Kapitel 19

Es war kühl und still in den Korridoren von Whitehall. Ein ausgesucht höflicher junger Mann zeigte mir ehrerbietig den Weg und öffnete die Mahagonitür zu einem leeren Büro.

«Colonel Beckett wird gleich bei Ihnen sein, Sir. Er berät sich nur gerade mit einem Kollegen. Ich soll ihn entschuldigen, wenn Sie vor ihm eintreffen, und Ihnen etwas zu trinken anbieten. Zigaretten finden Sie dort in der Dose, Sir.«

«Danke. «Ich lächelte.»Könnte ich einen Kaffee bekommen?«

«Selbstverständlich. Bringen wir Ihnen sofort. Wenn Sie mich entschuldigen?«Er ging hinaus und schloß leise die Tür.

Es amüsierte mich fast, wieder mit Sir angeredet zu werden, noch dazu von weltläufigen Regierungsbeamten, die kaum jünger waren als ich selbst. Schmunzelnd machte ich es mir in dem Ledersessel vor Becketts Schreibtisch bequem, schlug die in eleganten Hosen steckenden Beine übereinander und wartete.

Ich hatte es nicht eilig. Es war Dienstag, elf Uhr früh, und ich hatte den ganzen Tag nichts weiter vor, als eine Spielzeugeisenbahn für Jerry zu kaufen und den Rückflug nach Australien zu buchen.

Kein Laut drang in Becketts Büro. Der Raum war quadratisch, mit einer hohen Decke, die in dem gleichen ruhi-

gen Graugrün gehalten war wie die Wände und die Tür. Ich nahm an, daß sich die Ausstattung hier nach dem Rang richtete, doch als Außenstehender war man weder von dem großen, ausgetretenen Teppich, dem ausgesuchten Lampenschirm noch von den Ledersesseln mit den Messingknöpfen besonders beeindruckt. Nur Eingeweihte verstanden diese Zeichen zu deuten.

Ich fragte mich nach Becketts Funktion hier. Er hatte auf mich den Eindruck gemacht, als sei er im Ruhestand oder gar invalid, weil er so krank aussah, und dabei schien er hier beim Verteidigungsministerium fest im Sattel zu sitzen.

October hatte mir erzählt, im Krieg sei Beckett einer jener Versorgungsoffiziere gewesen, die niemals die falsche Munition oder nur linke Stiefel auf den Weg brachten. Versorgungsoffizier. Er hatte mir Sparking Plug und das Rohmaterial mit den Hinweisen auf Adams und Humber besorgt. Er hatte genug Einfluß bei der Armee, um kurzfristig elf junge Offiziersanwärter auf Recherchen über unbedeutende Hindernispferde anzusetzen. Mich hätte interessiert, was er normalerweise so besorgte.

Plötzlich fiel mir ein, daß October gesagt hatte:»Wir dachten daran, einen Pferdepfleger einzuschleusen«-nicht» ich dachte daran«, sondern» wir«. Aus irgendeinem Grund war ich mir jetzt sicher, die Idee müsse von Beckett gekommen sein; daher auch Octobers Erleichterung, als Beckett auf Anhieb mit mir einverstanden war.

Über all das dachte ich nach, während ich zwei Tauben zuschaute, die um das Fenstersims flatterten, und darauf wartete, mich von dem Mann zu verabschieden, dank dessen Stabsarbeit mein Einsatz zum Erfolg wurde.

Es klopfte, und eine hübsche junge Frau brachte ein Tablett, auf dem eine Kanne Kaffee, ein Kännchen Milch und eine hellgrüne Tasse mit Untertasse standen. Sie fragte lächelnd, ob ich sonst noch etwas wünschte, und ging, als ich verneinte, anmutig hinaus.

Ich kam mit der linken Hand mittlerweile ganz gut zurecht. Ich goß mir den Kaffee ein, trank ihn schwarz und ließ ihn mir schmecken.

Zwischendurch gingen mir die Erlebnisse der letzten Tage im Kopf herum.

Drei Tage und vier Nächte in Polizeigewahrsam, allein mit dem Bewußtsein, daß ich Adams getötet hatte. Es war eigenartig, aber ich hatte zwar oft an die Möglichkeit gedacht, umgebracht zu werden, aber nie daran, daß ich selber jemand umbringen könnte. Darauf, wie auf so vieles andere, war ich überhaupt nicht vorbereitet gewesen, und wenn man den Tod eines anderen Menschen herbeigeführt hat, mag das noch so sehr dessen eigene Schuld gewesen sein, es schlägt dennoch aufs Gewissen.

Drei Tage und vier Nächte auch, während derer ich langsam lernte, daß sich selbst die Schande des Eingesperrtseins ertragen ließ, wenn man innerlich Ruhe bewahrte — noch einmal schönen Dank für deinen Rat, rothaariger Polizist.

Nachdem am ersten Tag ein Richter angeordnet hatte, daß ich eine Woche in Gewahrsam bleiben sollte, kam ein Polizeiarzt und befahl mir, mich auszuziehen. Das konnte ich nicht allein, und er mußte mir helfen. Er sah sich die Ergebnisse von Adams’ und Humbers Zusammenarbeit ungerührt an, stellte ein paar Fragen und untersuchte meinen rechten Arm, der vom Handgelenk bis weit über den Ellbogen blauschwarz verfärbt war. Trotz der schützenden zwei Pullover und der Lederjacke war mir von dem Stuhlbein die Haut aufgeplatzt. Der Arzt half mir gleichmütig, mich wieder anzuziehen, und ging. Ich fragte ihn nicht nach seiner Meinung, und er behielt sie für sich.

Den größten Teil der drei Tage und vier Nächte hindurch wartete ich einfach, Stunde um Stunde. Dachte an Adams, den lebenden und den toten. Sorgte mich um Humber. Überlegte, was ich hätte anders machen können. Hielt mir vor Augen, daß ich vielleicht erst nach einem Prozeß, vielleicht auch nie wieder freikam. Wartete darauf, daß die Schmerzen nachließen, suchte vergebens eine bequeme Schlafhaltung auf dem Beton. Zählte, aus wieviel Ziegeln, Wandhöhe mal Wandbreite, abzüglich Tür und Fenster, die Zelle bestand. Dachte an mein Gestüt, meine Geschwister und überlegte, wie mein Leben weitergehen sollte.

Am Montag morgen hatte ich das mir inzwischen vertraute Klirren gehört, mit dem die Tür aufgesperrt wurde, doch hereingekommen war nicht wie sonst ein Polizist in Uniform, sondern October.

Ich stand gegen die Wand gelehnt. Wir hatten uns ein Vierteljahr nicht gesehen. Er schaute mich erst einmal lange an und nahm mein zerknittertes Aussehen sichtlich erschrocken zur Kenntnis.

«Daniel«, sagte er mit leiser, belegter Stimme.

Mitgefühl brauchte ich nicht. Ich hakte den linken Daumen in die Hosentasche, warf mich ein wenig in Pose und lächelte.

«Hallo, Edward.«

Sein Gesicht hellte sich auf, und er lachte.»Sie kriegt nichts klein«, sagte er. Sollte er das ruhig glauben.

«Könnten Sie sich dafür einsetzen, daß ich ein warmes Bad bekomme?«

«Sie können haben, was Sie wollen, sobald Sie draußen sind.«

«Draußen? Endgültig?«

«Endgültig«, nickte er.»Die Anklage wird fallengelassen.«

Ich konnte meine Erleichterung nicht verbergen.

Er lächelte ironisch.»Es wäre Verschwendung von Steuergeldern, Ihnen den Prozeß zu machen. Sie würden garantiert freigesprochen. Tötung aus Notwehr, dafür wird man nicht bestraft.«

«Ich dachte, die glauben mir nicht.«

«Alles, was Sie am Donnerstag ausgesagt haben, ist überprüft und offiziell bestätigt worden.«

«Wie… wie geht es Humber?«

«Soviel ich weiß, ist er seit gestern wieder bei Bewußtsein. Allerdings noch nicht so klar im Kopf, daß er befragt werden kann. Hat Ihnen die Polizei nicht gesagt, daß er außer Gefahr ist?«

Ich schüttelte den Kopf.»Die sind hier nicht besonders gesprächig. Wie geht’s Elinor?«

«Gut. Nur ein bißchen schwach ist sie noch.«

«Tut mir leid, daß sie da hineingeraten ist. Es war meine Schuld.«

«Daran war sie selbst schuld, mein Lieber«, widersprach er.»Und Daniel… wegen Patty… was ich da gesagt habe.«

«Vergessen«, sagte ich.»Das ist lange her. Ich kann raus, haben Sie gesagt — heißt das, ich kann gleich raus?«

Er nickte.»Klar.«

«Hätten Sie was dagegen, wenn wir dann langsam mal von hier verschwinden?«

Er schaute sich um und fröstelte unwillkürlich. Als er meinem Blick begegnete, sagte er entschuldigend:»Mit so etwas hatte ich nicht gerechnet.«

Ich lächelte ein wenig.»Ich auch nicht.«

Wir waren nach London gefahren; mit dem Wagen bis Newcastle, dann weiter mit der Bahn. Weil ich auf der

Polizeistation erst noch eine Vorladung zur gerichtlichen Untersuchung von Adams’ Tod bekam, hatte ich mich nicht mehr waschen können, sonst hätten wir den Flying Scotsman verpaßt, in dem October uns Plätze reserviert hatte.

Wir waren zusammen in den Speisewagen gegangen, doch als ich ihm gegenüber Platz nehmen wollte, hatte mich ein Kellner am Ellbogen gepackt.

«Sie nicht«, sagte er grob.»Sie sind hier erster Klasse.«

«Ich habe einen Fahrschein für die erste«, sagte ich ruhig.

«So? Den würde ich gern mal sehen.«

Ich nahm das weiße Kärtchen aus der Tasche.

Er zog die Nase hoch und wies mit einer Kopfbewegung auf den Platz gegenüber October.»Na schön. «Zu October sagte er:»Wenn er lästig wird, brauchen Sie es nur zu sagen, Sir, dann fliegt er raus, mit oder ohne Fahrschein.«

Und in der Bewegung des Fahrt aufnehmenden Zuges schwankend, war er davongegangen.

Unnötig zu sagen, daß sich alle Speisewagengäste umgedreht hatten, um das Spektakel mitzubekommen.

Ich setzte mich grinsend. October wirkte ungemein verlegen.

«Machen Sie sich meinetwegen keinen Kopf«, sagte ich.

«Ich bin das gewohnt. «Und mir wurde klar, daß ich nun wirklich daran gewöhnt war und daß mir eine solche Behandlung nie mehr unter die Haut gehen würde. Ich griff zur Speisekarte.»Aber Sie dürfen auch gern so tun, als ob Sie nicht zu mir gehören.«

«Sie sind beleidigend.«

Ich lächelte ihn über die Karte hinweg an.»Gut.«

«So was Hinterhältiges wie Sie gibt’s nicht noch mal, Daniel. Vielleicht abgesehen von Roddy Beckett.«

«Mein lieber Edward… ein Scheibchen Brot für Sie?«

Er lachte, und wir waren einträchtig nach London gefahren, sicher eines der merkwürdigsten Paare, die je den Kopf in die gestärkten weißen Polsterschoner der British Rail gedrückt hatten.

Ich goß mir Kaffee nach und sah auf die Uhr. Colonel Beckett war schon zwanzig Minuten zu spät. Die Tauben saßen friedlich auf dem Fenstersims, und ich verlagerte mein Gewicht im Sessel, aber nicht aus Ungeduld, nicht aus Langeweile, und dachte an meinen Besuch bei Octobers Friseur, an die Freude, mit der ich mich von den langen Zotteln und den Koteletten getrennt hatte. Der Friseur (der sein Geld im voraus verlangt hatte) war von dem Ergebnis, wie er sagte, selbst überrascht.

«Das kann sich doch wenigstens sehen lassen, hm? Aber dürfte ich noch… eine Haarwäsche empfehlen?«

Grinsend hatte ich der Haarwäsche zugestimmt, die auf halber Höhe meines Halses eine Hochwassermarke der Sauberkeit hinterließ. In Octobers Haus genoß ich dann den fabelhaften Luxus, mich meiner dreckigen Verkleidung zu entledigen, ein Vollbad zu nehmen und — ein ganz eigenartiges Gefühl — nachher meine eigenen Sachen anzuziehen. Ich betrachtete mich wieder in dem großen Spiegel. Das war der Mann, der vor vier Monaten aus Australien gekommen war, ein Mann in einem dunkelgrauen Anzug, weißem Hemd, dunkelblauer Krawatte: das war jedenfalls seine Schale. Im Innern war ich nicht mehr derselbe und würde es auch nie mehr sein.

Ich ging hinunter in den roten Salon, wo October ernst um mich herumschritt, mir ein Glas strohtrockenen Sherry gab und meinte:»Es ist einfach nicht zu glauben, daß Sie der junge Flegel sind, der mit mir im Zug nach London gekommen ist.«

«Ich bin’s«, sagte ich nur, und er lachte.

Er bot mir einen Sessel an, der mit dem Rücken zur Tür stand, und ich trank Sherry und hörte mir an, wie er von seinen Pferden plauderte. Er stand dabei etwas verlegen am Kamin, und ich fragte mich, was er wohl vorhatte.

Ich kam bald dahinter. Die Tür öffnete sich, und er schaute an mir vorbei und lächelte.

«Ich möchte euch jemanden vorstellen«, sagte er.

Ich stand auf und drehte mich um.

Patty und Elinor standen vor mir.

Sie erkannten mich nicht gleich. Patty bot mir die Hand, sagte:»Guten Tag «und erwartete offensichtlich, daß ihr Vater uns bekannt machte.

Ich nahm ihre Hand in meine Linke und führte sie zu einem Sessel.

«Setzen Sie sich«, sagte ich.»Es gibt eine Überraschung.«

Sie hatte mich drei Monate nicht gesehen, aber Elinors verhängnisvoller Besuch bei Humber lag erst vier Tage zurück. Elinor sagte zögernd:»Sie sehen nicht so aus… aber Sie sind Daniel. «Ich nickte, und sie wurde knallrot.

Pattys strahlende Augen schauten in meine, und ihre rosa Lippen öffneten sich.

«Ist das wahr? Sie sind Danny?«

«Ja.«

«Oh. «Sie bekam einen genauso roten Kopf wie ihre Schwester, und das wollte bei Patty etwas heißen.

October sah, wie seine Töchter sich wanden.»Geschieht ihnen recht«, meinte er.»Nichts als Ärger haben sie gemacht.«»Aber nein«, rief ich aus,»Sie sind zu streng… und Sie haben ihnen immer noch nichts über mich erzählt, oder?«

«Nein«, sagte er unsicher, da ihm der Verdacht kam, seine Töchter könnten mehr Grund zum Erröten haben, als er ahnte, und das unverhoffte Wiedersehen könnte nicht ganz so verlaufen, wie er es sich vorgestellt hatte.

«Dann tun Sie das bitte jetzt, während ich mich mit Terence unterhalte. Und Patty… Elinor…«Sie waren erstaunt, daß ich sie mit dem Vornamen anredete, und ich lächelte flüchtig.»Ich vergesse immer alles ganz schnell.«

Sie wirkten beide bedrückt, als ich wiederkam, und October druckste verlegen um sie herum. Väter können, ohne es zu wollen, sehr unfreundlich gegen ihre Töchter sein, dachte ich.

«Kopf hoch«, sagte ich.»Ohne Sie beide hätte ich mich in England nur gelangweilt.«

«Sie waren gemein«, versetzte Patty mit alter Angriffslust.

«Ja… es tut mir leid.«

«Sie hätten es uns doch sagen können«, meinte Elinor leise.

«Quatsch«, warf October ein.»Dafür redet Patty zu gern.«

«Ach so«, verstand Elinor. Sie blickte zögernd zu mir.

«Ich habe mich noch nicht dafür bedankt, daß Sie… mich gerettet haben. Der Arzt hat mir… alles erzählt. «Sie wurde wieder rot.

«Dornröschen«, sagte ich lächelnd.»Sie haben ausgesehen wie meine Schwester.«

«Sie haben eine Schwester?«

«Zwei«, sagte ich.»Sechzehn und siebzehn.«

«Oh. «Ihr schien gleich wohler zu sein.

October warf mir einen Blick zu.»Sie sind viel zu nett zu denen, Daniel. Die eine hat mich dazu gebracht, Sie zu verabscheuen, die andere hätte Sie beinah das Leben gekostet, und Sie scheint das nicht zu kümmern.«

Ich lächelte ihn an.»Nein. Tut’s auch nicht. Vergessen wir’s einfach.«

So gestaltete sich der Abend trotz des schleppenden Auftakts schließlich noch angenehm; die beiden Mädchen konnten mir am Ende sogar ohne rot zu werden in die Augen sehen.

Als sie zu Bett gegangen waren, zog October mit zwei Fingern ein Stück Papier aus der Anzugjacke und gab es mir wortlos. Ich faltete es auseinander. Es war ein Scheck über zehntausend Pfund. Lauter Nullen. Ich sah sie mir schweigend an. Dann riß ich das Vermögen in der Mitte durch und warf die beiden Hälften in den Aschenbecher.

«Vielen Dank«, sagte ich.»Aber ich kann das nicht annehmen.«

«Sie haben Ihre Arbeit getan. Weshalb sollten Sie sich dafür nicht bezahlen lassen?«

«Weil…«Ich schwieg. Ja, weshalb? Ich wußte es nicht in Worte zu fassen. Es hing damit zusammen, daß ich mehr als erwartet gelernt hatte. Daß ich in zu tiefes Wasser vorgedrungen war. Daß ich getötet hatte. Ich wußte nur, daß ich den Gedanken, dafür Geld zu nehmen, nicht mehr ertragen konnte.

«Sie müssen doch einen Grund haben«, sagte October ein wenig gereizt.

«Nun, ich habe es eigentlich sowieso nicht des Geldes wegen getan, und so viel kann ich mir dafür nicht geben lassen. Wenn ich zu Hause bin, erstatte ich Ihnen auch alles, was von den ersten Zehntausend noch übrig ist.«

«Nicht doch«, widersprach er.»Die haben Sie sich verdient. Behalten Sie das Geld. Sie brauchen es für Ihre Familie.«

«Was ich für meine Familie brauche, verdiene ich mit dem Verkauf von Pferden.«

Er stupste seine Zigarre aus.»Man fragt sich, wie jemand, der so unverschämt selbständig ist, es als Pferdepfleger ausgehalten hat. Warum haben Sie das gemacht, wenn’s nicht ums Geld ging?«

Ich setzte mich anders. Die Knochen taten mir immer noch weh. Ich lächelte schwach.

«Zum Spaß, nehme ich an.«

Die Tür des Büros öffnete sich, und Beckett kam ohne Eile herein. Ich stand auf. Er bot mir die Hand, und seinen schwachen Händedruck brauchte ich nun wirklich nicht zu fürchten. Kurz und schmerzlos.

«Lange nicht gesehen, Mr. Roke.«

«Über drei Monate«, stimmte ich zu.

«Und Sie sind ins Ziel gekommen.«

Ich schüttelte den Kopf.»Am letzten Hindernis leider gestürzt.«

Er zog seinen Mantel aus, hängte ihn an einen Haken und nahm den grauen Wollschal ab. Sein Anzug war schwarzgrau, eine Farbe, die ihn noch dünner und sein Gesicht noch blasser erscheinen ließ, doch die Augen in den dunklen Höhlen waren so lebhaft wie immer. Er musterte mich aufmerksam.

«Nehmen Sie Platz«, sagte er.»Tut mir leid, daß ich Sie warten lassen mußte. Wie ich sehe, hat man sich um Sie gekümmert.«

«Ja, danke. «Ich setzte mich wieder hin, während er sich behutsam hinter dem Schreibtisch niederließ. Sein Sessel hatte Armlehnen und eine hohe Rückenlehne, und er drückte die Arme und den Kopf an.

«Ich habe Ihren Bericht erst am Sonntag morgen erhalten, als ich von Newbury zurückkam«, sagte er.»Der Brief war von Posset zwei Tage unterwegs und ist erst am Freitag bei mir angekommen. Als ich ihn gelesen hatte, rief ich Edward in Slaw an, und da hatte der gerade einen Anruf von der Polizei in Clavering gekriegt. Die habe ich dann wiederum angerufen. Noch am Sonntag habe ich ein paar Hebel in Bewegung gesetzt und mit etlichen einflußreichen Leuten gesprochen, damit Sie schnell freigelassen werden, und Montag früh hat die Staatsanwaltschaft entschieden, daß Sie sich nicht vor Gericht zu verantworten brauchen.«

«Vielen Dank«, sagte ich.

Er betrachtete mich schweigend.»Sie haben mehr dazu getan als Edward oder ich. Wir haben nur Ihre Aussage bestätigt und allenfalls dafür gesorgt, daß Sie ein, zwei Tage früher rausgekommen sind. Die Polizei in Clavering hatte aber wohl bei der Spurensicherung in dem Büro schon festgestellt, daß Ihre Aussage der Wahrheit entsprach. Sie hatte auch mit dem zu Elinor gerufenen Arzt und mit Elinor selbst gesprochen, sich den Schuppen mit dem Flammenwerfer angesehen und sich von Ihrem Anwalt eine Kurzfassung Ihres Vertrags mit Edward schicken lassen. Als ich da anrief, waren sie in Clavering schon von Ihrer Geschichte überzeugt und sich darin einig, daß Sie Adams in Notwehr getötet hatten.

Der Polizeiarzt, von dem Sie untersucht wurden, hatte ihnen gleich gesagt, daß die Prellungen an Ihrem rechten Unterarm von einem Schlag stammten, den kein Schädel heil überstanden hätte. Seines Erachtens war der Schlag nicht quer, sondern längs auf die Arminnenseite aufgetroffen und hatte deshalb zwar die Muskeln und Gefäße stark beschädigt, aber keinen Knochenbruch zur Folge; und der Arzt hat auch bestätigt, daß Sie eine Viertelstunde später durchaus in der Lage waren, Motorrad zu fahren.«

«Ich hatte wirklich den Eindruck, die glauben mir kein Wort«, sagte ich.

«Mhm. Nun, ich habe mit einem Ihrer Vernehmer vom Donnerstag abend gesprochen. Sie waren erst mal ein ganz klarer Fall für die, sagte er, und Sie hätten schlimm ausgesehen. Sie hätten ihnen eine hanebüchene Geschichte erzählt, und man habe versucht, Sie in Widersprüche zu verwickeln. Ein Kinderspiel, dachten sie, aber es sei so gewesen, als ob man auf Stein beißt. Zum Schluß hätten Ihnen, sehr zu ihrer eigenen Überraschung, alle geglaubt.«

«Hätten sie mir das nur gesagt«, seufzte ich.

«Nicht ihr Stil. Das sind harte Jungs.«

«Den Eindruck hatte ich auch.«

«Jedenfalls haben Sie es überstanden.«

«Gewiß.«

Beckett sah auf die Uhr.»Haben Sie’s eilig?«

«Nein. «Ich schüttelte den Kopf.

«Gut… ich hätte einiges mit Ihnen zu bereden. Essen wir zusammen zu Mittag?«

«Ja, gern.«

«Prima. Jetzt zu Ihrem Bericht. «Er zog die handgeschriebenen Blätter aus der Brusttasche und legte sie auf den Tisch.»Ich hätte gern, daß Sie den Absatz über die angeforderte Verstärkung streichen und dafür die Flammenwerferprozedur beschreiben, okay? Dort drüben sind Tisch und Stuhl. Fangen Sie gleich an, dann lasse ich das Ganze tippen.«

Als ich den Bericht beendet hatte, erklärte er mir, welche rechtlichen Schritte gegen Humber, Cass und Jud Wilson, aber auch gegen Soupy Tarleton und seinen Freund Lewis Greenfield eingeleitet worden waren. Dann sah er wieder auf die Uhr und entschied, es sei Essenszeit. Er führte mich in seinen Club, der ganz in Dunkelbraun gehalten schien, und wir nahmen Rindfleischpastete mit Nierchen und Pilzen, die ich deshalb aussuchte, weil ich sie unauffällig nur mit der Gabel essen konnte. Er bemerkte es trotzdem.

«Macht Ihnen der Arm noch zu schaffen?«

«Halb so schlimm.«

Er nickte nur. Dann erzählte er mir, daß er tags zuvor bei einem älteren Onkel von Adams gewesen sei, der als wohlhabender Junggeselle am Piccadilly lebte.

«Der junge Paul Adams war nach Ansicht seines Onkels ein Kandidat für die Besserungsanstalt, er hatte aber eben reiche Eltern gehabt. In Eton wurde er wegen gefälschter Schecks hinausgeworfen, und von der nächsten Schule flog er wegen fortgesetzten Glücksspiels. Seine Eltern mußten ihm immer wieder aus der Klemme helfen und sich von einem Psychiater sagen lassen, daß er sich niemals ändern würde, höchstens im späten Erwachsenenalter. Er war ihr einziges Kind. Es muß schrecklich für sie gewesen sein. Der Vater starb, als Adams fünfundzwanzig war, und seine Mutter gab sich weiterhin Mühe, ihn aus dem Schlimmsten herauszuhalten. Vor ungefähr fünf Jahren mußte sie ein Vermögen zahlen, um zu vertuschen, daß Adams offenbar ohne Grund einem jungen Mann den Arm gebrochen hatte, und daraufhin drohte sie ihm, wenn er so etwas noch einmal mache, werde sie ihn entmündigen lassen. Ein paar Tage später stürzte sie aus ihrem Schlafzimmerfenster und starb. Der Onkel, ihr Bruder, ist immer der Meinung gewesen, daß Adams sie gestoßen hat.«

«Nicht unwahrscheinlich«, stimmte ich zu.

«Sie haben ihn also zu Recht als Psychopath bezeichnet.«

«Da gab es kaum Zweifel.«

«Nach Ihrer persönlichen Erfahrung mit ihm?«

«Ja.«

Wir waren mit der Pastete fertig und beim Käse angelangt. Beckett sah mich neugierig an und sagte:»Wie hat es sich denn eigentlich gelebt bei Humber?«

«Oh«, meinte ich lächelnd,»ein Feriendorf ist schon was anderes.«

Er wartete, und als ich es dabei beließ, fragte er:»Mehr wollen Sie dazu nicht sagen?«

«Ich glaube nicht. Der Käse ist ausgezeichnet.«

Wir tranken Kaffee und ein Glas Kognak aus einer Flasche, auf der Becketts Name stand; dann gingen wir gemütlich zu seinem Büro zurück.

Er ließ sich wieder matt in seinen Sessel sinken, lehnte Arme und Kopf an, und ich setzte mich ihm gegenüber.

«Sie fliegen jetzt also bald heim nach Australien?«fragte er.

«Ja.«

«Und sicher freuen Sie sich darauf, daß die alte Tretmühle Sie bald wiederhat?«

Ich sah ihn an. Er erwiderte meinen Blick ruhig und ernst. Er wartete auf eine Antwort.

«Nicht unbedingt.«

«Wieso?«

«Eine Tretmühle ist eine Tretmühle.«

Eigentlich kein Thema, dachte ich.

«Auf Sie wartet ein gutes Leben, gutes Essen, Sonnenschein, Ihre Familie, ein schönes Haus und ein Beruf, der Ihnen liegt… habe ich recht?«

Ich nickte. Es war unvernünftig, davor zurückzuscheuen.

«Seien Sie offen«, sagte er plötzlich.»Sie brauchen nicht drumherumzureden. Woran fehlt’s?«

«Ich bin ein unzufriedener Kerl, weiter nichts«, meinte ich leichthin.

«Mr. Roke. «Er beugte sich ein wenig vor.»Ich stelle Ihnen diese Fragen mit gutem Grund. Antworten Sie bitte der Wahrheit gemäß. Was stört Sie an Ihrem Leben in Australien?«

Stille trat ein; er ließ mich nachdenken. Auch ohne seine Gründe zu kennen, antwortete ich schließlich in dem Gefühl, daß Offenheit nicht schaden konnte.

«Ich habe eine Arbeit, die mich ausfüllen sollte, aber sie langweilt mich und höhlt mich aus.«

«Ein Fleischfresser, der von Milch und Honig lebt«, meinte er.

Ich lachte.»Vielleicht fehlt mir die Würze.«

«Was wären Sie geworden, wenn Ihre Eltern nicht verunglückt wären und Sie nicht für drei Geschwister hätten sorgen müssen?«

«Anwalt, glaube ich, aber. «Ich zögerte.

«Aber?«

«Nun, es hört sich etwas seltsam an, besonders nach den letzten Tagen, aber vielleicht auch… Polizeibeamter.«

«Ah«, sagte er leise,»das kommt hin. «Er lehnte den Kopf wieder an und lächelte.

«Vielleicht würden Sie ruhiger, wenn Sie heirateten«, meinte er.

«Dann wäre ich noch mehr gebunden«, sagte ich.»Hätte noch eine Familie zu versorgen. Kein Ende der Tretmühle.«

«So sehen Sie das. Ja, und Elinor?«

«Sie ist nett.«

«Aber nicht die große Liebe?«

Ich schüttelte den Kopf.

«Sie haben alles getan, um ihr das Leben zu retten«, hob er hervor.

«Sie war ja nur durch mich in Gefahr geraten.«

«Wobei Sie nicht wissen konnten, daß sie, weil sie sich unwiderstehlich, ehm… zu Ihnen hingezogen fühlt, extra dort vorbeikommt, um Sie noch mal zu sehen. Als Sie zurückgefahren sind, um sie bei Humber rauszuholen, hatten Sie die Ermittlungen doch schon ganz abgeschlossen, ohne entdeckt worden zu sein. Hab ich recht?«

«Kann man sagen.«

«Hat es Ihnen Spaß gemacht?«

«Spaß gemacht?«wiederholte ich erstaunt.

«Oh, ich meine nicht die Keilerei zum Schluß oder die viele mühselige Arbeit vorher, sondern«- er lächelte flüchtig —»sagen wir, die Jagd?«

«Sie meinen, ob ich ein geborener Jäger bin?«

«Sind Sie’s?«

«Ja.«

Es war still. Meine klare, direkte Antwort hallte nach.

«Hatten Sie Angst?«fragte er sachlich.

«Ja.«

«Hat Sie das behindert?«

Ich schüttelte den Kopf.

«Sie wußten, daß Adams und Humber Sie umbringen würden, wenn Ihre Tarnung auffliegt. Wie hat sich das Leben in ständiger Gefahr auf Sie ausgewirkt?«Seine Stimme war so klinisch neutral, daß ich ebenso distanziert antwortete.

«Ich habe mich vorgesehen.«

«Weiter nichts?«

«Also, wenn Sie meinen, ob ich dauernd nervlich angespannt gewesen bin, das war ich nicht.«

«Mhm. «Wieder schwieg er kurz.»Was ist Ihnen am schwersten gefallen?«

Ich kniff die Augen zusammen, grinste und flunkerte ihn an.»Mit den scheußlichen spitzen Schuhen herumzulaufen.«

Er nickte, als wäre meine Antwort durchaus aufschlußreich. Wahrscheinlich war sie es. Die spitzen Schuhe hatten zwar nicht an den Füßen gedrückt, aber meinen Stolz verletzt.

Und mein Stolz hatte auch nicht zugelassen, daß ich Elinor gegenüber bei meinem ersten Besuch an ihrem College den Dummkopf spielte. Da hatte ich ihr mit Mark Aurel ganz einfach imponieren wollen, und die Folgen waren verheerend gewesen. Ich mochte gar nicht daran denken, geschweige denn es zugeben.

Beckett fragte wie nebenbei:»Könnten Sie sich vorstellen, etwas in der Art noch mal zu machen?«

«An sich schon. Aber so nicht mehr.«

«Wie meinen Sie?«

«Nun… ich wußte zum Beispiel nicht genug. So war es lediglich Glück, daß Humber sein Büro immer offenließ, denn sonst wäre ich nicht hineingekommen. Ich weiß nicht, wie man Türen ohne Schlüssel aufkriegt. Eine Kamera wäre gut gewesen… dann hätte ich das blaue Geschäftsbuch seitenweise ablichten können und so weiter, aber ich verstehe so gut wie nichts vom Fotografieren. Und ich hatte mich im Leben noch nie geprügelt. Wäre ich im Kampf ohne Waffen ein bißchen geübt, hätte ich wahrscheinlich weder Adams umgebracht noch selbst so viel einstecken müssen. Davon abgesehen hatte ich keine Möglichkeit, Sie im Notfall schnell zu erreichen. Ich war hoffnungslos isoliert.«

«Verstehe. Trotz alledem haben Sie die Sache zu Ende gebracht.«

«Das war Glück. Nichts, womit man rechnen darf.«

«Stimmt. «Er lächelte.»Was werden Sie mit Ihren zwanzigtausend Pfund anfangen?«

«Ich, ehm… die kann Edward zum größten Teil behalten.«

«Wie bitte?«

«So viel Geld kann ich nicht annehmen. Ich wollte ja eigentlich nur mal von zu Hause weg. Das Riesengeld war sein Vorschlag, nicht meiner. Er dachte wohl, sonst würde ich’s nicht machen, aber das war ein Irrtum. Ich hätte es auch umsonst gemacht, wenn das gegangen wäre. Er soll mir nur die Kosten für den Aufenthalt erstatten. Das habe ich ihm gestern abend schon gesagt.«

Es war eine Weile still. Schließlich setzte sich Beckett auf und griff zum Telefon. Er wählte eine Nummer und wartete.

«Hier Beckett«, sagte er.»Es geht um Daniel Roke… ja, er ist hier. «Er zog eine Karte aus dem Jackett.»Was die heute früh angesprochenen Punkte betrifft — ich habe mich mit ihm unterhalten. Haben Sie Ihre Karte vor sich?«

Er lauschte einen Moment und lehnte sich wieder in den Sessel zurück. Sein Blick ruhte auf meinem Gesicht.

«Okay?«sagte er in den Hörer.»Eins bis vier geht klar.

Fünf hinreichend. Punkt sechs ist seine Schwachstelle… vor Elinor Tarren hat er die Rolle nicht konsequent gespielt. Sie fand ihn intelligent und guterzogen. Damit stand sie allerdings allein. Ja, nehme ich auch an, Imponiergehabe… offenbar nur, weil Elinor nicht allein hübsch, sondern auch klug ist, denn bei der jüngeren Schwester hat er den Schein gewahrt… Ja, sie war mit Sicherheit nicht nur von seinem Äußeren, sondern auch von seiner Intelligenz angetan… er sieht sehr gut aus, das ist ja manchmal günstig… ach was. Er hat weder im Club noch hier im Haus in den Spiegel gesehen… Nein, zugegeben hat er’s nicht gerade, aber ich denke, er weiß genau, daß er da gepatzt hat. Teuer bezahlt, ja. Kann sich wiederholen, kann auch nur Mangel an Erfahrung gewesen sein… das klärt am besten Ihre Miss Jones.«

Es gefiel mir zwar nicht, daß ich so kalt analysiert wurde, aber ich mußte entweder hinauslaufen oder es mir anhören. Er sah mich immer noch ausdruckslos an.

«Punkt sieben… normale Reaktion. Acht, ein bißchen zwanghaft, was Ihnen ja nur gelegen kommt. «Er blickte kurz auf die Karte in seiner Hand.»Neun… tja, er ist zwar in England geboren und aufgewachsen, aber Australier aus Neigung, und so leicht kuscht er vor keinem… Weiß ich nicht, das war nicht aus ihm rauszukriegen… Einen Märtyrerkornplex würde ich nicht mal im Ansatz sehen, weit entfernt davon… Aber irgendwo hakt’s doch bei allen… Das liegt ganz bei Ihnen. Punkt zehn? Das GGE. GG läuft nicht, dazu ist er entschieden zu stolz. Bei E würde er sich Rat holen. Ja, er ist noch hier. Keine Miene verzogen. Sie sagen es… okay, ich rufe Sie wieder an.«

Er legte auf. Ich wartete. Er ließ sich Zeit, und ich dachte nicht daran, unter seinem Blick zu zappeln.

«Nun?«sagte er schließlich.

«Wenn Sie meine Antwort hören wollen, die ist nein.«

«Weil Sie nicht möchten oder wegen Ihrer Geschwister?«

«Philip ist erst dreizehn.«

«Verstehe. «Er wedelte matt mit der Hand.»Trotzdem sollten Sie zumindest wissen, was Ihnen entgeht. Der Kollege, der mich heute morgen aufgehalten hat und mit dem ich gerade telefoniert habe, leitet eine Abteilung der Abwehr, die nicht nur im politischen Bereich, sondern auch in Wissenschaft und Industrie arbeitet — wo immer es brennt. Seine Truppe ist spezialisiert auf Einsätze wie den Ihren — verdecktes Ermitteln als Randfigur. Es ist erstaunlich, wie wenig selbst Agenten auf Diener und Handwerker achten. seine Leute haben schon große Erfolge erzielt. Sie werden oft auf angebliche Einwanderer oder fragwürdig erscheinende politische Flüchtlinge angesetzt, aber die beobachten sie nicht aus der Ferne, sondern indem sie täglich unter ihnen arbeiten. In letzter Zeit waren sie am Bau mehrerer geheimer Objekte beteiligt, bei denen so gut wie nichts geheim blieb; ganze Pläne von Geheimanlagen wurden ins Ausland verkauft, und es stellte sich heraus, daß Bauarbeiter einen Industriespionagering mit Informationen versorgt und die Anlage in jedem Stadium fotografiert haben.«

«Philip«, sagte ich,»ist erst dreizehn.«

«Man stürzt sich nicht Hals über Kopf in so ein Leben. Sie sagen ja selbst, daß Ihnen die Ausbildung fehlt. Sie würden mindestens ein Jahr lang in verschiedenen Sparten geschult, bevor Sie zum Einsatz kämen.«

«Es geht nicht«, sagte ich.

«Zwischen den Einsätzen bekommen die Leute immer Urlaub. Dauert ein Einsatz wie bei Ihnen jetzt gerade vier

Monate, dann gibt es rund sechs Wochen frei. Sie arbeiten nach Möglichkeit höchstens neun Monate im Jahr. In den Schulferien könnten Sie oft zu Hause sein.«

«Wenn ich nicht immer da bin, kann ich die Schule nicht bezahlen und der Hof geht flöten.«

«Die britische Regierung würde Ihnen zwar weniger zahlen, als Sie jetzt verdienen«, räumte er ein,»aber es gibt doch immerhin auch Gestütsverwalter.«

Ich öffnete den Mund und schloß ihn wieder.

«Denken Sie darüber nach«, sagte er sanft.»Ich muß noch mit einem anderen Kollegen sprechen. In einer Stunde bin ich wieder da.«

Er stemmte sich aus dem Sessel und ging langsam aus dem Zimmer.

Die Tauben vorm Fenster schlugen friedlich mit den Flügeln. Ich dachte daran, wie ich über Jahre das Gestüt aufgebaut und was ich daraus gemacht hatte. Ich war noch relativ jung, und bis ich fünfzig war, konnte mein Gestüt durchaus zu den führenden Australiens zählen, und damit würden Ansehen, Wohlstand und Einfluß einhergehen.

Was Beckett mir anbot, war ein einsames Leben voll undankbarer Aufgaben und trister Quartiere, ein Leben in ständiger Gefahr, das leicht mit einer Kugel im Kopf enden konnte.

Vernünftig gesehen, gab es nur eins: Belinda, Helen und Philip brauchten nach wie vor ein richtiges Zuhause und einen Ersatzvater, der für sie da war. Außerdem würde kein vernünftiger Mensch sein gutgehendes Geschäft einem Verwalter übergeben, nur um so etwas wie ein Ausputzer für die kleineren Sorgen der Welt zu werden — höher ließ sich das nicht einstufen.

Aber Vernunft hin, Vernunft her… Ein kleiner Anstoß hatte mich bereits dazu gebracht, meine Familie sich selbst zu überlassen, denn da hatte Beckett recht, ich taugte nicht zum Märtyrer, und mein gesundes Geschäft hatte mich schon einmal in die tiefste Depression getrieben.

Ich wußte jetzt, wer ich war und was ich leisten konnte.

Mir fiel ein, wie ich fast den Mut verloren und dann doch weitergemacht hatte. Mir fiel ein, wie ich Elinors Hundepfeife in der Hand gehalten und mit einem direkt spürbaren Schlag die Wahrheit erkannt hatte. Mir fiel die Genugtuung ein, die ich in Kanderstegs versengtem Pferch empfunden hatte, weil ich wußte, Adams und Humber waren überführt und aus dem Spiel. So glücklich hatte mich der Verkauf eines Pferdes noch nie gestimmt.

Die Stunde verging. Die Tauben beschmutzten das Fenster und flogen davon. Colonel Beckett kam zurück.

«Also?«sagte er.»Ja oder nein?«

«Ja.«

Er lachte laut.»Einfach so? Ohne Fragen, ohne Vorbehalte?«

«Ohne Vorbehalte. Aber ich brauche Zeit, um daheim alles zu regeln.«

«Selbstverständlich. «Er griff zum Telefon.»Mein Kollege wird Sie sprechen wollen, bevor Sie nach Hause fliegen. «Er legte die Finger auf die Wählscheibe.»Ich melde Sie an.«

«Eine Frage hätte ich.«

«Ja?«

«Was ist das GGE von Punkt zehn?«

Er lächelte heimlich, und mir wurde klar, daß er die Frage hatte hören wollen; ich sollte also auch die Antwort hören. Wirklich hinterhältig. Meine Nasenflügel bebten im

Duft einer ganz neuen Welt. Einer Welt, die für mich geschaffen war.

«Ob man Sie mit Geld, Gewalt oder Erpressung dazu bringen kann, die Seite zu wechseln«, sagte er beiläufig.

Er wählte die Nummer und veränderte damit mein Leben.

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