Kapitel 16

Ich kauerte den ganzen Tag in einem Graben und beobachtete, wie Adams, Humber und Jud Wilson Kandersteg zu Tode ängstigten.

Es war übel.

Die Mittel, die sie benutzten, waren im Prinzip so einfach wie die ganze Methode; den Erfolg garantierte eine besonders angelegte, knapp ein Hektar große Koppel.

Die schmale, hohe Hecke, die um die Koppel lief, war bis in Schulterhöhe mit dickem, glattem Draht durchzogen. Vier bis fünf Meter weiter innen verlief ein stabiler Lattenzaun, dessen Holz vom Wetter eine freundliche graubraune Farbe angenommen hatte.

Auf den ersten Blick sah es aus wie die doppelte Umzäunung, die man in vielen Gestüten anlegt, damit die Jungtiere sich nicht am Draht verletzen. Aber hier verlief der Innenzaun an den Ecken nicht rechtwinklig, sondern rund, so daß zwischen den beiden Abzäunungen praktisch eine Miniaturrennbahn entstanden war.

Es sah ganz harmlos aus. Eine Jungtierweide, eine Trainingsbahn für Rennpferde, für Springpferde… je nachdem. Mit einem Geräteschuppen gleich draußen am Gatter. Sinnvoll. Normal.

Ich hielt mich halb kniend, halb liegend am Ende der einen Längsseite der Koppel in einem Abflußgraben hinter der Hecke verborgen und befand mich knapp hundert Meter rechts von dem in der anderen Ecke gelegenen Schuppen. Die Hecke war bis dreißig Zentimeter über dem Boden gestutzt, und der liegengebliebene Schnitt gab mir Deckung, doch weiter oben wuchs der blattlose Weißdorn dürr und gerade in die Höhe, durchsichtig wie ein Sieb. Aber ich nahm an, solange ich mich still verhielt, wurde ich nicht bemerkt. Und auch wenn ich gefährlich nah dran war, so nah, daß ich gar nicht mehr das Fernglas brauchte es gab weit und breit kein besseres Versteck.

Auf der anderen Seite der Koppel und zu meiner Rechten ragten kahle Hügel auf; hinter mir lagen gut zwanzig Hektar offenes Weideland, und die durch ein paar Nadelbäume von der Straße abgeschirmte Schmalseite links hatten Adams und Humber direkt vor Augen.

Um den Graben zu erreichen, hatte ich den unzureichenden Schutz der letzten kleinen Anhöhe verlassen und eine fünfzehn Meter breite Grasfläche überqueren müssen, als gerade keiner der Männer zu sehen war. Aber der Rückzug würde weniger schweißtreibend sein, denn dann brauchte ich nur die Dunkelheit abzuwarten.

Der Transporter stand neben dem Schuppen, und ich war kaum von der Anhöhe zu meinem jetzigen Standort gelangt, als ich auch schon Hufgeklapper auf der Rampe hörte und Kandersteg ausgeladen wurde. Jud Wilson führte ihn durchs Gatter auf die grasbedeckte Bahn. Adams folgte ihm, schloß das Gatter, löste dann eine schwenkbare Zaunlatte und legte sie als Schranke über die Bahn. Er ging an Jud und dem Pferd vorbei und tat das gleiche mit einer zweiten Zaunlatte ein paar Meter weiter, so daß Jud und Kandersteg jetzt in einem kleinen Pferch in der Ecke standen. Ein Pferch mit drei Ausgängen: dem Gatter und den beiden als Schlagbäume dienenden Zaunlatten.

Jud ließ das Pferd los, das friedlich zu weiden begann, und er und Adams begaben sich zu Humber in den Schuppen. Der verwitterte Holzschuppen ähnelte einer Stallbox, mit Fenster und im oberen Teil aufklappbarer Tür, und ich nahm an, dort hatte Mickey den größten Teil seiner dreitägigen Abwesenheit verbracht.

Im Schuppen wurde eine Zeitlang geklappert und gehämmert, doch von meinem Posten aus konnte ich nicht sehen, was vorging.

Schließlich kamen alle drei heraus. Adams lief um den Schuppen herum, tauchte hinter der Koppel wieder auf und ging den Hang hinauf. Er ging zügig bis obenhin und blickte ringsum in die Landschaft.

Humber und Wilson trugen gemeinsam ein Gerät auf die Koppel, das einem Staubsauger ähnelte, ein trommelförmiger Behälter mit Schlauch. Sie stellten die Trommel in die Ecke, und Wilson nahm den Schlauch in die Hand. Kandersteg, der friedlich neben ihnen das Gras abfraß, hob den Kopf und sah sie ohne Neugier, ohne Argwohn an. Er fraß weiter.

Humber war mit ein paar Schritten bei der ersten vorgelegten Schranke, schien etwas nachzuprüfen und stellte sich dann wieder neben Wilson, der zu Adams hinaufblickte.

Adams winkte lässig von oben herunter.

Humber führte am Rand der Koppel etwas zum Mund.

Ich war zu weit entfernt, um mit bloßem Auge zu erkennen, ob es eine Pfeife war, und zu nah, als daß ich es gewagt hätte, das Fernglas herauszuholen. Aber auch wenn ich nicht das geringste hörte, bestand eigentlich kein Zweifel. Kandersteg hob den Kopf, spitzte die Ohren und sah Humber an.

Ein Flammenstoß schoß plötzlich aus dem Schlauch in Wilsons Hand. Er reichte nicht ganz an das Pferd heran, erschreckte es aber gewaltig. Es fiel auf die Hinterhand zurück und legte die Ohren an. Im selben Moment beweg-te Humber den Arm, und die hochklappende Schranke gab den Weg auf die Bahn frei. Das Pferd ließ sich nicht erst bitten.

Es stürmte in wilder Flucht um die Bahn, rutschte in den Kurven, schlitterte gegen den Lattenzaun, donnerte drei Meter an meinem Kopf vorbei. Wilson öffnete die zweite Schranke, und er und Humber zogen sich durchs Gatter zurück. Kandersteg ging zweimal mit hoher Geschwindigkeit um die ganze Bahn, bevor sein gestreckter Hals sich ein wenig entspannte und er in einen ruhigeren, halbwegs natürlichen Galopp verfiel.

Humber und Wilson beobachteten ihn, und Adams, der den Hang herunterkam, gesellte sich am Gatter zu ihnen.

Sie warteten, bis das Pferd sich müde gelaufen hatte und ein Stück rechts von mir nach etwa dreieinhalb Runden von selbst stehenblieb. Dann sperrte Jud Wilson mit einer Schranke wieder die Bahn ab und ging, einen Stock und eine Hetzpeitsche schwenkend, hinter dem Pferd her, um es in die Ecke zu treiben. Kandersteg, verunsichert, schwitzend, wollte sich nicht fangen lassen und fiel in einen nervösen Trab.

Jud Wilson schwenkte Stock und Peitsche und blieb stur hinter ihm. Kandersteg trabte leise an mir vorbei; ich hörte seine Hufe durch das kurze Gras wischen, aber ich schaute nicht mehr hin. Mein Gesicht war am Fuß der Hecke vergraben, und ich hielt krampfhaft still. Sekunden vergingen wie Stunden.

Ich hörte ein Hosenbein gegen das andere scheuern, hörte gedämpfte Schritte auf Gras, ein Knallen der langen Peitsche… aber nicht den befürchteten Wutschrei. Wilson ging weiter die Koppel entlang.

Meine ganz auf rasche Flucht vom Graben zum Motorrad eingestellten Muskeln entspannten sich langsam. Ich schlug die Augen auf, sah faules Laub vor meiner Nase und brachte erst mal Speichel in meinen Mund. Vorsichtig, Zentimeter für Zentimeter, hob ich den Kopf und lugte über die Koppel hin.

Das Pferd hatte die Schranke erreicht, und Wilson schloß gerade hinter ihm die andere, so daß es wieder auf engem Raum eingesperrt war. Eine halbe Stunde ließen sie es in Ruhe. Sie verzogen sich in den Schuppen, und mir blieb nichts anderes übrig, als zu warten, bis sie wieder auftauchten.

Es war ein schöner, klarer, ruhiger Morgen, aber etwas zu kalt, um ihn in einem feuchten Graben zu verbringen. Da jedoch jede Bewegung, die über das Durchbiegen von Fingern und Zehen hinausging, gefährlicher sein konnte als eine Lungenentzündung, blieb ich still liegen und beruhigte mich mit dem Gedanken, daß ich von Kopf bis Fuß schwarz angezogen war, zudem schwarze Haare hatte und in schwarzbraunem Moderlaub lag. Wegen der schützenden Farbe hatte ich den Graben einer Senke am Hang vorgezogen, und das war ein Glück, denn von seinem Aussichtspunkt aus hätte Adams meine dunkle Gestalt an dem hellgrünen Hang mit ziemlicher Sicherheit sofort entdeckt.

Ich sah nicht, wie Jud Wilson aus dem Schuppen kam, aber ich hörte ihn das Gatter öffnen, und schon betrat er den Pferch und legte die Hand an Kanderstegs Zügel, als wollte er ihm die Angst nehmen. Aber wie konnte ein Mensch, der Pferde mochte, mit dem Flammenwerfer auf sie losgehen? Und genau das hatte Jud offensichtlich wieder vor. Er ließ das Pferd stehen, ging zu dem Gerät in der Ecke, ergriff den Schlauch und stellte die Düse neu ein.

Bald darauf erschien Adams und spazierte den Hang hinauf, und Humber hinkte mit seinem Gehstock zu Jud auf die Koppel.

Sie mußten lange auf Adams’ Zeichen warten, denn er ließ erst drei Autos auf der einsamen Heidestraße passieren. Dann war die Luft rein. Sein Arm ging lässig hoch und wieder runter.

Humber führte die Hand zum Mund.

Kandersteg wußte schon, was das bedeutete. Verängstigt lief er auf den Hinterbeinen rückwärts, bis der Flammenwerfer hinter ihm in Aktion trat und ihn jäh zum Stehen brachte.

Diesmal war der Feuerstoß stärker, länger, dichter an ihm dran, und Kandersteg geriet in noch größere Panik. Wieder und wieder raste er um die Bahn — auf mich zu, an mir vorbei, auf mich zu… Aber diesmal blieb er am oberen Ende der Koppel stehen, weit von meinem Versteck entfernt.

Jud ging nicht um das Geläuf, sondern mitten über die Koppel, um hinter ihn zu gelangen. Ich seufzte zutiefst erleichtert auf.

Obwohl ich mich eigentlich so hingelegt hatte, daß es bequem auszuhalten war, taten mir vom Stillhalten langsam die Knochen weh, und ich hatte einen Krampf in der rechten Wade, aber solange die drei Männer in Sicht waren, wagte ich es dennoch nicht, mich zu bewegen.

Sie sperrten Kandersteg in seinen kleinen Pferch und verzogen sich in den Schuppen, und ich reckte und streckte mich ganz vorsichtig, ganz leise in dem faulen Laub, bis der Krampf verschwand und tausend Nadelstiche ihn ablösten. Nun ja… es konnte nicht ewig dauern.

Offensichtlich war aber noch ein Durchgang geplant. Der Flammenwerfer war noch an seinem Platz.

Die Sonne stand inzwischen hoch am Himmel, und ich bemerkte ihren Widerschein auf dem linken Ärmel meiner Lederjacke, nicht weit von meinem Gesicht. Das fiel auf. In Hecken und Gräben gab es normalerweise nichts, was das Licht so zurückwarf wie schwarzes Leder. Mußte Wilson, wenn er noch mal in meine Nähe kam, das merkwürdige Glitzern nicht einfach sehen?

Adams und Humber kamen aus dem Schuppen, beugten sich über das Gatter und betrachteten Kandersteg. Dann zündeten sie sich Zigaretten an und hielten ein Schwätzchen. Sie hatten es nicht eilig. Sie rauchten zu Ende, warfen die Kippen weg und blieben noch zehn Minuten, wo sie waren. Dann ging Adams zu seinem Wagen und kehrte mit Flasche und Gläsern zurück. Jetzt kam auch Wilson aus dem Schuppen, und alle drei standen sie in der Sonne, tranken und plauderten gemütlich miteinander, als wäre alles in bester Ordnung.

Für sie war es ja auch Routine. Sie hatten das schon mindestens zwanzigmal gemacht. Ihr jüngstes Opfer stand regungslos im Pferch, wachsam, verängstigt, viel zu verstört, um zu fressen.

Ich bekam Durst, als ich den dreien zusah, aber das war eine meiner geringsten Sorgen. Das Stillhalten wurde immer schwieriger. Geradezu eine Tortur.

Endlich ließen sie es gut sein. Adams brachte Flasche und Gläser weg und spazierte wieder den Hang hinauf, Humber sah nach den Schranken, und Jud stellte die Schlauchdüse ein.

Adams winkte. Humber pfiff.

Diesmal zeichnete sich Kandersteg schwarz gegen eine schreckliche Flammenwand ab. Wilson lehnte sich zurück, und der ausgreifende, helle Feuerstoß kippte ab und geriet plötzlich unter den Bauch, zwischen die Beine des Pferdes. Ich hätte beinah aufgeschrien, als würde ich und nicht das Pferd verbrannt. Und einen gräßlichen Augenblick lang sah es aus, als sei Kandersteg zu erschrocken, um zu fliehen.

Dann schrie er und schoß wie ein Meteor um die Bahn, auf der Flucht vor dem Feuer, vor den Schmerzen, vor einer Hundepfeife.

Er war so schnell, daß er die Kurve nicht bekam. Er krachte in die Hecke, prallte ab, stolperte und fiel hin. Mit herausquellenden Augen, gebleckten Zähnen rappelte er sich verzweifelt hoch und stürmte weiter, an meinem Kopf vorbei, die Längsseite hinauf, noch einmal rund, noch zweimal.

Kaum zwanzig Meter von mir entfernt kam er mit einem Ruck zum Stehen. Schweiß lief ihm an Hals und Beinen hinunter. Seine Muskeln zitterten krampfhaft.

Jud Wilson machte sich mit Stock und Peitsche auf den Weg um die Bahn. Ich steckte mein Gesicht wieder ins Laub und sagte mir zum Trost, daß uns ja immer noch ein ordentlicher Drahtzaun trennte, der mir Vorsprung geben würde, wenn er mich sah. Aber das Motorrad war zweihundert Meter hinter mir im Unterholz versteckt, und die gewundene Straße lag mindestens noch einmal so weit entfernt, und Adams’ grauer Jaguar stand gleich neben dem Pferdetransporter. Ich hätte auf einen Fluchterfolg nicht wetten mögen.

Kandersteg war zu verschreckt, um sich zu rühren. Ich hörte Wilson schreien und mit der Peitsche knallen, aber es dauerte eine ganze Minute, bis die Hufe stockend, trappelnd, stampfend, unsicher an mir vorbeistolperten.

Trotz der Kälte schwitzte ich. Meine Güte, dachte ich, du hast mindestens soviel Adrenalin im Blut wie das Pferd und mir wurde bewußt, daß ich, seit Wilson seinen Scheuchgang um die Bahn angetreten hatte, mein eigenes Herz hämmern hörte.

Jud Wilson brüllte Kandersteg so dicht neben mir an, daß es wie eine Ohrfeige war. Die Peitsche knallte.

«Na los, na los, komm schon!«

Er stand nur Schritte von meinem Kopf entfernt. Kan-dersteg rührte sich nicht. Wieder knallte die Peitsche. Jud schrie und stampfte auffordernd mit dem Fuß. Ich spürte die leise Erschütterung des Erdbodens. Ein Meter war vielleicht noch zwischen uns, aber er sah auf das Pferd. Wenn er den Kopf drehte… Ich hatte das Gefühl, sogar entdeckt zu werden sei besser als die furchtbare Anstrengung des Stillhaltens. Dann war es plötzlich vorbei.

Kandersteg tänzelte weg, prallte gegen den Lattenzaun und sprang weiter mit unsicheren Schritten die Koppel hinauf. Jud Wilson folgte ihm.

Ich blieb steif wie ein Brett liegen; erschöpft. Langsam beruhigte sich mein Puls. Ich konnte wieder atmen… und ließ den Moder los, in den sich meine Finger gekrallt hatten.

Schritt für Schritt trieb Jud den unwilligen Kandersteg in die Ecke, ließ die Schranken herunter und pferchte das Pferd wieder ein. Dann holte er den Flammenwerfer und nahm ihn mit hinaus. Sie waren fertig. Adams, Humber und Wilson stellten sich nebeneinander und begutachteten ihr Werk.

Das helle Haarkleid Kanderstegs wies große dunkle Stellen auf, wo ihm der Schweiß ausgebrochen war, und er stand steifbeinig, mit steifem Hals in seinem Pferch. Sobald sich einer der drei Männer rührte, schrak er zusammen und stand dann wieder wie erstarrt; es würde zweifellos noch geraume Zeit dauern, bis er sich soweit beruhigt hatte, daß sie ihn verladen und nach Posset zurückbringen konnten.

Mickey war drei Tage fort gewesen, doch das führte ich darauf zurück, daß sie ihm versehentlich die Beine so verbrannt hatten. Da Kanderstegs Abrichtung ohne Zwischenfall verlaufen war, stand seiner baldigen Heimkehr nichts im Wege. Mir und meinen geschundenen Knochen konnte das nur recht sein. Ich sah den dreien zu, wie sie in der Sonne herumfuhrwerkten, zwischen Auto und Schuppen, Schuppen und Transporter hin und her liefen, ziellos den Vormittag vertaten, es aber so einzurichten wußten, daß sie dabei keinen Moment alle gleichzeitig außer Sicht waren. Ich fluchte vor mich hin und widerstand der Versuchung, mich an der Nase zu kratzen.

Endlich ein Lichtblick. Adams und Humber stiegen in den Jaguar und fuhren Richtung Tellbridge davon. Aber Jud Wilson holte eine Tragetüte aus dem Fahrerhaus des Transporters, setzte sich auf das Gatter und begann sein mitgebrachtes Mittagessen zu verzehren. Kandersteg verhielt sich in seinem Pferch so still wie ich in meinem Graben.

Jud Wilson aß zu Ende, knüllte die Tüte zusammen, gähnte und zündete sich eine Zigarette an. Kandersteg schwitzte weiter, ich ächzte weiter. Alles blieb ruhig. Zeit verging.

Jud Wilson warf die Kippe fort und gähnte wieder. Dann stieg er langsam, ganz langsam vom Gatter herunter und brachte den Flammenwerfer in den Schuppen.

Er war kaum durch die Tür, als ich auch schon der Länge nach ganz in den Graben hineinrutschte, ob er nun feucht war oder nicht, Hauptsache, ich konnte meine sauren, verkrampften Arme und Beine strecken und entspannen.

Als ich auf die Uhr sah, war es zwei. Ich hatte Hunger und bedauerte, daß ich nicht daran gedacht hatte, Schokolade mitzunehmen.

Ich lag den ganzen Nachmittag im Graben, ohne etwas zu hören, und wartete darauf, daß der Transporter abfuhr.

Nach einiger Zeit war ich trotz der Kälte und Jud Wilson nahe daran einzuschlafen — und dagegen mußte ich nun wirklich dringend etwas tun. Ich wälzte mich auf den Bauch und hob vorsichtig, Zentimeter für Zentimeter den Kopf, um zu Kandersteg und dem Schuppen hinüberzuschauen.

Jud Wilson saß wieder auf dem Gatter. Er mußte meine Bewegung aus dem Augenwinkel gesehen haben, denn er wandte sich von dem vor ihm stehenden Kandersteg ab und drehte den Kopf in meine Richtung. Einen Sekundenbruchteil schien es, als sähe er mir direkt in die Augen, dann ging sein Blick über mich hinweg und kehrte zu Kandersteg zurück.

Ich stieß langsam die Luft aus und unterdrückte ein Husten.

Das Pferd schwitzte noch immer, die dunklen Flecken waren deutlich zu sehen, aber es wirkte nicht mehr wie erstarrt, und noch während ich hinsah, schlug es mit dem Schweif und schüttelte unruhig den Kopf. Es war über den Berg.

Vorsichtiger denn je ließ ich den Kopf auf die verschränkten Arme sinken und wartete.

Kurz nach vier kamen Adams und Humber mit dem Jaguar zurück, und wie ein Kaninchen beim Verlassen des Baus schob ich die Nase wieder vor.

Sie entschlossen sich, das Pferd nach Hause zu schaffen. Jud Wilson fuhr den Transporter rückwärts ans Gatter und ließ die Rampe herunter, und mit Ach und Krach wurde Kandersteg, der sich gegen jeden Schritt sträubte, verladen. Die Not des armen Tiers war selbst von weitem nicht zu übersehen. Ich liebte Pferde. Es freute mich, daß ich dem Treiben von Adams, Humber und Wilson ein Ende machen konnte.

Ich tauchte wieder ab, und bald darauf hörte ich, wie erst der Jaguar, dann der Transporter gestartet wurde und beide in Richtung Posset abfuhren.

Als sie nicht mehr zu hören waren, stand ich auf, reckte mich, klopfte mir die Laubreste ab und ging an der Koppel entlang, um mir den Schuppen einmal anzusehen.

Er war abgesperrt und mit einem aufwendigen Vorhängeschloß gesichert, aber durchs Fenster sah ich, daß außer dem Flammenwerfer, ein paar Kanistern, vermutlich mit Brennstoff, einem großen Blechtrichter und drei Gartenstühlen, die zusammengeklappt an der Wand lehnten, kaum etwas drin war. Da lohnte sich ein Einbruch nicht, obwohl das Schloß kein Hindernis darstellte, denn seine Halterung war einfach auf Tür und Rahmen geschraubt. So einfallsreich Gauner mitunter waren, sie konnten auch erstaunlich beschränkt sein.

Ich trat durch das Gatter in Kanderstegs kleinen Pferch. Wo er gestanden hatte, war das Gras versengt. Die Zaunlatten waren auf der Innenseite weiß gestrichen, so daß sie den Rails auf der Rennbahn ähnelten. Ich schaute sie mir eine Weile an und mußte daran denken, was das Pferd an diesem scheinbar harmlosen Ort durchgestanden hatte; dann riß ich mich los und kehrte an meinem Grabenversteck vorbei zum Motorrad zurück. Ich stellte es auf, hängte den Sturzhelm über den Lenker und trat den Kickstarter durch.

Das war’s, dachte ich. Meine Arbeit war getan. Heimlich, still und leise. Alles klar. Ich brauchte nur noch den Bericht von gestern zu ergänzen und der Hindernisbehörde das Fazit vorzulegen.

Ich fuhr zu der Stelle zurück, von der aus ich Humbers Hof beobachtet hatte, doch da war niemand. Entweder hatte Beckett meinen Brief nicht bekommen, oder er hatte niemanden abstellen können, oder der Abgestellte war das Warten leid geworden und hatte sich getrollt. Meinen Koffer, die Decke und den Rest Verpflegung hatte niemand angerührt.

Bevor ich zusammenpackte und der Gegend adieu sagte, nahm ich auf eine spontane Regung hin das Fernglas heraus, um noch ein letztes Mal hinunter auf die Stallungen zu schauen.

Was ich sah, machte meine ganze schöne Selbstzufriedenheit und Selbstbeglückwünschung zunichte.

Ein roter Sportwagen bog in den Hof ein. Er hielt neben Adams’ grauem Jaguar, die Tür ging auf, und ein Mädchen stieg aus. Ich war zu weit weg, um ihr Gesicht zu erkennen, aber ich kannte den Wagen und die fabelhaften silberblonden Haare. Sie warf die Autotür zu und ging zögernd aus meinem Blickfeld hinaus zum Büro.

Ich fluchte laut. Etwas Vertrackteres, etwas Schlimmeres hätte überhaupt nicht passieren können! Elinor hielt mich für einen normalen Pferdepfleger, denn ich hatte ihr nichts gesagt. Aber ich hatte mir eine Hundepfeife von ihr ausgeliehen. Und sie war Octobers Tochter. Konnte man davon ausgehen, fragte ich mich erschrocken, daß sie beides unerwähnt ließ und Adams nicht auf den Gedanken brachte, sie sei eine Gefahr für ihn?

Viel konnte ihr eigentlich nicht passieren, dachte ich. Solange sie erkennen ließ, daß nicht sie, sondern ich allein über die Hundepfeifen Bescheid wußte, war sie in Sicherheit.

Und wenn sie das nun nicht klar rüberbrachte? Adams war ja immer unberechenbar. Er dachte nicht normal. Er war ein Psychopath. Ohne lange zu fackeln, hatte er einen Journalisten umgebracht, der ihm zu neugierig geworden war. Was sollte ihn daran hindern, noch einmal zu morden, wenn er sich einredete, es sei nötig?

Ich gebe ihr drei Minuten, dachte ich. Wenn sie nach mir fragt und man ihr sagt, daß ich nicht mehr da bin, und sie fährt gleich wieder, ist ja alles gut.

Ich wollte, daß sie aus diesem Büro herauskäme und sich in ihr Auto setzte. Es schien mir ohnehin fraglich, ob ich sie da rausholen konnte, wenn Adams ihr etwas antun wollte, denn dann mußte ich auch mit Humber, Wilson und Cass rechnen. Ich hätte mir das gern erspart. Aber drei Minuten vergingen, und der rote Wagen stand immer noch verlassen auf dem Hof.

Sie hatte sich auf eine Unterhaltung eingelassen, und sie ahnte nicht, daß es Dinge gab, die besser ungesagt blieben. Hätte ich ihr seinerzeit erzählt, warum ich bei Humber war, wäre sie niemals gekommen. Es war meine Schuld, daß sie dort war. Ich mußte alles tun, damit sie wohlbehalten wieder herauskam. Sonnenklar.

Ich legte das Fernglas in den Koffer, ließ ihn und die Decke, wo sie waren, zog den Reißverschluß meiner Jacke zu, setzte den Sturzhelm auf, trat die Maschine an und fuhr ins Tal hinab zu Humber.

An der Einfahrt ließ ich das Motorrad stehen und ging Richtung Stall, vorbei an dem Schuppen, in dem der Pferdetransporter stand. Das Tor war geschlossen, von Jud Wilson keine Spur. Vielleicht war er schon heimgefahren; hoffentlich. Ich betrat den Stallhof von der Büroseite her und sah Cass auf der anderen Seite über die Tür der vierten Box von links schauen. Kandersteg war zu Hause.

Adams’ Jaguar und Elinors TR4 standen nebeneinander in der Hofmitte. Die Pfleger waren ganz bei ihrer Arbeit, und alles sah normal und friedlich aus.

Ich öffnete die Tür zum Büro und trat ein.

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