Kapitel 13

Elinors College lag in einer Allee neben anderen kompakten Bildungsstätten. Es hatte einen imposanten Vordereingang und eine weniger imposante, geteerte Einfahrt auf der rechten Seite. Ich nahm die Einfahrt und stellte mein Motorrad neben eine lange Reihe von Fahrrädern. Hinter den Rädern standen sechs oder sieben PKWs, darunter der kleine rote Zweisitzer von Elinor.

Zwei Stufen führten zu einer massiven Eichentür hinauf, an der das Wort» Studenten «prangte. Ich trat ein. Rechts an einem Pförtnertisch saß ein traurig aussehender Mann mittleren Alters, der auf eine Liste schaute.

«Entschuldigen Sie«, sagte ich.»Können Sie mir sagen, wo ich Lady Elinor Tarren finde?«

Er blickte auf und sagte:»Sind Sie zu Besuch? Werden Sie erwartet?«

«Ja«, sagte ich.

Er fragte nach meinem Namen und fuhr mit dem Finger die Liste entlang.»Daniel Roke für Miss Tarren, bitte hinaufführen. Ja, stimmt. Dann wollen wir mal. «Er stand auf, kam um seinen Schreibtisch herum und führte mich schwer atmend ins Gebäudeinnere.

Die Korridore waren so verschlungen, daß ein Führer durchaus zweckmäßig erschien. An den zahllosen Zimmertüren steckten in kleinen Metallrahmen Kärtchen mit den Namen der Bewohnerinnen oder mit Funktionsbezeichnungen. Nachdem wir zwei Stockwerke hinaufgestiegen und noch um ein paar Ecken gegangen waren, blieb der Pförtner vor einer der besagten Türen stehen.

«Bitte sehr«, sagte er mit unbeteiligter Stimme.»Hier wohnt Miss Tarren. «Er drehte sich um und stapfte zu seinem Posten zurück.

Auf dem Kärtchen an der Tür stand MISS E. C. TARREN. Ich klopfte an. Miss E. C. Tarren öffnete.

«Kommen Sie rein«, sagte sie. Kein Lächeln.

Ich trat ein. Sie schloß die Tür hinter mir. Ich blieb stehen und sah mir das Zimmer an. Ich war so an die ungemütliche Unterkunft bei Humber gewöhnt, daß ich mich auf einen Raum mit Vorhängen, Teppich, Polsterstühlen, Kissen und Blumen erst wieder einstellen mußte. Blau-und Grüntöne in verschiedenen Abstufungen herrschten vor, und eine Schale mit Osterglocken und roten Tulpen hob sich davon ab.

Ein großer Schreibtisch, auf dem Bücher und Papiere herumlagen; ein Bücherregal, ein Bett mit blauer Tagesdek-ke, ein Kl ei der schrank, ein großer Einbauschrank und zwei Sessel. Hier konnte man sich wohl fühlen. Vor allem gut arbeiten. Hätte ich mich meinen Gedanken überlassen, wäre ich sicher neidisch geworden: Der Tod meiner Eltern hatte mich um genau dies betrogen — die Zeit und die Möglichkeit zu studieren.

«Bitte nehmen Sie Platz. «Sie wies auf einen der Sessel.

«Danke. «Ich setzte mich, und sie nahm den Sessel mir gegenüber, sah mich aber nicht an. Ernst blickte sie zu Boden, und ich fragte mich bedrückt, ob sie mir von October nur wieder Unerfreuliches auszurichten hatte.

«Ich habe Sie hergebeten«, begann sie.»Ich habe Sie hergebeten, weil…«Sie unterbrach sich, stand plötzlich auf, trat hinter mich und versuchte es noch einmal.

«Ich habe Sie hergebeten«, sagte sie zu meinem Hinterkopf,»weil ich mich bei Ihnen entschuldigen muß, und das fällt mir nicht gerade leicht.«

«Entschuldigen?«fragte ich verblüfft.»Wofür denn?«

«Für meine Schwester.«

Ich stand auf und wandte mich zu ihr.»Bitte nicht«, sagte ich heftig. In den vergangenen Wochen war ich derart gedemütigt worden, daß mir nichts daran lag, jemand anderen gedemütigt zu sehen.

Sie schüttelte den Kopf.»Ich glaube«, sie schluckte,»ich glaube, daß meine Familie Sie sehr schlecht behandelt hat.«

Das silberblonde Haar schimmerte wie ein Heiligenschein in dem fahlen, durchs Fenster einfallenden Licht. Sie trug ein ärmelloses dunkelgrünes Kleid mit einem knallroten Pulli darunter. Starke Farben, starke Wirkung, und wenn ich sie weiter so ansah, wurde für sie alles noch schwieriger. Ich setzte mich wieder in den Sessel und sagte einigermaßen erleichtert, da sie mir offenbar doch keine Ohrfeige von October zu übermitteln hatte:»Bitte machen Sie sich darüber keine Gedanken.«

«Was denn sonst?«rief sie aus.»Ich wußte doch, weshalb Sie entlassen worden waren, und ich habe Vater mehr als einmal gesagt, er hätte Sie hinter Gitter bringen sollen, und jetzt erfahre ich, daß das alles gar nicht stimmt. Wie soll ich mir keine Gedanken machen, wenn alle meinen, Sie hätten sich einen bösen Übergriff erlaubt, und überhaupt nichts Wahres daran ist?«

Ihre Stimme war voller Anteilnahme. Es störte sie wirklich, daß jemand aus ihrer Familie sich so unfair verhalten hatte. Und es plagte ihr Gewissen, weil sie Pattys Schwester war. Ein sympathischer Zug — aber ich kannte sie ja schon als überaus nette Person.

«Woher wissen Sie das?«fragte ich.

«Patty hat es mir voriges Wochenende erzählt. Wir hatten mal wieder alles mögliche durchgehechelt. Von Ihnen wollte sie sonst nie reden, aber diesmal hat sie gelacht und mir alles einfach so erzählt, als wäre es nicht mehr wichtig. Ich weiß natürlich, daß sie, na ja, Erfahrung mit Männern hat. So ist sie nun mal. Aber das… da war ich doch geschockt. Ich konnte es erst gar nicht glauben.«

«Was hat sie Ihnen denn erzählt?«

Hinter mir war es still, dann kam ihre Stimme etwas zitternd wieder.»Sie sagte, sie habe Sie verführen wollen, aber Sie seien nicht darauf eingegangen. Sie habe sich Ihnen nackt gezeigt, und Sie hätten bloß gesagt, sie solle sich wieder anziehen. Sie habe eine solche Wut gehabt, daß sie den ganzen nächsten Tag überlegt habe, wie sie Ihnen das heimzahlen könne, und am Sonntag morgen sei sie dann in Tränen aufgelöst zu Vater gelaufen…«

«Na ja«, sagte ich gutgelaunt,»so kommt das den Tatsachen schon etwas näher. «Ich lachte.

«Das ist nicht komisch«, wandte sie ein.

«Nein. Ich bin nur erleichtert.«

Sie kam um den Sessel herum, setzte sich mir wieder gegenüber und sah mich an.»Es hat Sie also doch getroffen?«

Offenbar stand es in meinem Gesicht zu lesen.»Ja.«

«Ich habe Vater gesagt, daß sie gelogen hat. Sonst hatte ich ihm von ihren Liebschaften nie erzählt, aber das war etwas anderes… Jedenfalls weiß er seit Samstag mittag Bescheid. «Sie unterbrach sich, zögerte. Ich wartete. Und sie sprach weiter:»Es war schon seltsam. Als ob er gar nicht überrascht sei. Er fiel nicht wie ich aus allen Wolken. Er wirkte nur plötzlich sehr müde, als hätte er eine schlechte Nachricht erhalten. Als wäre nach langer Krankheit ein Freund gestorben, so eine Traurigkeit war das. Konnte ich mir nicht erklären. Und als ich sagte, der Gerechtigkeit halber müsse man Ihnen selbstverständlich Ihre Stelle wieder anbieten, war er strikt dagegen. Ich habe ihm zugeredet, aber er ist eisern. Er will auch Inskip nichts davon sagen, daß Sie zu Unrecht entlassen worden sind, und ich mußte ihm versprechen, daß ich weder Inskip noch sonst jemandem erzähle, was Patty mir gesagt hat. Das ist so unfair«, fuhr sie auf,»und ich fand, wenn es schon sonst keiner wissen darf, sollen wenigstens Sie es wissen. Auch wenn Sie nicht viel davon haben, daß mein Vater und ich jetzt die Wahrheit kennen, wollte ich Ihnen einfach sagen, daß es mir sehr, sehr leid tut, was meine Schwester getan hat.«

Ich lächelte sie an. Es fiel mir nicht schwer. Ihr Haar und ihr Teint waren so blendend schön, da spielte es keine Rolle, daß ihre Nase nicht ganz gerade war. In den ehrlichen grauen Augen lag tiefes Bedauern, und ich wußte, daß sie Pattys Fehlverhalten um so schwerer nahm, als sie dachte, der Leidtragende sei ein Pferdepfleger, der sich in solchen Dingen nicht wehren könne. Auch deshalb war eine Antwort schwierig.

Mir war natürlich klar, daß October, selbst wenn er es wider Erwarten gewollt hätte, mich nicht für unschuldig erklären und von jedem Verdacht freisprechen konnte, ohne Gefahr zu laufen, daß Humber davon erfuhr, und nichts hätte uns weniger ins Konzept gepaßt, als wenn er mir die Stelle bei Inskip wieder hätte antragen müssen. Kein Mensch, der zu Inskip gehen konnte, wäre bei Humber geblieben.

«Wenn Sie wüßten«, sagte ich langsam,»wie sehr ich mir gewünscht habe, Ihr Vater würde mir glauben, daß ich Ihre Schwester nicht angerührt habe, dann würden Sie verstehen, daß mir das, was Sie gerade gesagt haben, zehnmal wichtiger ist, als wo ich arbeite. Ich kann Ihren Vater gut leiden. Ich achte ihn. Und er hat ganz recht. Er kann mich nicht wieder einstellen, weil er damit quasi öffentlich zugeben würde, daß seine Tochter zumindest eine Lügnerin ist, wenn nicht gar Schlimmeres. Das können Sie nicht von ihm verlangen, nicht von ihm erwarten. Ich tue es auch nicht. Am besten läßt man alles, wie es ist.«

Sie sah mich eine Weile schweigend an. Ich meinte, Erleichterung in ihrem Gesicht zu sehen, auch Verwunderung und schließlich Verwirrung.

«Wollen Sie denn gar keine Wiedergutmachung?«

«Nein.«

«Ich verstehe Sie nicht.«

«Hören Sie«, sagte ich und stand auf, um mich ihren neugierigen Blicken zu entziehen,»so ganz schuldlos bin ich auch nicht. Ich habe Ihre Schwester geküßt. Ich habe sie wohl auch erst mal ermutigt. Dann habe ich mich geschämt und einen Rückzieher gemacht, wenn Sie die Wahrheit wissen wollen. Es war nicht allein ihr Fehler. Ich habe schon Mist gebaut. Machen Sie sich also meinetwegen bitte keinen Kopf. «Ich blieb am Fenster stehen und sah hinaus.

«Für Morde, die man bleiben läßt, sollte man nicht gehängt werden«, meinte sie trocken.»Sie sind sehr großzügig, und damit habe ich nicht gerechnet.«

«Dann hätten Sie mich nicht herbitten dürfen«, sagte ich nachdenklich.»Dafür war das Risiko zu groß.«

«Was für ein Risiko?«

«Daß ich Stunk machen, die Familie bloßstellen, den Ruf der Tarrens beflecken würde. Körbe voll schmutziger Wäsche für die Sonntagszeitungen, schwerer Gesichtsverlust für Ihren Vater gegenüber seinen Geschäftsfreunden.«

Sie sah mich erschrocken, aber auch entschlossen an.

«Trotzdem — Ihnen war Unrecht geschehen, und das mußte ins reine gebracht werden.«

«Ohne Rücksicht auf Verluste?«

«Ohne Rücksicht auf Verluste«, wiederholte sie leise.

Ich lächelte. Eine Frau ganz nach meinem Herzen. Auch ich hatte mich um Verluste wenig geschert.

«Gut«, sagte ich zögernd,»dann will ich Sie nicht länger stören. Es hat mich sehr gefreut. Sicher war es alles andere als einfach für Sie, sich zu dem Gespräch zu entschließen, und ich bin Ihnen dafür dankbarer, als ich sagen kann.«

Sie sah auf die Uhr und zögerte ebenfalls.»Es ist zwar nicht gerade die Zeit dafür, aber möchten Sie einen Kaffee? Ich meine, Sie sind so weit gefahren…«

«Gern«, sagte ich.

«Gut… setzen Sie sich, ich mache uns einen.«

Ich setzte mich wieder. Sie öffnete den Einbauschrank, der auf einer Seite ein Waschbecken mit Spiegel, auf der anderen einen Gasbrenner und ein Geschirrbord enthielt. Mit eleganten, sparsamen Bewegungen setzte sie Wasser auf und stellte Kaffeegeschirr auf den niedrigen Tisch zwischen den beiden Sesseln. Unbefangen, dachte ich. Selbstbewußt genug, um an einem Ort, wo Denkvermögen über Herkunft ging, ihren Titel beiseite zu lassen. Selbstbewußt genug, um einen Mann von meinem Aussehen auf ihr Zimmer kommen zu lassen und ihm ohne Not, rein aus Höflichkeit, einen Kaffee anzubieten.

Ich fragte sie, was sie studiere, und sie sagte, Englisch. Sie holte Milch, Zucker und Kekse.

«Darf ich mir Ihre Bücher ansehen?«fragte ich.

«Bitte«, sagte sie freundlich.

Ich stand auf und trat vor das Regal. Sie hatte philologische Lehrbücher — Altisländisch, Angelsächsisch, Mittelenglisch — und eine umfassende Auswahl englischer Literatur, von den Chroniken Alfreds des Großen bis zu den unerreichbaren Amazonen John Betjemans.

«Was halten Sie von meinen Büchern?«fragte sie neugierig.

Wie sollte ich darauf antworten? Das Versteckspiel war ihr gegenüber verdammt unfair.

«Sehr gelehrt«, sagte ich lahm.

Ich wandte mich von dem Regal ab und sah mich plötzlich von Kopf bis Fuß in der Spiegeltür ihres Kleiderschranks.

Mürrisch betrachtete ich mein Ebenbild, Roke, den Pferdepfleger, den ich zum erstenmal, seit ich vor Monaten Octobers Stadthaus verlassen hatte, wieder so zu Gesicht bekam, und er hatte mit der Zeit nichts gewonnen.

Die Haare waren zu lang, die Koteletten gingen fast bis an die Ohrläppchen. Die Haut war fahlgelb, die Sonnenbräune verblaßt. Eine gewisse Anspannung im Gesicht und ein argwöhnischer Augenausdruck waren hinzugekommen, und in meiner schwarzen Kluft sah ich schäbig und wenig vertrauenerweckend aus.

Ihre Gestalt erschien hinter mir, unsere Blicke trafen sich im Spiegel, und ich merkte, daß sie mich beobachtete.

«Anscheinend gefällt Ihnen nicht, was Sie sehen«, sagte sie.

Ich drehte mich um.»Nein«, erwiderte ich trocken.»Wem soll das gefallen?«

«Hm…«Auf einmal lächelte sie verschmitzt.»Ich würde Sie zum Beispiel nicht auf unser Haus hier loslassen. Aber wenn Sie mich fragen, was für eine Wirkung Sie…

Sie sind vielleicht etwas ungeschliffen, aber ich verstehe schon, was Patty, ehm… na ja…«Sie unterbrach sich und war jetzt sichtlich doch verlegen.

«Das Wasser kocht«, kam ich ihr zu Hilfe.

Erleichtert wandte sie sich ab und goß den Kaffee auf. Ich ging zum Fenster, sah auf den verlassenen Hof hinunter, drückte meine Stirn an das kühle Glas.

Es passiert trotzdem, dachte ich. Die gräßlichen Klamotten, die schräge Erscheinung änderten nichts. Zum tausendsten Mal fragte ich mich, welchen Zufällen man es verdankte, daß man mit einem bestimmten Körperbau zur Welt kam. Ich konnte nichts für den Schnitt meines Gesichts, die Form meines Kopfes. Sie waren mein Erbteil von zwei gutaussehenden Eltern — ihr Werk, nicht meines. Wie Elinors Haar, dachte ich. Angeboren. Nichts, auf das man stolz sein konnte. Zufall, wie ein Muttermal oder ein Schielen. Ich vergaß es nur immer wieder und war betroffen, wenn mich jemand darauf stieß. Sogar Geld hatte es mich schon gekostet. Zwei potentielle Käufer waren mir entgangen, weil ihre Frauen mehr Augen für mich als für meine Pferde gehabt hatten.

Bei Elinor, dachte ich, war es eine vorübergehende Anziehung, weiter nichts. Sie war zweifellos zu vernünftig, um sich mit einem ehemaligen Pferdepfleger ihres Vaters einzulassen. Und für mich wiederum hieß es ganz klar, Hände weg von beiden Tarren-Schwestern. Ich durfte nicht, kaum daß ich mit der einen aus dem Regen kam, mit der anderen in die Traufe springen. Trotzdem schade. Elinor gefiel mir wirklich sehr.

«Der Kaffee ist fertig«, sagte sie.

Ich ging zum Tisch zurück. Sie hatte sich wieder unter Kontrolle. Der Schalk war aus ihren Augen verschwunden, und sie machte ein beinah strenges Gesicht, als bereute sie, was sie gesagt hatte, und wollte verhindern, daß ich es ausnutzte.

Sie gab mir eine Tasse und bot mir die Kekse an, die mir willkommen waren, da es bei Humber Brot, Margarine und harten, geschmacklosen Käse zu Mittag gegeben hatte und zu Abend wieder geben würde. Samstags sah der Speiseplan fast immer so aus, weil Humber wußte, daß wir dann in Posset aßen.

Wir unterhielten uns artig über die Pferde ihres Vaters. Ich erkundigte mich nach Sparking Plug, und sie meinte, er entwickle sich gut.

«Ich habe einen Zeitungsausschnitt über ihn«, sagte sie.

«Wollen Sie den sehen?«

«Gern.«

Ich folgte ihr an den Schreibtisch, während sie in den darauf liegenden Papieren suchte. Sie schob ein paar Blätter weg, wobei das oberste zu Boden fiel. Ich hob es auf und legte es zurück. Es schien eine Art Quiz zu sein.

«Danke«, sagte sie.»Das darf ich nicht verlieren, es ist das Preisausschreiben der Literarischen Gesellschaft, und mir fehlt nur noch eine Antwort. Wo hab ich denn bloß den Ausschnitt?«

Das Preisausschreiben bestand aus einer Reihe von Zitaten, zu denen man die Autoren finden mußte. Ich nahm es wieder in die Hand und las.

«Das erste ist ein Hammer«, sagte sie über ihre Schulter.»Glaub nicht, daß das schon jemand geknackt hat.«

«Wer gewinnt denn da?«fragte ich.

«Wer als erster alle richtigen Lösungen abgibt.«

«Und was gewinnt man?«

«Ein Buch. Aber es geht mehr ums Prestige. Wir haben pro Semester nur ein Preisausschreiben, und das ist immer schwierig. «Sie zog eine vollgestopfte Schublade auf.»Ich weiß, daß ich den Ausschnitt hier irgendwo hingetan habe.«

Sie begann den Schubladeninhalt herauszuräumen.

«Lassen Sie ruhig«, sagte ich höflich.

«Nein, jetzt will ich ihn auch finden. «Eine Handvoll Krimskrams landete klappernd auf dem Schreibtisch.

Unter den Sachen war ein verchromtes Röhrchen, ungefähr acht Zentimeter lang, mit einer Kette, die von einem Ende zum anderen lief. Du hast so was schon mal gesehen, ging es mir durch den Kopf. Und zwar schon öfter. Es hatte etwas mit Getränken zu tun.

«Was ist das?«fragte ich und zeigte hin.

«Das? Ach, das ist eine lautlose Pfeife. «Sie kramte weiter.»Für Hunde«, erklärte sie.

Ich hob sie auf. Eine lautlose Hundepfeife. Wieso brachte ich sie dann mit Flaschen und Gläsern in Verbindung und… die Welt stand still.

Mit einem spürbaren Ruck schloß sich der Kreis. Endlich hatte ich Adams und Humber am Kragen. Mein Puls ging schneller.

So einfach. Ganz einfach. Das Röhrchen ließ sich in der Mitte auseinanderziehen, und die beiden Teile, Pfeife und Schutzkappe, blieben durch die Kette verbunden. Ich setzte das Mundstück an die Lippen und blies hinein. Es gab nur einen dünnen Ton.

«Wir hören das kaum«, sagte Elinor,»aber Hunde sehr gut. Und man kann die Pfeife auch so einstellen, daß sie das menschliche Ohr besser hört. «Sie nahm sie mir aus der Hand und drehte an der in sich wiederum zweigeteilten Pfeife.»Versuchen Sie’s jetzt mal. «Sie gab sie mir wieder.

Ich blies noch einmal. Jetzt hörte es sich schon wie eine normale Pfeife an.

«Könnten Sie mir die vielleicht für einige Zeit leihen?«fragte ich.»Falls Sie sie nicht brauchen. Ich… ich möchte ein Experiment machen.«

«Ja, das geht. Mein alter Schäferhund mußte im Frühjahr eingeschläfert werden, und seitdem habe ich sie nicht mehr benutzt. Aber ich möchte sie gerne wiederhaben. In den großen Ferien bekomme ich einen Welpen, und den will ich damit erziehen.«

«Ja, natürlich.«

«Gut. Ach, und hier ist auch der Ausschnitt.«

Sie gab mir den Artikel, aber ich konnte mich nicht darauf konzentrieren. Ich sah immer nur die Bar in Humbers Superschlitten vor mir, mit ihrem Sortiment an Eispickeln, Zangen und vielerlei verchromten Utensilien. Die hatte ich nie groß beachtet, aber ein Röhrchen mit einer an beiden Enden befestigten Kette war darunter gewesen. Eine lautlose Hundepfeife.

Ich riß mich zusammen, las den Artikel über Sparking Plug und dankte ihr, daß sie ihn mir gezeigt hatte. Dann verstaute ich die Pfeife in meinem Geldgürtel und sah auf die Uhr. Schon nach halb vier. Ich würde zu spät zur Arbeit kommen.

Sie hatte mich bei October entlastet und mich auf die Pfeife gebracht. Zwei Riesengefälligkeiten. Dafür wollte ich mich gern revanchieren, und ich sah nur eine Möglichkeit.

«Nirgends finden wir eine so friedliche und ungestörte Zuflucht als in der eigenen Seele…«:, zitierte ich.

Sie sah mich verblüfft an.»Das ist die erste Frage im Preisrätsel.«»Ja. Dürfen Sie sich helfen lassen?«

«Ohne weiteres. Aber.«

«Das ist Mark Aurel.«

«Wer?«Sie war sprachlos.

«Marcus Aurelius Antonius, römischer Kaiser, 121 bis 180 nach Christus.«

«Die Selbstbetrachtungen?«

Ich nickte.

«In welcher Sprache war der Urtext? Das müssen wir auch angeben. Lateinisch, nehme ich an?«

«Griechisch.«

«Das ist ja irre. Wo sind Sie denn zur Schule gegangen?«

«In einem Dorf bei Oxford. «Zwei Jahre lang nämlich, bis ich acht war.»Und einer der Lehrer hat uns unentwegt mit Mark Aurel vollgestopft. «Aber diesen Lehrer hatte ich in Geelong gehabt.

Den ganzen Nachmittag war ich versucht gewesen, ihr die Wahrheit zu sagen, und ganz besonders jetzt. Ich konnte mich in ihrer Gegenwart einfach nicht verstellen, und schon in Slaw hatte ich mehr oder weniger so mit ihr geredet, wie mir der Schnabel gewachsen war. Es ging mir gegen den Strich, ihr etwas vorzuspielen. Aber ich sagte ihr nicht, woher ich kam und weshalb ich in England war, weil auch October es nicht getan hatte, und der kannte seine Tochter sicher besser als ich. Sie hatte gemütliche Plaudereien mit Patty, der Schwester mit dem losen Mundwerk, und vielleicht wollte er seine Ermittlungen nicht unnötig gefährden. Ich wußte es nicht. Aber ich schwieg.

«Und das ist ganz bestimmt von Mark Aurel?«hakte sie nach.»Wir dürfen nur einmal raten. Zweiten Durchgang gibt’s nicht.«»Dann würde ich nachsehen. Es steht in einem Abschnitt über die Kunst des Sichbescheidens. Wahrscheinlich habe ich es behalten, weil es ein guter Tip ist, nach dem ich mich viel zu selten richte. «Ich grinste.

«Wissen Sie«, sagte sie zögernd,»es geht mich ja nichts an, aber ich meine, Sie hätten einiges erreichen können. Sie scheinen mir wirklich intelligent zu sein. Wie kommt es, daß Sie in einem Stall arbeiten?«

«Ich arbeite in einem Stall«, sagte ich wahrheitsgemäß, wenn auch nicht ohne Ironie,»weil es das einzige ist, was ich gelernt habe.«

«Werden Sie das bis an Ihr Lebensende tun?«

«Wahrscheinlich.«

«Und können Sie damit zufrieden sein?«

«Das hoffe ich doch.«

«Ich hätte nicht gedacht, daß das so ein Nachmittag wird«, sagte sie.»Offengestanden, ich hatte etwas Angst. Und dann war es ganz leicht mit Ihnen.«

«Na, sehen Sie«, meinte ich fröhlich.

Sie lächelte. Ich ging zur Tür und öffnete sie, und sie sagte:»Ich bringe Sie am besten runter. Die Hütte muß ein Irrgartenspezialist entworfen haben. In den oberen Etagen hat man schon halb verdurstete Besucher aufgegriffen, die seit Tagen abgemeldet waren.«

Ich lachte. Sie ging mit mir durch die verzweigten Korridore, die Treppe hinunter, durch die Eingangshalle zum Ausgang, und erzählte mir wie einem Gleichgestellten zwanglos von ihrem Leben hier. Durham sei die älteste englische Universität nach Oxford und Cambridge, meinte sie, und die einzige, an der man Geophysik studieren könne. Sie war wirklich nett.

Vor der Tür gab sie mir die Hand.

«Auf Wiedersehen«, sagte sie.»Es tut mir leid, daß Patty so gemein zu Ihnen war.«

«Mir nicht. Sonst hätte ich heute nachmittag nicht hier sein können.«

Sie lachte.»Ein ziemlich hoher Preis.«

«Den war es wert.«

Ihre grauen Augen, fiel mir auf, waren dunkelgrau gefleckt. Sie sah zu, wie ich aufs Motorrad stieg und den Helm aufsetzte. Dann winkte sie kurz und ging wieder hinein. Schon fiel die Tür hinter ihr zu.

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