben mir.

Ich setzte ihn ins Zentrum. Die Jungs jubelten.

«Diesmal gewinnen wir die Meisterschaft«, meinten sie grinsend. Grits grinste auch. Nur Paddy nicht.

Загрузка...