Kapitel 4

Octobers Sohn und seine beiden Töchter kamen zum Wochenende nach Hause, das ältere Mädchen in einem knallroten TR4, der mir bald zum vertrauten Anblick wurde, da sie öfter an den Stallungen vorbeifuhr, und die Zwillinge mit ihrem Vater, nicht ganz so schnell. Da sie alle drei regelmäßig ausritten, wenn sie zu Hause waren, befahl mir Wally am Samstag, zwei meiner Pferde zum Hinausgehen mit dem ersten Lot zu satteln, Sparking Plug für mich und das andere für Lady Patricia Tarren.

Lady Patricia Tarren, so stellte ich fest, als ich das Pferd im ersten Morgengrauen zu ihr hinausführte, war eine hinreißende Schönheit mit blaßrosa Lippen und dichten, geschwungenen Wimpern, die sie geschickt einzusetzen wußte. Sie hatte ein grünes Kopftuch um ihr kastanienbraunes Haar gebunden und trug der Kälte wegen eine schwarzweiß gemusterte Skijacke. In der Hand hielt sie leuchtendgrüne Wollhandschuhe.

«Sie sind neu hier«, meinte sie und sah mich unter den Wimpern hindurch an.»Wie heißen Sie?«

«Dan… Miss«, sagte ich. Mir war gerade klargeworden, daß ich keine Ahnung hatte, wie eine Grafentochter anzureden war. Wally hatte sich dazu nicht geäußert.

«Gut… dann helfen Sie mir mal rauf.«

Ich trat gehorsam zu ihr hin, doch als ich mich bückte, um sie hochzuwerfen, strich sie mir mit der bloßen Hand über Kopf und Hals, nahm mein rechtes Ohrläppchen zwischen die Finger und kniff mit scharfen Nägeln fest hinein. Ihre großen Augen blitzten herausfordernd. Ich hielt ihrem Blick stand. Als ich mich weder rührte noch etwas sagte, kicherte sie, ließ das Ohr los und zog gelassen ihre Handschuhe an. Ich warf sie in den Sattel; sie beugte sich vor, um die Zügel aufzunehmen, und ließ direkt vor meinem Gesicht ihre dichten Wimpern klimpern.

«Gut schauen Sie aus, Danny«, sagte sie,»Danny mit den feurigen Augen.«

Mir fiel keine Antwort darauf ein, die sich mit meiner Stellung vereinbaren ließ. Sie lachte, setzte das Pferd in Bewegung und ritt über den Hof davon. Ihre Schwester, die ein von Grits gehaltenes Pferd bestieg, schien mir aus zwanzig Metern in dem schwachen Licht viel heller im Teint zu sein und beinah genauso schön. Gott helfe October, dachte ich, wenn er auf die beiden aufpassen muß.

Ich wollte kehrtmachen, um Sparking Plug zu holen, und da stand Octobers achtzehnjähriger Sohn neben mir. Er kam ganz nach seinem Vater, war aber noch nicht so kräftig und im Auftreten weniger souverän.

«Um meine Zwillingsschwester brauchen Sie sich nicht weiter zu kümmern«, sagte er mit ruhiger, gelangweilter Stimme und musterte mich.»Sie schäkert gern. «Er neigte den Kopf und ging zu seinem bereitstehenden Pferd; wie es aussah, hatte ich gerade eine Warnung erhalten. Wenn seine Schwester sich allen Männern gegenüber so aufreizend benahm, mußte er im Warnen geübt sein.

Belustigt holte ich Sparking Plug, saß auf und ritt hinter den anderen Pferden über die Felder zum Moor. Die Luft und die Aussicht waren wie immer, wenn das Wetter stimmte, fantastisch. Die Sonne kündigte sich am fernen Horizont erst an und gab ein Licht, als sei die Welt noch im Entstehen. Ich betrachtete die schattenhaften Umrisse der vor mir bergan ziehenden Pferde, sah die weißen Atemwölkchen, die in der kalten Luft ihren Nüstern entströmten. Als der glitzernde Rand der Sonne hervorbrach, war plötzlich alles in Licht und Farbe getaucht, die Pferde trabten in den verschiedensten Brauntönen, von denen sich die gestreiften Strickmützen der Reiter, die fröhlich bunten Kleider der Töchter Octobers abhoben.

October selbst, begleitet von seinem Hund, kam mit einem Landrover aufs Moor, um die Pferde bei der Arbeit zu sehen. Samstag war der Tag fürs Galopptraining, hatte ich festgestellt, und da sich der Graf zum Wochenende meist in Yorkshire aufhielt, legte er Wert darauf, dabeizusein.

Inskip ließ uns auf dem Berg im Kreis reiten, während er die Pferde in Zweiergruppen einteilte und ihre Reiter instruierte.

Zu mir sagte er:»Dan, gehen Sie etwas mehr als halbschnell. Ihr Pferd läuft am Mittwoch. Nicht zu hart rannehmen, aber wir wollen sehen, was er draufhat. «Als Begleitpferd teilte er mir eins der besten des Stalls zu.

Nachdem er seine Anweisungen gegeben hatte, trabte er den breiten grünen Grasstreifen entlang, der sich durch das Heidegestrüpp zog, und October fuhr langsam hinter ihm her. Wir gingen weiter im Kreis, bis die beiden am anderen Ende der etwa zweieinhalb Kilometer langen, sanft geschwungenen, sanft ansteigenden Arbeitsbahn angelangt waren.

«Okay«, sagte Wally zum ersten Paar.»Ab!«

Die beiden Pferde galoppierten an, gingen zunächst ein gleichmäßiges Tempo, beschleunigten mehr und mehr, zogen an Inskip und October vorbei, wurden langsamer und hielten an.

«Die nächsten zwei«, rief Wally.

Wir waren bereit und galoppierten sofort los. In Australien hatte ich unzählige Rennpferde gezüchtet und angeritten, aber in England hatte ich mit Sparking Plug zum erstenmal ein gutes erwischt, und mich interessierte, wie er abschneiden würde. Daß er ein Hürdler war und ich mehr an Flachpferde gewöhnt war, erwies sich als ganz unproblematisch, und trotz seines harten Mauls, gegen das ich liebend gern etwas getan hätte, galoppierte er ausgezeichnet. Ruhig und gleichmäßig, in perfekter Haltung, flog er die Bahn entlang und hielt mühelos mit dem sieggewohnten Begleitpferd mit, und obwohl wir wie angewiesen nur halbes Tempo gingen, stand außer Zweifel, daß Sparking Plug fit und für das kommende Rennen bereit war.

Ich war so engagiert geritten, daß ich ganz vergessen hatte, meinen Reitstil zu verhunzen. Das wurde mir erst klar, als ich das Pferd anhielt — keine leichte Übung bei dem Maul — und mit ihm zurückritt. Ich stöhnte innerlich über mich selbst: Was ich in England vorhatte, würde mir nie gelingen, wenn ich mit dem Kopf so wenig bei der Sache war. Ich brachte Sparking Plug neben dem Begleitpferd vor Inskip und October zum Stehen, damit sie sehen konnten, wie sehr die Tiere schnauften. Sparking Plugs Rippen hoben und senkten sich leicht: Er war kaum außer Atem. Die beiden Männer nickten, und mein Kollege und ich sprangen ab und führten die Pferde trocken.

Paar für Paar kamen die anderen Pferde die Bahn herunter, und ihnen folgte eine Gruppe von nur leicht Galoppierenden. Als alle gearbeitet hatten, saßen die meisten Pfleger wieder auf, und wir traten den Rückweg vom Trainingsgelände zum Stall an. Ich führte mein Pferd als letztes im Lot, und Octobers ältere Tochter, die unmittelbar vor mir ritt, schnitt mich praktisch von der Unterhaltung der anderen Pfleger ab. Sie betrachtete die weite Moorlandschaft, ohne dabei am Vordermann zu bleiben, und bis wir den Feldweg erreichten, waren ihre Vorderleute zehn Meter entfernt.

Als sie an einem Ginsterbusch vorbeikam, flog kreischend und flügelschlagend ein Vogel auf, und ihr Pferd fuhr erschrocken herum und stieg. Mit bemerkenswerter Körperbeherrschung blieb sie oben und zog sich von irgendwo unter dem rechten Ohr des Pferdes wieder in den Sattel, doch unter ihrem Tritt riß der Bügelriemen, und der Steigbügel fiel klirrend auf die Erde.

Ich blieb stehen und hob ihn auf, aber er ließ sich nicht mehr am Riemen befestigen.

«Danke«, sagte sie.»Wie ärgerlich!«

Sie sprang herunter.»Den Rest kann ich genausogut zu Fuß gehen.«

Ich ergriff den Zügel ihres Pferdes, um es für sie zu führen, doch sie nahm ihn mir gleich wieder ab.

«Sehr liebenswürdig«, sagte sie,»aber das kann ich schon selbst. «Der Weg war hier recht breit, und sie ging neben mir den Hang hinunter.

Bei näherem Hinsehen glich sie ihrer Schwester Patricia überhaupt nicht. Sie hatte glattes, silberblondes Haar, helle Wimpern, offen blickende graue Augen, einen festen, freundlichen Mund und strahlte eine Ruhe aus, in der Anmut und Zurückhaltung lagen. Unbefangen gingen wir eine Weile schweigend nebeneinander her.

«Ein herrlicher Morgen«, sagte sie schließlich.

«Herrlich«, stimmte ich zu,»aber kalt. «Die Engländer reden immer übers Wetter, dachte ich, und im November sind schöne Tage so selten, daß man erst recht darüber spricht. Zu Hause ging es auf den Sommer zu…

«Sind Sie schon lange bei uns?«fragte sie kurz darauf.

«Erst zehn Tage.«»Und gefällt es Ihnen?«

«Aber ja. Der Stall ist gut geführt.«

«Mr. Inskip würde sich freuen, das zu hören«, meinte sie trocken.

Ich warf ihr einen Blick zu, doch sie sah lächelnd vor sich auf den Boden.

Nach weiteren hundert Metern sagte sie:»Was haben Sie da für ein Pferd? Ich glaube, das kenne ich auch noch nicht.«

«Es ist erst seit Mittwoch hier…«Ich erzählte ihr das Wenige, was ich über Sparking Plugs Herkunft, seine Fähigkeiten und Möglichkeiten wußte.

Sie nickte.»Wäre schön für Sie, wenn er ein paar Rennen gewinnen könnte. Wo Sie ihn doch betreuen.«

«Ja«, sagte ich, erstaunt, daß sie so dachte.

Wir näherten uns wieder dem Stall.

«Entschuldigen Sie«, sagte sie freundlich,»aber ich weiß nicht, wie Sie heißen.«

«Daniel Roke«, sagte ich — und wunderte mich, wieso es mir nach all den Leuten, die mich in den letzten Tagen danach gefragt hatten, nur bei ihr angebracht schien, mit dem vollen Namen zu antworten.

«Danke. «Sie schwieg und sagte dann in einem ruhigen Ton, aus dem ich erfreut, aber auch belustigt das Bestreben heraushörte, mich nicht in Verlegenheit zu bringen:»Lord October ist mein Vater. Ich bin Elinor Tarren.«

Wir waren beim Hoftor angelangt. Ich ließ ihr den Vortritt, was mir ein freundliches, wenn auch unpersönliches Lächeln eintrug, und sie führte ihr Pferd über den Hof zu seiner Box. Ein wirklich nettes Mädchen, dachte ich flüchtig, als ich mich daranmachte, Sparking Plug den Schweiß abzubürsten, ihm die Hufe zu reinigen, Mähne und

Schweif auszukämmen, Augen und Maul auszuschwam-men, sein Stroh zu erneuern und ihm Wasser und Heu zu bringen, bevor ich das Pferd, das Patricia geritten hatte, ebenso versorgte. Patricia, dachte ich grinsend, war ganz und gar kein nettes Mädchen.

Als ich zum Frühstück ins Haus ging, gab mir Mrs. Allnut einen Brief, der gerade für mich gekommen war. Der Umschlag, abgestempelt in London am Tag zuvor, enthielt ein Blatt Papier mit einem einzigen maschinegeschriebenen Satz:

«Mr. Stanley wird am Sonntag um 15 Uhr bei den Victoriafällen sein.«

Ich stopfte den Brief in meine Tasche und ließ mir meinen Haferbrei schmecken.

Es regnete stark, als ich am nächsten Nachmittag den Bach entlangspazierte. Ich war vor October an der kleinen Böschung und wartete auf ihn, während sich die Regentropfen einen Weg in meinen Kragen suchten. Er kam wieder mit seinem Hund den Berg herunter; sein Wagen, sagte er, stehe oben an der wenig befahrenen Straße.

«Wir unterhalten uns aber besser hier, wenn es Ihnen nicht zu naß ist«, fügte er hinzu,»sonst sieht uns vielleicht jemand im Auto hocken und wundert sich.«

«Es ist mir nicht zu naß«, versicherte ich ihm lächelnd.

«Gut… also, wie kommen Sie voran?«

Ich sagte ihm, was ich von Becketts neuem Pferd hielt und von den neuen Möglichkeiten, die es mir bot. - Er nickte.»Roddy Beckett war im Krieg berühmt für die Geschwindigkeit und Präzision, mit der er Versorgungsgüter nachschob. Wenn er das Sagen hatte, geriet niemand an die falsche Munition oder an lauter linke Stiefel.«

«Einige Zweifel an meiner Ehrlichkeit habe ich schon mal geweckt«, sagte ich,»aber die kann ich diese Woche in Bristol und nächstes Wochenende in Burndale noch verstärken. Da nehme ich am Sonntag an einem Darttur-nier teil.«

«In Burndale gab es schon öfter Dopingfälle«, meinte er nachdenklich.»Vielleicht beißt einer an.«

«Wäre nicht schlecht.«

«Konnten Sie mit den Rennberichten was anfangen?«fragte er.»Haben Sie über die elf Pferde noch mal nachgedacht?«

«Ich habe an kaum etwas anderes gedacht«, sagte ich,»und ich halte es für möglich, auch wenn die Chance vielleicht nicht groß ist, daß Sie beim nächsten Pferd, das an die Reihe kommt, einen Dopingtest vornehmen können, bevor es an den Start geht. Immer vorausgesetzt, es gibt ein nächstes Pferd… Aber ich wüßte nicht, was dagegen spricht, da den Verantwortlichen noch nie etwas passiert ist.«

Er sah mich gespannt an, während der Regen von der heruntergeklappten Krempe seines Hutes troff.

«Sie haben eine Spur?«

«Nicht direkt. Es ist nur ein statistischer Anhalt. Aber ich könnte mir denken, daß das nächste Pferd ein Verkaufsrennen entweder in Kelso, Sedgefield, Ludlow, Stafford oder Haydock gewinnt. «Ich erläuterte ihm die Gründe für meine Annahme und fuhr fort:»Es müßte doch möglich sein, vor allen Verkaufsrennen auf diesen Bahnen generell Speichelproben zu nehmen — bei einer zweitägigen Veranstaltung gibt’s ja doch nur immer eins —, und man kann die Proben ja wegwerfen und die Untersuchungskosten sparen, wenn, ehm… kein Dopingverdacht aufkommt.«

«Ziemlicher Aufwand«, meinte er langsam,»aber wenn es was bringt, läßt sich das auch machen.«

«Vielleicht stoßen die Chemiker auf etwas Brauchbares.«

«Ja. Aber auch sonst sind wir schon ein ganzes Stück weiter, wenn wir ein gedoptes Pferd abpassen können, statt nur hilflos dazustehen, wenn wieder eins aufgetaucht ist. Menschenskind«, er schüttelte gereizt den Kopf,»daß wir da nicht längst dran gedacht haben. Jetzt, wo Sie es sagen, liegt es auf der Hand, das so anzugehen.«

«Bis jetzt hat ja auch noch keiner wirklich alle verfügbaren Informationen vor sich gehabt und bewußt nach einem gemeinsamen Faktor gesucht. Das Problem ist quasi immer von der anderen Seite angegangen worden, indem man bei jedem neuen Fall die Frage stellte, wer hatte Zugang zu dem Pferd, wer hat’ s gefüttert, wer gesattelt und so weiter.«

Er nickte düster.

«Und noch etwas«, sagte ich.»Die Chemiker meinten doch, da keine Droge nachzuweisen sei, sollten Sie nach mechanischen Einwirkungen suchen… Wissen Sie, ob die Pferde äußerlich genauso gründlich untersucht worden sind wie die Jockeys und ihre Ausrüstung? Mir kam neulich abend der Gedanke, daß ich mit einem Wurfpfeil ohne weiteres ein Pferd in die Flanke treffen könnte, und genauso könnte jeder gute Schütze da ein Gummigeschoß landen. So etwas würde wirken wie ein Hornissenstich… das macht jedem Pferd Beine.«

«Soweit ich weiß, ist bei keinem der Pferde etwas Derartiges gefunden worden, aber ich frage noch mal. Übrigens habe ich im Labor nachgehört, ob Pferde Drogen in harmlose Substanzen aufspalten können, und es hieß, das sei unmöglich.«

«Also wieder eine Unklarheit beseitigt.«

«Ja. «Er pfiff seinem Hund, der auf der anderen Seite der Böschung herumstöberte.»Nächstes Wochenende sind Sie ja in Burndale, aber danach sollten wir uns sonntags nachmittags um diese Zeit hier immer treffen und besprechen, wie es vorangeht. Wenn ich samstags nicht zur Morgenarbeit komme, wissen Sie, daß ich nicht da bin. Übrigens war Ihr reiterisches Können gestern auf Sparking Plug unübersehbar. Dabei hatten wir doch ausgemacht, daß Sie sich etwas zurückhalten. Und obendrein«, setzte er mit einem kleinen Lächeln hinzu,»hält Inskip Sie für einen flinken und gewissenhaften Arbeiter.«

«Verdammt… wenn ich nicht aufpasse, bekomme ich noch ein gutes Zeugnis.«

«Ein sehr gutes«, ahmte er meinen Akzent nach.»Wie gefällt Ihnen denn das Pferdepflegerdasein?«

«Manchmal hat es was… Ihre Töchter sind sehr hübsch.«

Er lächelte.»Ja — danke übrigens, daß Sie Elinor geholfen haben. Sie sagte mir, Sie seien sehr aufmerksam gewesen.«

«Nicht der Rede wert.«

«Patty macht mir ganz schön zu schaffen«, meinte er nachdenklich.»Ich wünschte, sie könnte sich mal entscheiden, was sie mit ihrem Leben anfangen will. So wie in London geht das mit ihr nicht weiter — endlose Partys, ausgehen bis in die Puppen… na ja, das ist nicht Ihre Sorge, Mr. Roke.«

Wir gaben uns wie üblich die Hand, und er stapfte den Berg hinauf. Es war immer noch trist und naß, als ich den Rückweg antrat.

Sparking Plug reiste wie geplant die vierhundert Kilometer hinunter nach Bristol, und ich begleitete ihn. Die

Rennbahn lag außerhalb der Stadt, und der Transportfahrer erzählte mir, als wir unterwegs zum Essen anhielten, daß die Stallungen dort, nachdem ein Feuer sie verwüstet hatte, komplett neu gebaut worden seien.

Die Boxen waren wirklich sauber und bequem, doch was die Pfleger in Begeisterung versetzte, waren die neuen Unterkünfte für sie selbst. Auch ich staunte darüber. Im wesentlichen bestand die Herberge aus einem Erholungsraum und zwei langen Schlafsälen mit je dreißig Betten, alle frisch bezogen unter flauschigen blauen Wolldecken. Jedes Bett hatte eine eigene Wandleuchte, die Räume hatten Fußbodenheizung und waren mit Vinyl ausgelegt, im Waschraum gab es moderne Duschen, daneben einen extra Raum zum Trocknen nasser Kleidung. Das ganze Haus war warm und hell, die Farbenzusammenstellung offensichtlich Facharbeit.

«Gott, wir sind echt im Hilton«, meinte ein Spaßvogel, der, gerade zur Tür hereingekommen, neben mir stehenblieb und seine Leinentasche auf ein freies Bett warf.

«Das hier ist noch gar nichts«, sagte ein langer, knochiger Bursche in einem zu kleinen blauen Pulli,»wenn du durch den Flur gehst, kommst du in eine Riesenkantine mit ordentlichen Stühlen, Fernseher, Pingpongtisch und allem Pipapo.«

Andere Stimmen fielen ein.

«Das reicht an Newbury ran.«

«Aber locker.«

«Es schlägt Ascot.«

Einige nickten.

«In Ascot gibt’s doch nur Etagenbetten.«

Die Herbergen in Newbury und Ascot galten offenbar als die komfortabelsten im Land.

«Man könnte meinen, die Bonzen hätten plötzlich geschnallt, daß wir auch Menschen sind«, hetzte ein Fuchsgesicht mit streitlustiger Stimme.

«Ein himmelweiter Unterschied zu den verwanzten Pennen von früher«, nickte ein älterer kleiner Mann mit einem Gesicht wie ein verschrumpelter Apfel.»Aber in Amerika sollen die Jungs es überall so gut haben.«

«Die wissen hier auch, daß ihnen die Dreckarbeit bald keiner mehr abnimmt, wenn sie uns nicht anständig behandeln«, sagte der Hetzer.»Die Zeiten ändern sich.«

«Wo ich herkomme, wird man ganz gut behandelt«, sagte ich, warf meine Sachen auf das freie Bett neben seinem und gab mich so locker, natürlich, unauffällig, wie es eben ging. Ich war hier viel befangener als in Slaw, wo ich wenigstens meine Arbeit in- und auswendig kannte und zu den anderen Pflegern vorsichtig eine normale Beziehung hatte aufbauen können. Hier blieben mir nur zwei Abende, und wenn ich vorankommen wollte, mußte ich das Gespräch in die gewünschte Richtung lenken.

Die Rennberichte hatte ich inzwischen gut im Kopf, und seit vierzehn Tagen spitzte ich die Ohren, um mir den Rennsportjargon anzueignen; dennoch zweifelte ich, ob ich alles, was ich in Bristol zu hören bekam, verstehen würde, und hatte Angst, ich selbst könnte mich auf die unmöglichste und unpflegerhafteste Art und Weise verplappern.

«Wo kommst’n her?«fragte der Spaßvogel, indem er mich beiläufig musterte.

«Von Lord October«, sagte ich.

«Ach, von Inskip, meinst du? Da bist du aber weit gefahren.«

«Inskip mag angehen«, räumte der Hetzer widerwillig ein,»aber für manche sind wir doch immer noch die Fußabtreter; die glauben nicht, daß wir genauso Anrecht auf ein bißchen Sonne haben wie jeder andere auch.«

«Ja«, sagte der Knochige ernst.»Ich hab von einem Stall gehört, wo die Pfleger kaum was zu beißen kriegen und geknüppelt werden, wenn sie nicht hart genug rangehen, und auf jeden kommen vier bis fünf Pferde, weil’s da keiner lange aushält.«

«Wo ist denn das?«fragte ich träge.»Damit ich da einen Bogen drum machen kann, wenn ich bei Inskip mal aufhöre.«

«Bei dir in der Gegend«, antwortete er unbestimmt.

«Irgendwo.«

«Nein, weiter nördlich, in Durham…«, meldete sich ein anderer, ein schlanker, hübscher Kerl, dem noch der erste Bartflaum sproß.

«Du kennst das also auch?«

Er nickte.»Spielt aber eigentlich keine Rolle, weil nur ein Verrückter dahin geht. Ein Ausbeutungsbetrieb ist das, Zustände wie vor hundert Jahren. Die kriegen auch nur Gesindel, das sonst keiner haben will.«

«Das muß an die Öffentlichkeit«, schimpfte der Hetzer.

«Wem gehört denn der Laden?«

«Einem gewissen Humber«, sagte der Hübsche,»Keine Ahnung vom Trainieren und jedes Schaltjahr ein Sieg… Auf der Rennbahn sieht man manchmal seinen Reisefuttermeister, wie er Leute zu ködern sucht und dann prompt eine Abfuhr kriegt.«

«Da muß man doch was tun«, sagte der Hetzer automatisch, und ich nahm an, das war seine übliche Leier: Da muß man doch was tun — nur bitte nicht er selbst.

Alle zogen in die Kantine, wo es reichlich, gut und kostenlos zu essen gab. Auf den anschließenden Gang in die

Kneipe wurde verzichtet, als sich herausstellte, daß die nächste gut drei Kilometer entfernt war und kein Bus dahin fuhr, daß aber in der schönen, warmen Kantine einige Kasten Bier hinter dem Tresen standen.

Es war nicht weiter schwer, die Jungs auf das Thema Doping zu bringen, und dann wollten sie gar nicht mehr damit aufhören. Keiner von den über zwanzig Anwesenden hatte jemals einem Pferd» etwas gegeben«, zumindest gab es keiner zu, aber alle kannten jemanden, der einen kannte, welcher. Ich trank mein Bier, hörte zu und machte ein ungespielt interessiertes Gesicht.

«… hat ihn mit einem Spritzer Säure lahmgelegt, als er aus dem Führring kam.«

«. ihm eine solche Ladung Langsam-Macher verpaßt, daß er am Morgen in der Box eingegangen ist.«

«… sieben Gummiringe aus dem Mist gezogen.«

«. derart vollgepumpt, daß er am ersten Sprung durchgelaufen ist; er war stockblind.«

«… eine halbe Stunde vor dem Rennen einen großen Eimer Wasser, das ihm dann im Bauch herumgeschwappt ist.«

«. ihm einen halben Liter Whisky eingetrichtert.«

«… früher hat man Pferden, die nicht richtig atmen konnten, am Renntag eine Kanüle in die Luftröhre eingesetzt, bis sich rausstellte, daß nicht die verbesserte Sauerstoffzufuhr sie zum Sieg geführt hat, sondern das Kokain, mit dem sie vor der Operation vollgeknallt wurden.«

«Der hatte einen hohlen Apfel in der Hand, gefüllt mit Schlaftabletten…«

«… wirft er die Spritze direkt einem Steward vor die Füße.«

«Gibt es denn eigentlich etwas, das noch keiner probiert hat?«fragte ich.

«Schwarze Magie höchstens«, meinte der Hübsche.

Alle lachten.

«Es könnte aber mal einer einen Dreh finden«, warf ich ein,»den keiner durchschaut und den man endlos durchziehen kann, ohne aufzufliegen.«

«Himmel«, rief der Spaßvogel,»beschrei das nicht. Der arme alte Rennsport, man wüßte ja gar nicht mehr, woran man ist. Die Buchmacher würden ausrasten. «Er grinste breit.

Der kleine Ältere war weniger amüsiert.

«Das gibt’s doch schon lange«, sagte er und nickte ernst.

«Manche Trainer haben das zu einer hohen Kunst entwickelt, aber wirklich. Die dopen ihre Pferde regelmäßig seit Jahr und Tag.«

Aber die anderen Pfleger widersprachen. Die Dopingkontrollen hätten mit der alten Garde der falschspielenden Trainer aufgeräumt; die hätten ihre Lizenz verloren und arbeiteten nicht mehr im Rennsport. Das alte Reglement sei streng gewesen, gaben sie zu, denn danach wurde ein Trainer schon wegen eines einzigen gedopten Pferdes automatisch von allen Rennen ausgeschlossen. Nicht immer aber steckte der Trainer dahinter, schon gar nicht, wenn das Pferd leistungsmindernd gedopt war. Welcher Trainer, fragten sie, würde ein Pferd verlieren lassen, das er monatelang auf Sieg trainiert hatte? Aber seit der neuen Regelung wurde ihrer Meinung nach wahrscheinlich mehr gedopt als früher.

«Ist doch klar, jetzt wissen die Leute, daß sie dem Trainer nicht gleich das Leben ruinieren, sie versauen ihm höchstens ein Rennen. Gibt weniger Gewissensbisse. Vielleicht wären auch mehr Pfleger bereit, für einen Fünfziger ein paar Aspirin ins Futter zu mischen, wenn sie wüßten, daß der Stall dann nicht zugemacht wird und ihr Job flötengeht.«

Sie unterhielten sich weiter, nachdenklich und derb, doch es war klar, daß sie über die elf Pferde, die mich beschäftigten, nichts wußten. Keiner von ihnen arbeitete für die betroffenen Ställe, und offensichtlich kannten sie die Berichte und Mutmaßungen aus der Presse nicht oder hatten sie vereinzelt über einen Zeitraum von anderthalb Jahren gelesen, anstatt wie ich alles auf einmal, in der Zusammenschau.

Die Diskussion verebbte, Gähnen machte sich breit, und als wir schwatzend schlafen gingen, seufzte ich erleichtert, weil ich den Abend hinter mich gebracht hatte, ohne groß aufzufallen.

Da ich genau darauf achtete, was die anderen Pfleger taten, zog ich auch am nächsten Tag keine neugierigen Blik-ke auf mich. Am frühen Nachmittag holte ich Sparking Plug aus dem Stall, führte ihn im Führring herum, hielt ihm den Kopf, während er gesattelt wurde, führte ihn wieder herum, hielt ihn, als der Jockey aufsaß, führte ihn auf die Bahn und schaute dann von der Tribüne fürs Stallpersonal aus dem Rennen zu.

Sparking Plug gewann. Ich freute mich. Ich nahm ihn am Ausgang vom Geläuf wieder in Empfang und führte ihn in den großen Absattelring für den Sieger.

Colonel Beckett erwartete uns dort, auf einen Stock gestützt. Er klapste das Pferd, gratulierte dem Jockey, der seinen Sattel abnahm, um zur Waage zu gehen, und meinte ironisch zu mir:»Damit wäre wenigstens etwas vom Kaufpreis wieder reingeholt.«

«Es ist ein gutes Pferd und für den Zweck goldrichtig.«

«Schön. Brauchen Sie sonst noch was?«

«Ja. Noch viel mehr Einzelheiten über die elf Pferde… wo sie gezogen wurden, was sie gefressen haben, ob sie mal krank waren, wo ihre Transportfahrer Rast gemacht haben, woher ihr Zaumzeug stammt, ob sie auf der Bahn beschlagen wurden und von welchem Schmied… all diese Sachen.«

«Ist das Ihr Ernst?«

«Ja.«

«Aber sie hatten doch nichts gemeinsam, außer daß sie gedopt waren.«

«Wie ich das sehe, muß die Frage heißen, was hatten sie gemeinsam, damit sie gedopt werden konnten?« Ich streichelte Sparking Plugs Nase. Er war nervös und aufgeregt nach seinem Sieg. Colonel Beckett sah mich nüchtern an.

«Mr. Roke, Sie werden Ihre Informationen bekommen.«

Ich lächelte.»Vielen Dank. Und auf Sparking Plug passe ich jetzt auf. Der holt Ihnen den Kaufpreis leicht wieder raus.«

«Pferde wegführen«, rief ein Funktionär; und nach einem müden Winken von Colonel Beckett brachte ich Sparking Plug zurück zu den Stallungen und führte ihn, bis er sich beruhigt hatte.

An diesem Abend, dem Abend zwischen den beiden Renntagen, waren viel mehr Pfleger in der Herberge, und ich brachte das Gespräch wieder aufs Doping, versuchte außerdem aber auch den Eindruck zu erwecken, ich sei nicht unbedingt der Meinung, ablehnen zu müssen, wenn mich jemand bitten würde, ihm für fünfzig Pfund zu zeigen, in welcher Box ein bestimmtes Pferd stand. Dafür erntete ich ziemlich viele mißbilligende Blicke, aber auch einen sehr aufmerksamen von einem kleinwüchsigen Pfleger, der regelmäßig die zu groß geratene Nase hochzog.

Am nächsten Morgen im Waschraum benutzte er das Becken neben meinem und zischelte:»War das dein Ernst gestern abend, fünfzig auf die Hand, und du zeigst auf eine Box?«

Ich zuckte die Achseln.»Warum denn nicht?«

Er sah sich verstohlen um. Es war zum Lachen.»Ich könnte dich vielleicht mit einem zusammenbringen, den das interessiert — wenn wir halbe-halbe machen.«

«Halbe-halbe?«fuhr ich ihn an.»Wofür hältst du mich?«

«Na gut… ich will fünf«, gab er nach und zog die Nase hoch.

«Ich weiß nicht…«

«Ein reelles Angebot«, murmelte er.

«Man darf doch nicht jedem zeigen, wo ein Pferd steht«, sagte ich tugendhaft und trocknete mein Gesicht ab.

Er starrte mich verblüfft an.

«Unter sechzig geht’s auf keinen Fall, wenn du fünf abhaben willst.«

Er wußte nicht, ob er lachen oder fluchen sollte. Ich ließ ihn damit allein und machte mich auf den Weg, um Sparking Plug heim nach Yorkshire zu bringen.

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