Kapitel 7

Am nächsten Morgen ritt Elinor mein Pferd, und Patty, die sie offensichtlich überredet hatte, mit ihr zu tauschen, mied es peinlich, mich auch nur anzusehen.

Elinor, ein dunkles Kopftuch um das silberblonde Haar, ließ sich ohne weiteres von mir raufwerfen, lächelte dankend und ritt mit ihrer Schwester an der Spitze des Lots davon. Als wir jedoch vom Training zurückkamen, führte sie das Pferd in die Box und begann es zu putzen, während ich mich um Sparking Plug kümmerte. Ich merkte das erst, als ich den Hof hinunterkam, und war überrascht, sie dort zu sehen, da Patty das Pferd stets gezäumt, gesattelt und verdreckt in der Box zurückgelassen hatte.

«Holen Sie Heu und Wasser«, sagte sie.»Den habe ich gleich sauber.«

Ich trug Sattel und Zaumzeug in die Sattelkammer und brachte Heu und Wasser. Elinor bürstete die Mähne des Pferdes an, und ich legte ihm die Decke über und schloß den Gurt. Sie sah zu, wie ich Stroh nachstreute, um ihm ein bequemes Lager zu bereiten, und wartete, bis ich die Tür verriegelt hatte.

«Danke«, sagte ich.»Vielen Dank.«

Sie lächelte.»Das tu ich gern. Wirklich. Ich mag Pferde, besonders Rennpferde. Drahtig, schnell und aufregend.«

«Ja«, stimmte ich zu. Wir gingen gemeinsam über den Hof, sie zum Ausgang und ich zum Pflegerhaus.

«Es ist so anders, als was ich sonst jeden Tag mache«, sagte sie.

«Was machen Sie denn sonst?«

«Ach… studieren. An der Uni Durham. «Sie mußte über etwas lächeln, das ihr dabei einfiel. Es hatte nichts mit mir zu tun. Wenn man von gleich zu gleich mit ihr verkehrte, dachte ich, fand man bei Elinor sicher mehr als nur gutes Benehmen.

«Sie reiten wirklich erstaunlich gut«, sagte sie plötzlich.

«Heute morgen hörte ich Inskip zu Vater sagen, man sollte Ihnen eine Lizenz besorgen. Haben Sie noch nie daran gedacht, Rennen zu reiten?«

«Das wäre ein Traum«, sagte ich inbrünstig, ohne zu überlegen.

«Ja, und was hindert Sie?«

«Hm… ich höre hier vielleicht bald auf.«

«Schade. «Ein höfliches Bedauern, mehr nicht.

Wir kamen beim Pflegerhaus an. Sie lächelte mir freundlich zu und ging weiter, verließ den Hof, verschwand. Vielleicht sehe ich sie nie wieder, dachte ich, und es tat mir ein wenig leid.

Als der Transporter mit einem Sieger, einem Dritten und einem Geschlagenen von den Rennen zurückkam, stieg ich ins Fahrerhaus und nahm mir noch einmal die Landkarte vor. Ich wollte feststellen, wo der Wohnort von Paul Adams lag, und nach einigem Suchen fand ich ihn auch. Als mir die Bedeutung dieser Entdeckung aufging, schmunzelte ich erstaunt. Wie es aussah, gab es noch einen Stall, wo ich mich bewerben konnte.

Ich ging in Mrs. Allnuts gemütliche Küche, aß Mrs. Allnuts köstliche Kartoffeln mit Ei, ihren Kuchen, ihre Butterstullen, schlief schließlich traumlos auf Mrs. Allnuts verbeulter Matratze und badete am nächsten Morgen ausgiebig in Mrs. Allnuts blitzsauberem Badezimmer. Am Nachmittag ging ich den Bach entlang zu meinem Rendezvous mit October, dem ich nun endlich etwas Brauchbares zu erzählen hatte.

Er empfing mich mit steinerner Miene, und bevor ich ein Wort sagen konnte, schlug er mir mit voller Wucht auf den Mund. Es war ein gezielter Schlag mit dem Handrük-ken, der aus der Hüfte kam, und ich sah ihn viel zu spät.

«Wofür war das denn?«fragte ich, mit der Zunge über meine Zähne fahrend, die zum Glück noch alle da waren.

Er starrte mich böse an.»Patty hat mir erzählt…«Er brach ab, als fielen ihm die Worte zu schwer.

«Ach so«, sagte ich ausdruckslos.

«Ach so, ja!«äffte er mich nach. Er atmete schnaufend, und es sah aus, als würde er mich noch einmal schlagen. Ich stieß meine Hände in die Hosentaschen, und er holte nicht aus, sondern ließ die Arme hängen, wenn er auch die Hände immer wieder zur Faust ballte.

«Was hat Ihnen Patty erzählt?«

«Alles. «Sein Zorn war fast greifbar.»Heulend kam sie heute morgen zu mir… Sie hat mir erzählt, wie Sie sie in den Heuspeicher gedrängt und sie festgehalten haben, so sehr sie sich auch wehrte… und wo Sie überall mit Ihren Händen waren… bis Sie sie dann gezwungen haben… sie gezwungen haben. «Er brachte es nicht über die Lippen.

Ich war entsetzt.»Das stimmt doch nicht«, sagte ich heftig.»Ich habe nichts dergleichen getan. Geküßt habe ich sie, und das war’s. Alles andere hat sie erfunden.«

«Das kann sie gar nicht erfunden haben. So detailgenau… Sie wüßte so was nicht, wenn sie es nicht erlebt hätte.«

Ich öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Sicher hatte sie es erlebt; irgendwo, mit irgend jemand, mehr als einmal und bestimmt auch freiwillig. Aber ich merkte schon, daß sie wenigstens bis zu einem gewissen Grad mit ihrer abscheulichen Rache durchkommen würde, denn es gibt Dinge, die man dem Vater einer jungen Frau nicht sagen kann, zumal wenn man ihn mag.

«Noch nie habe ich mich so in einem Menschen getäuscht«, sagte October schneidend.»Ich hielt Sie für verantwortungsbewußt… oder doch für jemand, der sich beherrschen kann. Nicht für einen geilen Haderlumpen, der mein Geld — und meine Wertschätzung — nimmt und sich heimlich an meiner Tochter vergreift.«

Das Körnchen Wahrheit daran traf mich schon, und Schuldgefühle hatte ich wegen meines törichten Verhaltens sowieso. Aber ich mußte mich trotz allem wehren, denn niemals hätte ich Patty Schaden zugefügt, und außerdem lief noch die Untersuchung der Dopingfälle. Jetzt, wo ich damit so weit gekommen war, wollte ich mich nicht in Unehren heimschicken lassen.

«Ich bin mit Patty in den Heuspeicher gegangen«, sagte ich langsam.»Und ich habe sie geküßt. Einmal. Ein Kuß.

Weiter habe ich sie nicht angerührt. Ich habe sie buchstäblich nicht angefaßt, weder ihre Hand noch ihr Kleid… nichts.«

Er sah mir lange fest in die Augen, während sein Zorn allmählich nachließ und einer Art Müdigkeit wich.

Schließlich sagte er beinah gefaßt:»Einer von euch lügt. Ich muß meiner Tochter glauben. «Die Worte hatten einen unerwartet flehenden Beiklang.

«Ja«, sagte ich. Ich wandte den Blick ab, sah den Bach hinauf.»Ein Problem wäre damit immerhin gelöst.«

«Welches Problem?«»Wie ich hier ohne Referenz mit Schimpf und Schande gefeuert werden kann.«

Das war so weit weg von dem, was ihn beschäftigte, daß es erst nach einigen Sekunden überhaupt zu ihm durchdrang, doch dann maß er mich mit einem aufmerksamen Blick aus schmalen Augenschlitzen, dem ich nicht auswich.

«Sie wollen die Untersuchung also fortführen?«

«Wenn es Ihnen recht ist.«

«Ja«, sagte er mit schwerer Stimme.»Zumal Sie ja weggehen und keine Gelegenheit mehr haben werden, Patty zu sehen. Was immer ich persönlich von Ihnen halte, Sie bleiben unsere größte Hoffnung in dieser Angelegenheit, und das Wohl des Rennsports muß mir vorgehen.«

Er schwieg. Ich sann über die ziemlich trübe Aussicht nach, eine solche Arbeit für einen Mann tun zu müssen, der mich verabscheute. Aber der Gedanke, aufzugeben, schien mir schlimmer. Sehr merkwürdig.

Schließlich sagte er:»Wieso wollen Sie denn ohne Referenz gehen? Ohne Referenzen nimmt man Sie in keinem der drei Stalle.«

«Keine Empfehlung ist die beste Empfehlung für den Stall, wo ich hinwill.«

«Nämlich?«

«Zu Hedley Humber.«

«Humber?«sagte er düster und ungläubig.»Wieso denn das nun? Er ist ein miserabler Trainer und hat keines der gedopten Pferde trainiert. Was wollen Sie da?«

«Er hat die Pferde nicht trainiert, als sie siegten«, gab ich zu,»aber drei von ihnen sind in ihrer Laufbahn vorher durch seine Hände gegangen. Und es gibt einen gewissen P. J. Adams, der zum einen oder anderen Zeitpunkt weitere sechs von den elf besessen hat. Der Landkarte nach wohnt Adams keine fünfzehn Kilometer von Humber entfernt. Humber lebt in Posset, das noch in Durham liegt, und Adams in Teilbridge, das schon zu Northumberland gehört. Neun von den elf Pferden waren also zeitweise in diesem kleinen Bereich der Britischen Inseln untergebracht. Keines blieb lange. Die Dossiers über Transistor und Rudyard sind weit weniger ausführlich als die anderen, was ihre ersten Jahre angeht, und ich glaube, es ließe sich bestimmt nachweisen, daß auch sie für kurze Zeit unter den Fittichen entweder von Adams oder Humber gewesen sind.«

«Aber wie soll sich denn der Aufenthalt bei Adams oder Humber auf die Schnelligkeit der Pferde Monate oder Jahre später ausgewirkt haben?«

«Das weiß ich nicht«, sagte ich.»Aber ich würde es gerne herausfinden.«

Ein Schweigen entstand.

«Also gut«, erwiderte er mit schwerer Stimme.»Ich sage Inskip, daß Sie entlassen sind. Und zwar, weil Sie Patricia belästigt haben.«

«In Ordnung.«

Er blickte mich kalt an.»Sie können mir dann schriftlich berichten. Ich will Sie nicht mehr sehen.«

Ich schaute ihm nach, als er kräftigen Schrittes den Berg hinaufging. Ich wußte nicht, ob er wirklich noch überzeugt war, daß ich getan hatte, was Patty behauptete; ich wußte nur, daß er es glauben mußte. Die andere Möglichkeit, die Wahrheit, war ungleich schlimmer. Welcher Vater möchte schon wahrhaben, daß seine schöne achtzehnjährige Tochter ein verlogenes Flittchen ist?

Was mich betraf, so war ich alles in allem noch glimpflich davongekommen; hätte ich gehört, daß jemand Belin-da oder Helen unsittlich belästigt habe, hätte ich ihn totgeschlagen.

Nach dem zweiten Lot am nächsten Tag sagte Inskip mir klipp und klar, was er von mir hielt, und es war nicht schön zu hören.

Nachdem er mir zur Schadenfreude der Jungs, die mit ihren vollen Eimern, vollen Heunetzen und langen Ohren um uns herumlatschten, mitten auf dem Hof den Kopf gewaschen hatte, gab er mir meine Versicherungs- und die Lohnsteuerkarte zurück, die mit ihrer unleserlichen Adresse in Cornwall noch immer eine ungeknackte Nuß war, und befahl mir, auf der Stelle meinen Kram zu packen und zu verschwinden. Ich brauchte seinen Namen auch nicht als Referenz anzugeben, denn Lord October habe ihm ausdrücklich untersagt, für meinen Charakter zu bürgen, und er könne die Entscheidung seines Chefs nur begrüßen. Er gab mir einen Wochenlohn als Abfindung, minus Mrs. Allnuts Anteil, und damit hatte es sich.

Ich packte meine Sachen in dem kleinen Schlafsaal; klopfte zum Abschied noch einmal auf das Bett, in dem ich sechs Wochen geschlafen hatte, und ging hinunter in die Küche, wo die Jungs zu Mittag aßen. Elf Augenpaare schauten mich an. Die einen verächtlich, die anderen erstaunt, ein oder zwei dumm belustigt. Keiner sah aus, als bedauerte er, daß ich fortging. Mrs. Allnut gab mir ein dickes Käsesandwich mit, und das verzehrte ich auf der Talwanderung nach Slaw, wo ich den Zweiuhrbus nach Harrogate nehmen wollte.

Und wohin dann?

Kein vernünftiger Pferdepfleger würde von einem erfolgreichen Stall wie dem Inskipschen direkt zu Humber laufen, auch wenn er hochkant rausgeflogen war; es mußte erst ein Weilchen mit mir abwärts gehen, damit das unverdächtig wirkte. Überhaupt hielt ich es für wesentlich besser, wenn nicht ich nach Arbeit fragte, sondern Humbers Reisefuttermeister sie mir anbot. Das konnte so schwer nicht sein. Wenn ich mich auf allen Rennbahnen, wo Humber Starter hatte, blicken ließ und mich jedesmal ein Stück heruntergekommener präsentierte, so als brauchte ich immer dringender Arbeit, dann würde der Stall, der keine Pfleger fand, eines Tages anbeißen.

Bis dahin brauchte ich eine Bleibe. Während der Bus hinunter nach Harrogate gondelte, faßte ich meinen Plan. Der Nordosten mußte es sein, da wo Humbers Pferde liefen. Eine große Stadt, in der ich anonym sein konnte. Eine lebhafte Stadt, damit mir die Zeit zwischen den Renntagen nicht lang wurde. Mit Hilfe der Straßenkarten und Reiseführer in der Stadtbibliothek Harrogate entschied ich mich für Newcastle, und dank zweier hilfsbereiter Fernfahrer kam ich am Spätnachmittag dort an und nahm mir ein Zimmer in einem billigen Hotel.

Es war ein schreckliches Zimmer mit kaffeebrauner Tapete, die sich von den Wänden löste, brüchigem, gemustertem Linoleum am Boden, einer harten, schmalen Liege und verkratzten Möbeln aus gebeiztem Furnierholz. Nur seine unerwartete Sauberkeit und ein nagelneues Waschbecken in der Ecke machten es erträglich, doch ich mußte zugeben, daß es meiner äußeren Erscheinung und meinen Zwecken bestens entsprach.

Ich aß gebackenen Fisch mit Pommes frites für drei Shilling sechs, ging ins Kino und genoß es, weder drei Pferde versorgen noch jedes Wort, das ich sagte, abwägen zu müssen. Die wiedergewonnene Freiheit war so wohltuend, daß meine Stimmung sich erheblich besserte und ich sogar den Ärger mit October vergaß.

Am nächsten Morgen schickte ich ihm per Einschreiben die zweiten fünfundsiebzig Pfund, die ich ihm bei unserem

Treffen am Sonntag nicht übergeben hatte, zusammen mit einem förmlichen Brief, in dem ich kurz erklärte, warum erst einige Zeit verstreichen sollte, bevor ich bei Humber anfing.

Von der Post aus ging ich in ein Wettbüro und schrieb mir die Rennveranstaltungen der nächsten Wochen heraus. Es war Anfang Dezember, und vor der ersten Januarwoche standen im Norden nur wenige Rennen an — vertane Zeit aus meiner Sicht und ärgerlich. Nach dem Renntag in Newcastle am kommenden Sonnabend fanden nördlich von Nottinghamshire bis zum zweiten Weihnachtsfeiertag, über vierzehn Tage später, keine Rennen mehr statt.

Ungeachtet dieses Rückschlags begab ich mich auf die Suche nach einem zünftigen gebrauchten Motorrad. Erst am späten Nachmittag fand ich genau das, was mir vorschwebte, eine vier Jahre alte, frisierte 500-cc-Norton aus der Hand eines jetzt einbeinigen jungen Mannes, der auf dem schnellen Weg nach Norden einmal zu oft Gas gegeben hatte. Der Verkäufer erzählte mir die Geschichte gut gelaunt, während er mein Geld nahm, und versicherte mir, die Maschine schaffe auch jetzt noch 160 Stundenkilometer. Ich bedankte mich höflich und ließ sie bei ihm stehen, weil sie noch einen neuen Auspufftopf sowie neue Handgriffe, Bremskabel und Reifen bekommen sollte.

In Slaw war ich ganz gut ohne eigenes Fahrzeug ausgekommen, und über meine Beweglichkeit in Posset würde ich mir auch keine Gedanken gemacht haben, hätte mir nicht eine warnende Stimme dauernd gesagt, daß ich es vielleicht einmal ratsam finden könnte, mich schnell davonzumachen. Der Journalist Tony Stapleton ging mir nicht aus dem Kopf. Zwischen Hexham und Yorkshire hatte er acht Stunden verloren und den Tod gefunden. Zwischen Hexham und Yorkshire lag Posset.

Der erste, den ich vier Tage darauf in Newcastle beim Pferderennen sah, war der Mann mit dem schwarzen Schnurrbart, der mir einen Dauerposten als Stallspion angetragen hatte. Er stand unauffällig in einer Ecke am Eingang und redete mit einem großohrigen Jungen, den ich später ein Pferd aus einem landesweit bekannten Wettstall herumführen sah.

Aus einiger Entfernung beobachtete ich, wie er dem Jungen ein weißes Kuvert gab und ein braunes dafür in Empfang nahm. Gekaufte Informationen, dachte ich, und bezahlt vor aller Augen, als wäre nichts dabei.

Ich schlenderte hinter Schwarzem Schnurrbart her, als er nach der Transaktion in den Buchmacherring ging. Wieder sah es aus, als studierte er nur die Quoten für das erste Rennen, und wie schon einmal setzte ich ein paar Shilling auf den Favoriten, falls jemand aufgefallen war, daß ich dem Schnurrbärtigen folgte. Der legte trotz seines Kursvergleichs keine Wette an, sondern ging an die Absperrung, die den Ring von der eigentlichen Bahn trennte. Dort blieb er wie zufällig neben einer künstlich rothaarigen Frau stehen, die eine Leopardenfelljacke über einem dunkelgrauen Rock trug.

Sie wandte ihm den Kopf zu, und sie sprachen miteinander. Nach einer Weile zog er das braune Kuvert aus der Brusttasche und legte es in ein Rennprogramm, das er Augenblicke später mit dem der Frau austauschte. Er entfernte sich von den Rails, während sie das Rennprogramm mit dem Kuvert in einer großen, glänzendschwarzen Handtasche verstaute. Im Schutz der letzten Buchmacherreihe beobachtete ich, wie sie das Clubhaus betrat und auf den Rasen vor der Mitgliedertribüne ging. Dorthin konnte ich ihr nicht folgen, doch von der Haupttribüne aus sah ich, wie sie durch den nächsten Tribünenabschnitt wanderte. Man schien sie zu kennen. Sie unterhielt sich mit ver-schiedenen Leuten — einem gebückten alten Herrn mit Schlapphut, einem fettleibigen jungen Mann, der ihr wiederholt den Arm tätschelte, zwei Damen in Nerz, einer Gruppe von drei Männern, die schallend lachten und mir die Sicht verstellten, so daß ich nicht mitbekam, ob sie einem von ihnen das braune Kuvert übergeben hatte.

Die Pferde kamen auf die Bahn, und die Zuschauer zogen auf die Tribüne, um sich das Rennen anzusehen. Die Rothaarige verschwand im Gewühl auf der Mitgliedertribüne, aber ich konnte es nicht ändern. Das Rennen begann, und der Favorit gewann leicht mit zehn Längen. Das Publikum feierte ihn. Ich blieb stehen, wo ich war, während die Leute ringsum von der Tribüne strömten, und wartete, ohne mir allzuviel Hoffnung zu machen, ob die rothaarige Leopardenfrau nicht noch einmal auftauchte.

Und da war sie. In der einen Hand hielt sie ihre Tasche, in der anderen das Rennprogramm. Diesmal wechselte sie ein paar Worte mit einem kleinen dicken Mann, bevor sie zu den Buchmachern herüberkam, die nicht weit von mir an der Absperrung zwischen dem Ring und den Mitgliederplätzen standen. Jetzt erst sah ich deutlich ihr Gesicht; sie war jünger, als ich angenommen hatte, und nicht so hübsch; ihre oberen Zähne standen auseinander.

Mit schneidender, blecherner Stimme sagte sie:»Ich möchte bezahlen, Bimmo«, zog ein braunes Kuvert aus ihrer Handtasche und reichte es einem kleinen Mann mit Brille, der auf einer Kiste neben einer Tafel mit der Aufschrift BIMMO BOGNOR, GEGR. 1920, MANCHESTER UND LONDON stand.

Mr. Bimmo Bognor nahm das Kuvert und steckte es mit einem kernigen» Man dankt«, das an mein gespitztes Ohr drang, in seine Jackentasche.

Ich verließ die Tribüne und holte mir meinen kleinen Wettgewinn und wußte nur, daß die Rothaarige Bimmo Bognor ein Kuvert übergeben hatte, das so aussah wie dasjenige, das Schwarzer Schnurrbart von dem großohrigen Pfleger bekommen hatte, aber nicht, ob es dasselbe war. Sie konnte das Kuvert des Pflegers einem der Leute zugesteckt haben, mit denen ich sie hatte reden sehen, oder sonst jemandem auf der Tribüne, als sie mir aus den Augen geraten war, und hatte dann vielleicht ganz ehrlich ihren Buchmacher bezahlt.

Um die Kette genau zu verfolgen, schien es mir das beste, eine dringende Nachricht auf den Weg zu schicken — so dringend, daß kein langes Hin und Her entstand, sondern eine direkte Verbindung von A nach B und von B nach C hergestellt wurde. Da Sparking Plug im fünften Rennen antrat, stellte die dringende Nachricht kein Problem dar; um aber Schwarzen Schnurrbart genau im richtigen Moment abzupassen, mußte ich ihn den ganzen Nachmittag im Auge behalten.

Zum Glück war er ein Gewohnheitstier. Er schaute immer von der gleichen Tribünenecke aus den Rennen zu, ging zwischendurch immer in die gleiche Bar und stand unauffällig am Eingang zum Geläuf, wenn die Pferde aus dem Führring kamen. Er wettete nicht.

Humber hatte zwei Starter, einen im dritten und einen im letzten Lauf, und obwohl ich mein Hauptanliegen damit bis zum späten Nachmittag beiseite schob, ließ ich das dritte Rennen verstreichen, ohne mich nach seinem Reisefuttermeister umzusehen. Statt dessen blieb ich in einer gewissen Entfernung hinter dem Schwarzen Schnurrbart.

Nach dem vierten Rennen folgte ich ihm in die Bar und rempelte ihn kräftig an, als er sein Glas hob. Das Bier schwappte ihm über die Hand und lief an seinem Ärmel runter, und fluchend fuhr er herum und hatte mein Gesicht direkt vor seiner Nase.

«Entschuldigung«, sagte ich.»Ach, Sie sind’s!«Ich legte eitel Überraschung in meine Stimme.

Seine Augen wurden schmal.»Was machen Sie denn hier? Sparking Plug läuft doch jetzt.«

Ich blickte finster.»Ich bin nicht mehr bei Inskip.«

«Haben Sie jetzt einen Job, wie ich ihn empfohlen habe? Gut.«

«Noch nicht. Das kann auch ein Weilchen dauern, denke ich.«

«Wieso? Ist nichts frei?«

«Anscheinend ist keiner versessen auf mich, seit ich bei Inskip rausgeflogen bin.«

«Was sind Sie?«fragte er scharf.

«Bei Inskip rausgeflogen«, wiederholte ich.

«Weshalb?«

«Es hat ihnen nicht gepaßt, daß Sparking Plug vor acht Tagen, als Sie mich angesprochen haben, verloren hat. Sie könnten zwar nichts beweisen, meinten sie, aber sie würden keinen Wert mehr auf mich legen und tschüs.«

«Das ist aber schade«, sagte er und wollte sich verkrümeln.

«Wer zuletzt lacht, lacht am besten«, feixte ich und hielt ihn am Arm fest.»Passen Sie auf, Mann, die kriegen ihr Fett.«

«Wie darf ich das verstehen?«In seinem Tonfall lag unverhohlene Verachtung, aber seine Augen waren gespannt.

«Sparking Plug siegt heute auch nicht«, erklärte ich.

«Kann er gar nicht, weil er’s am Magen hat.«

«Und woher wissen Sie das?«

«Ich habe seinen Leckstein mit Paraffinöl getränkt«, sagte ich.»Seit ich am Montag weg bin, schleckt er ein bewährtes Abführmittel. Das dämpft die Lust am Rennen. Der gewinnt garantiert nicht. «Ich lachte.

Schwarzer Schnurrbart warf mir einen entgeisterten Blick zu, machte sich von mir los und eilte aus der Bar. Ich folgte ihm vorsichtig. Er stürmte förmlich hinunter in den Buchmacherring und schaute sich verzweifelt um. Die Rothaarige war nirgends zu sehen, doch sie mußte in der Nähe gewesen sein, denn auf einmal kam sie zügig an den Rails entlang zu der Stelle, wo sie sich vorhin getroffen hatten. Schon war Schwarzer Schnurrbart bei ihr. Er redete heftig auf sie ein. Sie hörte zu und nickte. Ein wenig beruhigt ließ er sie stehen und ging vom Buchmacherring wieder zum Führring. Die Frau wartete, bis er außer Sicht war, betrat dann entschlossen die Mitgliedertribüne und ging an der Absperrung entlang wieder zu Bimmo Bognor. Der kleine Mann beugte sich über den Zaun vor, während sie ernst etwas zu ihm sagte. Er nickte mehrmals, worauf sie wieder lächelte, und als er sich umdrehte, um mit seinen Schreibern zu reden, sah ich, daß auch er breit grinste.

Ohne Eile ging ich an den Buchmacherständen entlang und sah mir die Quoten an. Sparking Plug war wegen seiner wasserbedingten Niederlage neulich nicht Favorit, aber mehr als 60 zu 10 traute sich niemand anzubieten. Zu diesem Kurs setzte ich bei einem sichtlich erfolgreichen und fröhlichen Buchmacher in der hintersten Reihe vierzig Pfund — meinen gesamten Inskiplohn — auf meinen früheren Schützling.

Wenige Minuten später, immer noch im Ring, hörte ich, wie Mr. Bimmo Bognor einem Strom von Kunden 80 zu 10 für Sparking Plug anbot, und sah, wie er in der Gewißheit, nichts auszahlen zu müssen, ihr Geld einstrich.

Zufrieden lächelnd ging ich auf die Tribüne und sah von ganz oben zu, wie Sparking Plug aus der Konkurrenz Hackfleisch machte und mit beleidigenden zwanzig Längen gewann. Schade nur, daß ich da oben nicht hören konnte, was Mr. Bognor von dem Ergebnis hielt.

Mein fröhlicher Buchmacher blätterte mir anstandslos zweihundertvierzig Pfund in Fünfernoten hin. Um Schwarzem Schnurrbart und eventuellen Vergeltungsschlägen zu entgehen, begab ich mich zu den billigen Plätzen im Innenraum der Rennbahn und verbrachte dort langweilige zwanzig Minuten, ging durch den Ausgang vom Geläuf zurück, als die Teilnehmer des letzten Rennens aufgaloppierten, und stahl mich die Treppe hinauf zur Tribüne für das Stallpersonal.

Humbers Reisefuttermeister stand ziemlich weit oben. Ich drängte mich unsanft an ihm vorbei und stolperte absichtlich über seine Füße.

«Passen Sie doch auf, wo Sie hintreten«, sagte er verärgert und fuhr zu mir herum.

«Verzeihung, Mann. Hühneraugen, oder was?«

«Das geht Sie einen Feuchten an«, sagte er und musterte mich böse. Er würde mich wiedererkennen.

Ich biß auf meinen Daumennagel.»Wissen Sie, wer von dem Verein hier Davies’ Futtermeister ist?«fragte ich.

«Der da drüben mit dem roten Halstuch. Warum?«

«Ich brauche Arbeit«, versetzte ich, und bevor er etwas dazu sagen konnte, drängelte ich mich zu dem Mann mit dem roten Halstuch durch. Sein Stall hatte ein Pferd in dem Rennen. Ich fragte ihn leise, ob sie zwei drin hätten, und er schüttelte den Kopf und sagte nein.

Aus dem Augenwinkel sah ich, daß Humbers Futtermeister die abschlägige Antwort nicht entgangen war. Wie gewünscht glaubte er offensichtlich, ich hätte nach Arbeit gefragt und sei abgewiesen worden. Nachdem dieser Keim gelegt war, schaute ich mir beruhigt das Rennen an (Humbers Pferd wurde Letzter) und verließ die Rennbahn unauffällig über den Sattelplatz und den Mitgliederparkplatz, ohne von Schwarzem Schnurrbart oder einem rachsüchtigen Bimmo Bognor abgefangen zu werden.

Der Sonntag danach, den ich teils in meinem öden Zimmer, teils auf den menschenleeren Straßen verbrachte, überzeugte mich endgültig, daß ich nicht noch vierzehn Tage untätig in Newcastle herumhängen konnte, und auch der. Gedanke an eine einsame Weihnacht in den kaffeebraunen vier alten Wänden war wenig verlockend. Zudem hatte ich zweihundert Pfund Buchmachergeld neben dem Rest von Octobers Vorschuß in meinem Gürtel, und erst am zweiten Weihnachtsfeiertag in Stafford lief wieder ein Pferd von Humber. Ich brauchte nur zehn Minuten, um zu entscheiden, was ich bis dahin anfangen sollte.

Am Sonntag abend schrieb ich October einen Bericht über Bimmo Bognors geheimen Nachrichtendienst, und um ein Uhr früh nahm ich den Schnellzug nach London. Den Montag verbrachte ich mit Einkaufen, und Dienstag abend, gepflegt, von Kopf bis Fuß neu eingekleidet und ausgestattet mit einem teuren Paar Kästle-Skiern, trug ich mich in das Fremdenbuch eines gemütlichen, erstklassigen kleinen Hotels in einem verschneiten Dolomitendorf ein.

Die vierzehn Tage in Italien änderten nichts am Ergebnis meiner Arbeit für October, doch für mich waren sie sehr wichtig. Zum erstenmal seit dem Tod meiner Eltern machte ich richtig Urlaub, zum erstenmal seit neun Jahren dachte ich sorglos und unbeschwert nur an mich selbst.

Ich wurde jünger. Anstrengende Tage auf den Hängen und eine Reihe von durchtanzten Apres-Ski-Abenden ließen die Jahre des Verantwortungsbewußtseins wie Häute von mir abfallen, bis ich mich wie siebenundzwanzig statt wie fünfzig fühlte, wie ein junger Mann statt wie ein Familienvater, bis die innere Befreiung, die mit meiner Abreise aus Australien begonnen und mich durch meine Zeit bei Inskip getragen hatte, plötzlich abgeschlossen schien.

Besonders schön war auch die Zeit mit einer der Empfangsangestellten, einer lebhaften, gutgewachsenen jungen Frau, die mich auf den ersten Blick mochte und sich nicht lange bitten ließ, nachts in mein Bett zu kommen. Sie nannte mich ihre Weihnachtsüberraschung. Ich sei ihr ausgelassenster Liebhaber seit langem und sie sei gern mit mir zusammen. Wahrscheinlich trieb sie es wesentlich wilder als Patty, aber sie war mit sich im reinen, und ich fühlte mich sauwohl mit ihr anstatt beschämt.

Am Tag meiner Abreise, als ich ihr ein goldenes Armband schenkte, küßte sie mich und sagte, ich solle nicht wiederkommen, denn beim zweitenmal sei alles nicht mehr so schön. Für Junggesellen war dieses Mädchen ein Geschenk des Himmels.

Ich flog an Weihnachten zurück nach England, geistig und körperlich in Höchstform und gewappnet gegen alles Üble, was von Humber kommen konnte. Das war schon ganz gut so.

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