Kapitel 2

Neun Tage später flog ich mit einer Boeing 707 nach England.

Ich schlief fast die ganzen sechsunddreißig Stunden von Sydney nach Darwin, von Darwin über Singapur und Rangun nach Kalkutta, von Kalkutta nach Karachi und Damaskus und von Damaskus über Düsseldorf zum Londoner Flughafen.

Hinter mir lag eine Unzahl praktischer Vorkehrungen und die Schreibarbeit von Monaten, gedrängt in eine einzige Woche. Ich wußte zwar nicht, wie lange ich fortbleiben würde, sagte mir aber, daß ein halbes Jahr genügen mußte, um etwas zu erreichen, und ging auch bei meiner Planung davon aus.

Der Gestütsmeister sollte die volle Verantwortung für die Ausbildung und den Verkauf der vorhandenen Pferde übernehmen, jedoch keine neuen kaufen oder züchten. Mit der Wartung des Geländes und der Gebäude beauftragte ich eine Firma. Die Frau, die für meine in der Baracke wohnenden Pfleger kochte, versprach mir, meine Geschwister mitzuversorgen, wenn sie in den großen Weihnachts-Sommerferien von Dezember bis Februar nach Hause kamen.

Meine Bank erhielt vordatierte Schecks für Schulgeld, Pferdefutter und Sattelzeug, und meinem Futtermeister übergab ich gleich einen ganzen Stapel Schecks, die er der Reihe nach zur Entlohnung und Verpflegung der Männer

einlösen sollte. October versicherte mir, daß mein Honorar mir unverzüglich überwiesen werde.

«Wenn ich keinen Erfolg habe, bekommen Sie Ihr Geld zurück, abzüglich meiner Auslagen«, erklärte ich ihm.

Er schüttelte den Kopf, aber ich bestand darauf, und am Ende schlossen wir einen Kompromiß. Zehntausend bekam ich sofort, und die anderen zehn, wenn mein Einsatz Erfolg brachte.

Ich ging mit October zu meinen Anwälten und ließ die etwas ungewöhnliche Abmachung in die nüchternen Worte eines rechtsgültigen Vertrags fassen, den er mit einem ironischen Lächeln nach mir unterschrieb.

Mit seiner Belustigung war es jedoch prompt vorbei, als ich ihn im Hinausgehen bat, mein Leben zu versichern.

«Ich glaube nicht, daß das geht«, sagte er stirnrunzelnd.

«Weil sich… kein Versicherer dafür findet?«fragte ich.

Er antwortete nicht.

«Ich habe einen Vertrag unterschrieben«, hob ich hervor.»Glauben Sie, ich habe das blind getan?«

«Das war Ihre Idee. «Er machte ein gequältes Gesicht.

«Ich werde Sie nicht darauf festnageln.«

«Was ist wirklich mit dem Journalisten passiert?«fragte ich.

Er schüttelte den Kopf und wich meinem Blick aus.

«Ich weiß es nicht. Es sah schon aus wie ein Unfall. Er kam in einer Kurve im Moor von Yorkshire von der Straße ab. Der Wagen fing Feuer, als er den Abhang hinunterstürzte. Er hatte keine Chance. Ein so netter Kerl.«

«Es schreckt mich nicht ab, wenn Sie Grund haben, anzunehmen, daß es kein Unfall war«, sagte ich ernst,»aber seien Sie offen zu mir. War es keiner, dann müßte er schon weit gekommen sein, dann muß er etwas Entscheidendes herausgefunden haben. Für mich wäre es dann wichtig zu wissen, wo er gewesen ist und was er in den Tagen vor seinem Tod gemacht hat.«

«Haben Sie sich das überlegt, bevor Sie zugesagt haben?«

«Natürlich.«

Er lächelte, als sei ihm ein Stein vom Herzen gefallen.

«Bei Gott, Mr. Roke, je näher ich Sie kennenlerne, desto froher bin ich, daß ich in Perlooma zu Mittag gegessen und mich hinter Arthur Simmons geklemmt habe. Nun… Tommy Stapleton — der Journalist — war ein guter Fahrer, aber gegen Unfälle ist wohl keiner gefeit. Es geschah an einem Sonntag Anfang Juni. Eigentlich schon Montag. Er starb gegen zwei Uhr früh. Um halb zwei war einem Anwohner der Straße noch nichts aufgefallen, und gegen halb drei sah ein Ehepaar, das von einer Party kam, das durchbrochene Geländer an der Kurve und hielt an. Der Wagen brannte noch. Sie sahen den roten Feuerschein im Tal und meldeten den Unfall in der nächsten Stadt.

Die Polizei nimmt an, daß Stapleton am Steuer eingeschlafen ist. Gibt es ja öfter. Sie konnte aber nicht feststellen, wo er nach der Abfahrt von irgendwelchen Freunden um fünf bis zu dem Unglück im Moor gewesen ist. Das ist nur eine Stunde Fahrt, es bleiben also acht Stunden offen. Niemand hat die Lücke gefüllt und gesagt, er sei den Abend bei ihm gewesen, obwohl in fast allen Zeitungen darüber berichtet wurde. Es hieß dann wohl, er könne mit einer Frau zusammengewesen sein. der Frau eines anderen, die aus gutem Grund schweigt. Jedenfalls wurde das Ganze als normaler Verkehrsunfall behandelt.

Wo er in den Tagen davor war, haben wir unauffällig überprüft. Er hat nichts getan, was von seinem Arbeitsalltag abgewichen wäre. Er fuhr am Donnerstag in London, wo seine Zeitung ihren Sitz hat, los, ging Freitag und Samstag in Bogside zum Pferderennen, blieb zum Wochenende bei Freunden in der Nähe von Hexham, Northumberland, und brach dort, wie gesagt, am Sonntag gegen siebzehn Uhr auf, um nach London zurückzukehren. Die Freunde fanden ihn ganz normal und nett wie immer.

Wir, das heißt, meine beiden Amtskollegen und ich, baten die Polizei in Yorkshire, uns zu zeigen, was aus dem Wrack geborgen werden konnte, aber es war nichts von Belang dabei. Seine lederne Aktentasche wurde unbeschädigt auf halber Höhe des Hangs gefunden, neben einer der Hintertüren, die beim Überschlagen abgerissen worden war, aber es waren nur die üblichen Rennsportzeitungen und Rennberichte drin. Wir haben genau nachgesehen. Auch bei ihm zu Hause — er war Junggeselle und lebte bei Mutter und Schwester — durften wir uns umsehen, fanden aber keinen Hinweis auf seine Recherchen, nichts. Wir wandten uns an die Rennsportredaktion seiner Zeitung, um zu sehen, was er am Arbeitsplatz zurückgelassen hatte. Nichts als ein paar persönliche Dinge und einen Umschlag mit Zeitungsausschnitten über Dopingfälle. Den haben wir uns geben lassen. Sie können sich die Clips ansehen, wenn Sie nach England kommen. Ich befürchte nur, sie werden Ihnen nichts nützen. Sie sind sehr lückenhaft.«

«Okay«, sagte ich. Wir gingen die Straße entlang zu unseren Autos, seinem gemieteten Holden und meinem weißen Kombi. Als wir neben den beiden staubigen Fahrzeugen standen, meinte ich:»Sie möchten gern glauben, daß es ein Unfall war… Sie gäben was drum.«

Er nickte ernst.»Der Gedanke, es könnte anders sein, ist gräßlich. Würden nicht diese acht Stunden fehlen, käme man gar nicht darauf.«

Ich zuckte die Achseln.»Er kann sie denkbar harmlos zugebracht haben. In einer Bar. Im Restaurant. Im Kino. Mit einem Mädchen.«

«Möglich«, sagte er. Aber die Zweifel blieben, bei ihm wie bei mir.

Am nächsten Tag wollte er mit dem Mietwagen in Sydney sein und zurück nach England fliegen. Er gab mir auf dem Gehsteig die Hand und nannte mir die Adresse in London, wo ich mich wieder mit ihm treffen sollte. Mit einem Fuß schon im Wagen, sagte er:»Könnten Sie denn bei Ihrem Einsatz, ehm. auch in die Haut eines, sagen wir, etwas unzuverlässigen Pferdepflegers schlüpfen, damit die Gauner sich zu Ihnen hingezogen fühlen?«

«Klar«, grinste ich.

«Dann darf ich vielleicht vorschlagen, daß Sie sich Koteletten wachsen lassen. Es ist erstaunlich, wieviel Mißtrauen ein paar Zentimeter Haar vor den Ohren wecken können!«

Ich mußte lachen.»Gute Idee.«

«Und lassen Sie Ihre Kleider hier«, fügte er an.»Ich besorge Ihnen britische Sachen, die zu Ihrer neuen Identität passen.«

«In Ordnung.«

Er setzte sich ans Steuer.

«Au revoir dann, Mr. Roke.«

«Au revoir, Lord October«, sagte ich.

Als er fort war und seine Überzeugungskraft mit ihm, erschien mir das, was ich vorhatte, unvernünftiger denn je. Aber ich hatte es satt, vernünftig zu sein. Ich setzte die Vorbereitungen für meinen Ausbruch auf Hochtouren fort und erwachte jeden Morgen voller Ungeduld.

Zwei Tage vor der geplanten Abreise flog ich nach Geelong, um mich von Philip zu verabschieden, und teilte seinem Schulleiter mit, daß ich für einige Zeit in Europa sein würde; wie lange, stehe noch nicht fest. Ich flog über Frensham zurück, um meine Schwestern noch zu sehen, die sich beide über die dunklen Backenbartschatten erregten, die meinem Gesicht schon den gewünschten unzuverlässigen Touch gaben.

«Rasier dir die bloß ab«, meinte Belinda.»Das ist viel zu sexy. Die höheren Semester hier schwärmen ohnehin von dir, und wenn sie dich so sehen, bist du fällig.«

«Das klingt doch herrlich«, sagte ich und grinste sie liebevoll an.

Helen, blond, beinah sechzehn, war sanft und anmutig wie die Blumen, die sie so gern zeichnete. Sie war die unselbständigste von den dreien und hatte am meisten unter dem Verlust der Mutter gelitten.

«Heißt das«, fragte sie besorgt,»daß du den ganzen Sommer fort bist?«Sie sah mich an, als wäre der Mount Kosciusko eingestürzt.

«Ihr kommt schon klar. Du bist doch jetzt ein großes Mädchen«, zog ich sie auf.

«Aber die Ferien sind dann so langweilig.«

«Bringt eben ein paar Freunde mit.«

«Oh!«Ihr Gesicht hellte sich auf.»Dürfen wir? Ja, das wär’ schön.«

Sie küßte mich ein wenig beruhigt zum Abschied und ging in ihre Klasse zurück.

Meine älteste Schwester und ich verstanden uns sehr gut, und ihr allein vertraute ich den wahren Zweck meines» Urlaubs «an, weil ich ihr das schuldig war. Wider Erwarten brachte es sie aus der Fassung.

«Liebster Dan«, sie schlang ihren Arm um meinen und hielt ihre Tränen zurück,»ich weiß, es war Knochenarbeit für dich, uns großzuziehen, und wir sollten froh sein, wenn du endlich einmal etwas für dich selber tun willst, aber sei bitte vorsichtig. Wir… wir möchten, daß du wiederkommst.«

«Aber natürlich«, versprach ich hilflos und lieh ihr mein Taschentuch.»Ich komme schon wieder.«

Das Taxi brachte mich vom Flughafen in einem grauen Nieselregen, der keineswegs meiner Stimmung entsprach, über einen Platz voller Bäume zum Londoner Haus des Earl of October. Ich hatte Sonne in mir. Schwung.

Auf mein Klingeln öffnete ein Diener mit freundlichem Gesicht die vornehme schwarze Tür, nahm mir die Reisetasche aus der Hand und sagte, da Seine Lordschaft mich erwarte, werde er mich gleich nach oben führen.»Oben «entpuppte sich als ein purpurroter Salon im ersten Stock, wo drei Männer mit Gläsern in den Händen um einen elektrisch geheizten Adam-Kamin herumstanden. Drei Männer in entspannter Haltung, die Gesichter der sich öffnenden Tür zugewandt. Drei Männer, die alle die gleiche Autorität ausstrahlten, die mir bei October aufgefallen war. Das herrschende Triumvirat des Hindernissports. Macher. Verankert und etabliert in hundertjähriger Machttradition. Sie nahmen die Angelegenheit nicht so leicht wie ich.

«Mr. Roke, Mylord«, sagte der Diener, als er mich hineinführte.

October kam auf mich zu und gab mir die Hand.

«Guten Flug gehabt?«

«Ja, danke.«

Er blickte zu den beiden anderen.»Meine beiden Mitstreiter möchten Sie auch begrüßen.«

«Macclesfield«, sagte der größere von ihnen, ein älterer Mann mit krummem Rücken und wildem weißem Haar. Er beugte sich vor und streckte eine sehnige Hand aus.

«Sehr interessant, Sie kennenzulernen, Mr. Roke. «Er hatte scharfblickende Adleraugen.

«Und das ist Colonel Beckett. «Er deutete auf den schmalen, kränklich wirkenden dritten Mann, der mir ebenfalls die Hand gab, aber kaum zufaßte. Dann schwiegen sie vereint und schauten mich an, als käme ich von einem anderen Stern.

«Ich stehe zu Ihrer Verfügung«, sagte ich höflich.

«Ja, gut… kommen wir gleich zur Sache«, sagte October und bot mir einen Ledersessel an.»Aber möchten Sie etwas trinken?«

«Gern.«

Er gab mir ein Glas von dem mildesten Whisky, der je meinen Gaumen berührt hatte, und alle setzten sich.

«Meine Pferde«, begann October in zwanglosem Gesprächston,»stehen alle bei mir in Yorkshire, wo ich meinen Landsitz habe. Ich bilde sie nicht selbst aus, weil ich zu oft geschäftlich unterwegs bin. Ein Mann namens Inskip hat die Trainerlizenz — er ist selbständig und trainiert außer den meinen noch mehrere Pferde von Bekannten. Zur Zeit sind etwa fünfunddreißig Pferde dort, von denen elf mir gehören. Wir halten es für das beste, wenn Sie in meinem Stall als Pfleger anfangen; Sie können dann ja wechseln, wenn es angezeigt scheint. Ist das bis dahin klar?«

Ich nickte.

«Inskip«, fuhr er fort,»ist ein ehrlicher Mensch, aber leider redet er auch gern, deshalb darf ihm zunächst einmal die Art und Weise Ihres Eintritts in den Stall keinen Grund zum Schwätzen geben. Da die Einstellung der Pfleger allein seine Sache ist, wird er, nicht ich, Sie einstellen müssen.

Um dafür zu sorgen, daß wir Leute brauchen und Ihre Bewerbung prompt angenommen wird, schicken Colonel Beckett und Sir Stuart Macclesfield übermorgen je drei Jungpferde zu mir. Die Pferde taugen nichts, möchte ich meinen, aber bessere konnten wir so schnell nicht auftreiben.«

Alle lächelten. Recht hatten sie. Ich begann ihre Planungsarbeit zu bewundern.

«In vier Tagen, wenn dann alles unter dem Arbeitsanfall stöhnt, tauchen Sie auf und bieten Ihre Dienste an. Okay?«

«Okay.«

«Hier ist Ihre Referenz. «Er reichte mir einen Umschlag.»Sie stammt von einer Kusine von mir, die in Cornwall ein paar Jagdpferde hält. Ich habe mit ihr vereinbart, daß sie Sie empfiehlt, falls Inskip nachfragt. Allzu suspekt dürfen Sie ja auch nicht gleich erscheinen, sonst stellt Inskip Sie nicht ein.«

«Verstehe«, sagte ich.

«Inskip wird nach Ihrer Versicherungs- und Ihrer Lohnsteuerkarte fragen, Unterlagen, die man normalerweise von der vorherigen Arbeitsstelle mitbringt. Hier sind sie. «Er gab sie mir.»Die Versicherungskarte ist gestempelt und stellt kein Problem dar, weil erst im Mai nächsten Jahres wieder danach gefragt wird, und dann brauchen wir sie hoffentlich nicht mehr. Mit der Lohnsteuer ist es schwieriger, aber wir haben die Karte so angelegt, daß die Adresse auf dem Abschnitt, den Inskip bei Ihrer Einstellung ans Finanzamt schicken muß, unleserlich ist. Daraus sollte sich eine durchaus natürliche Verwirrung ergeben, die ausreicht, um zu verschleiern, daß Sie nicht in Cornwall gearbeitet haben.«

«Verstehe«, sagte ich. Und beeindruckt war ich auch.

Sir Stuart Macclesfield räusperte sich, und Colonel Beckett rieb sich die Nase.

«Eine Frage zu dem Doping«, sagte ich.»Sie haben mir erklärt, Ihre Chemiker könnten das verwendete Mittel nicht nachweisen, aber mehr weiß ich bisher nicht. Wieso sind Sie denn so sicher, daß gedopt wird?«

October blickte zu Macclesfield, der mit seiner schnarrenden alten Stimme langsam sagte:»Wenn ein Pferd mit Schaum vor dem Maul aus einem Rennen kommt, wenn ihm die Augen rausquellen und der Schweiß nur so runterläuft, liegt der Verdacht nahe, daß ihm ein leistungssteigerndes Mittel verabreicht worden ist. Die meisten Dopingsünder fahren ja deshalb schlecht dabei, weil es schwer ist, Reizmittel so zu dosieren, daß ein Pferd ohne verdächtige Symptome gewinnt. Hätten Sie die von uns untersuchten Pferde gesehen, Sie hätten sie für restlos vollgepumpt gehalten. Aber die Proben waren alle negativ.«

«Was sagen Ihre Chemiker?«

«Im gotteslästerlichen Wortlaut?«meinte Beckett ironisch.

Ich grinste.»Im Kern.«

«Daß es keine Substanz gibt, die sie nicht nachweisen können«, sagte Beckett.

«Was ist mit Adrenalin?«fragte ich.

Die hohen Herren wechselten Blicke, und Beckett sagte:»Die meisten der betroffenen Pferde hatten zwar einen ziemlich hohen Adrenalinspiegel, aber um zu beurteilen, ob das für ein bestimmtes Pferd normal ist, reicht eine einmalige Untersuchung nicht aus. Die natürliche Adrenalinausschüttung variiert von Pferd zu Pferd erheblich, und man müßte sie vor und nach mehreren Rennen und auch in verschiedenen Stadien ihres Trainings kontrollieren, um festzustellen, wo für das einzelne Pferd die Norm liegt. Erst wenn man die normalen Werte kennt, weiß man, ob es eine Dosis zusätzlich erhalten hat. Apropos… Sie werden wissen, daß man Adrenalin nicht oral verabreichen kann. Es muß gespritzt werden und wirkt sofort. Unsere Pferde waren vor dem Start alle ruhig und gelassen. Durch Adrenalin stimulierte Pferde sind da schon aufgedreht. Außerdem verrät sich die subkutane Injektion von Adrenalin oft auch dadurch, daß dem Pferd weit um die Einstichstelle herum die Haare hochstehen. Wirklich narrensicher ist nur eine Injektion in die Halsschlagader, aber das will gekonnt sein, und wir schließen aus, daß in diesen Fällen so verfahren wurde.«

«Die Leute vom Labor rieten uns, von mechanischen Einwirkungen auszugehen«, sagte October.»Da hat man ja schon alles mögliche probiert. Elektroschocks zum Beispiel. Es gab Jockeys, die haben Batterien in ihren Sattel oder ihre Peitsche eingebaut, um die Pferde mit Stromstößen in den Sieg zu treiben. Der Schweiß der Pferde war dabei ein vorzüglicher Leiter. Wir haben diese Dinge wirklich eingehend geprüft und sind der festen Überzeugung, daß keiner der betreffenden Jockeys unübliche technische Hilfsmittel benutzt hat.«

«Wir haben unsere Aufzeichnungen, die Laborberichte, zahlreiche Zeitungsausschnitte und überhaupt alles, was uns irgendwie sachdienlich schien, gesammelt«, sagte Macclesfield und wies auf einen Stapel von drei Aktendeckeln, die neben mir auf dem Tisch lagen.

«Und Sie haben vier Tage Zeit, das durchzulesen und darüber nachzudenken«, fügte October mit einem flüchtigen Lächeln hinzu.»Ein Zimmer ist hier für Sie hergerichtet; mein Diener wird für Sie dasein. Ich kann leider nicht bleiben, ich muß heute abend nach Yorkshire zurück.«

Beckett sah auf seine Armbanduhr und erhob sich langsam.»Zeit für mich, Edward. «Zu mir sagte er mit einem Blick, der so klar und lebhaft war wie sein Körper hinfällig:»Sie packen das. Aber machen Sie Dampf dahinter, ja? Die Zeit läuft gegen uns.«

Es kam mir vor, als sei October erleichtert. Sicher war ich mir dessen erst, als Macclesfield mir wieder die Hand gab und schnarrte:»Jetzt, wo Sie da sind, scheint mir der ganze Plan auch durchführbar zu sein… Mr. Roke, ich wünsche Ihnen gutes Gelingen.«

October brachte die beiden zur Haustür, kam wieder herauf und sah mich in dem purpurroten Zimmer an.

«Zu meiner Freude darf ich sagen, daß sie sehr angetan von Ihnen sind, Mr. Roke.«

Oben in dem luxuriösen Gästezimmer mit dunkelgrünem Teppichboden und Messingbett, wo ich die nächsten vier Nächte schlafen sollte, stellte ich fest, daß der Diener meine wenigen mitgebrachten Sachen ausgepackt und säuberlich in die Fächer eines schweren edwardianischen Kleiderschranks geräumt hatte. Auf dem Boden neben meiner lederbesetzten Leinenreisetasche stand ein billiger Kunstfaserkoffer mit angerosteten Schlössern. Amüsiert untersuchte ich seinen Inhalt. Obenauf lag ein dickes, zugeklebtes Kuvert mit meinem Namen. Ich riß es auf und fand ein Bündel Fünfpfundnoten darin, vierzig insgesamt — und auf einem beiliegenden Zettel stand:»Gutes Geld für schlechte Zeiten. «Ich lachte laut.

Auch sonst hatte October an alles gedacht, von der Unterwäsche bis zum Waschzeug, von Stiefeletten bis zum Regencape, von Jeans bis zu Schlafanzügen.

Im Ausschnitt einer schwarzen Lederjacke steckte ein zweiter Zettel von ihm.

«Die Jacke ergänzt die Koteletten. Beides zusammen wird Ihre Erscheinung nachhaltig verändern. So laufen hier die schrägen Vögel herum. Viel Glück.«

Ich sah mir die Stiefeletten an. Sie waren gebraucht und ungeputzt, paßten aber, wie ich feststellte, erstaunlich gut. Ich zog sie aus und probierte ein Paar superspitze schwarze Straßenschuhe an. Ein schrecklicher Anblick, aber auch sie paßten, und ich behielt sie an, um meine Füße (und Augen) an sie zu gewöhnen.

Die drei Aktendeckel, die ich, als October nach Yorkshire abgefahren war, mit nach oben genommen hatte, lagen auf einem Tischchen neben einem kleinen Sessel, und mit dem Gefühl, daß keine Zeit mehr zu verlieren sei, setzte ich mich hin, nahm mir den ersten vor und machte mich ans Lesen.

Da ich kein einziges Wort ausließ, brauchte ich zwei Tage, um den gesamten Inhalt der Mappen durchzuackern. Und doch starrte ich am Ende auf den Teppichboden, ohne eine brauchbare Idee im Kopf zu haben. Da waren hand-und maschinengeschriebene Protokolle von den amtlichen Befragungen der Trainer, Jockeys, Futtermeister, Pfleger, Hufbeschlagschmiede und Tierärzte, die mit den elf mutmaßlich gedopten Pferden zu tun gehabt hatten. Da war der langatmige Bericht einer Detektei, die» in entspannter Umgebung «zahlreiche Jockeys befragt und nichts dabei herausbekommen hatte. Ein Buchmacher berichtete zehn Seiten lang ausführlich über die auf die betroffenen Pferde abgeschlossenen Wetten, faßte aber im letzten Satz bündig zusammen:»Wir haben keinen Hinweis auf Einzelpersonen oder Gruppen, die regelmäßig an diesen Pferden verdient hätten, und kommen daher zu dem Schluß, daß solche Einzelpersonen oder Gruppen nur am Totalisator gewettet haben können. «Weiter unten in der Mappe fand ich einen Brief der Toto GmbH, der besagte, daß keiner ihrer Kreditkunden alle betroffenen Pferde gewettet habe, daß aber die Barwetten auf der Rennbahn freilich nicht zu überprüfen seien.

Die zweite Mappe enthielt Laborberichte über elf analysierte Urin- und Speichelproben. Der erste Bericht bezog sich auf ein Pferd namens Charcoal und war anderthalb Jahre alt. Der letzte galt einem erst im September, als October in Australien war, kontrollierten Pferd namens Rudyard.

Unter jedem einzelnen Bericht stand in säuberlicher Handschrift das Wort» negativ«.

Die Presse hatte haarscharf am Verleumdungsparagraphen vorbeigeschrieben. Die Zeitungsausschnitte in Mappe Nummer drei enthielten Sätze wie» Charcoal schlug eine gänzlich ungewohnte Gangart ein «und» Sieger Rudyard wirkte im Absattelring mächtig erregt ob seines Erfolges«.

Über Charcoal und die drei Pferde nach ihm gab es noch relativ wenig zu lesen, doch dann hatte jemand ein Medienbüro beauftragt: Die letzten sieben Fälle waren durch Ausschnitte aus mehreren Tages-, Abend-, Lokal- und Rennsportzeitungen dokumentiert.

Unten in Mappe drei fand ich noch einen mittelgroßen gelben Umschlag. Er trug den Vermerk:»Ausgehändigt von der Sportredaktion des Daily Scope am 10. Juni«. Ich begriff, daß es sich um die Ausschnitte handeln mußte, die der unglückliche Journalist Stapleton gesammelt hatte, und öffnete den Umschlag gespannt.

Zu meiner großen Enttäuschung — denn ich hätte wirklich etwas Hilfe gebrauchen können — handelte es sich aber bis auf drei nur um Ausschnitte, die ich schon kannte.

Einer von den drei neuen war ein Kurzporträt der Besitzerin von Charcoal, der zweite ein Bericht über ein (nicht zu den elf gehörendes) Pferd, das am dritten Juni in Cart-mel, Lancashire, im Führring durchgedreht war und eine Frau tödlich verletzt hatte, der dritte ein langer Artikel aus einer Rennsport-Wochenzeitung über berühmte Dopingfälle, wie sie aufgedeckt und wie sie geahndet wurden. Ich las und las und kam auch damit nicht weiter.

Nach so viel unergiebiger Konzentration lief ich den ganzen nächsten Tag in London umher, atmete mit einem berauschenden Gefühl der Befreiung die dicke Großstadtluft, fragte immer wieder nach dem Weg und hörte den Auskunftgebenden gut zu.

Von meinem Akzent hatte sich October vielleicht zuviel erhofft, denn noch vor Mittag erkannte man mich zweimal als Australier. Meine Eltern waren bis zu ihrem Tod ganz Engländer geblieben, aber ich hatte es mit neun Jahren für ratsam gehalten, in der Schule nicht» anders «zu sein, und mir die Sprechweise meiner neuen Heimat angeeignet. Ich konnte sie nicht mehr ablegen, selbst wenn ich es gewollt hätte; sollte mein Englisch also wie Cockney klingen, mußte ich offensichtlich noch daran arbeiten.

Ich wanderte weiter nach Osten, schaute, fragte, hörte zu. Allmählich kam ich zu dem Schluß, daß es gehen könnte, wenn ich nicht ganz so schneidig sprach und den Wortendungen Luft ließ. Ich übte den ganzen Nachmittag, und schließlich gelang es mir sogar, ein paar Vokale abzuwandeln. Niemand fragte mehr, woher ich kam — für mich ein Zeichen des Erfolgs —, und als ich mich zu guter Letzt bei einem Straßenhändler erkundigte, wo die Busse nach Westen abfahren, konnte ich im Akzent zwischen meiner Frage und seiner Antwort keinen großen Unterschied mehr hören.

Ich kaufte mir einen Geldgürtel aus starkem Leinen mit Reißverschluß. Er ließ sich unterm Hemd flach auf der Taille tragen, sogar mit den zweihundert Pfund, und vielleicht würde ich einmal froh sein, dieses Geld griffbereit zu haben.

Am Abend versuchte ich mit neuer Energie, das Dopingproblem von einer anderen Seite her anzugehen, indem ich schaute, ob die Pferde irgend etwas miteinander gemein hatten.

Es sah nicht so aus. Alle hatten verschiedene Trainer. Alle gehörten verschiedenen Besitzern, und alle waren von verschiedenen Jockeys geritten worden. Das einzige, was sie miteinander gemein hatten, war, daß sie nichts gemein hatten.

Ich seufzte und ging zu Bett.

Terence, der Diener, mit dem ich mich ein wenig angefreundet hatte, weckte mich am vierten Tag, indem er mit einem voll beladenen Frühstückstablett in mein Zimmer kam.

«Der Verurteilte langte noch einmal kräftig zu«, sagte er, hob den silbernen Deckel ab und ließ mich an einem Teller mit Eiern und Schinken schnuppern.

«Wie meinen Sie das?«fragte ich, zufrieden gähnend.

«Ich weiß nicht, was Sie und Seine Lordschaft vorhaben, aber wo Sie auch hingehen, Sie betreten eine andere Welt. Ihr Anzug zum Beispiel stammt nicht aus derselben Ecke wie das Zeug da.«

Er nahm den Kunstfaserkoffer, setzte ihn auf einen Hok-ker und klappte ihn auf. Behutsam, als wäre es Seide, legte er eine Baumwollunterhose und ein kariertes Baumwoll-hemd heraus, dazu einen gerippten hellbraunen Pullover, eine enge, anthrazitfarbene Hose und schwarze Socken. Mit angewidertem Blick hängte er die schwarze Lederjak-ke über die Stuhllehne und ergänzte das Arrangement durch die spitzen Schuhe.

«Seine Lordschaft hat mich angewiesen, darauf zu achten, daß Sie alle mitgebrachten Sachen dalassen und nur die hier mitnehmen«, sagte er bedauernd.

«Haben Sie die gekauft«, fragte ich amüsiert,»oder Lord October?«

«Lord October. «Er lächelte plötzlich, als er zur Tür ging.»Hätte ich gern gesehen, wie er da im Discountladen zwischen den drängelnden Hausfrauen am Wühltisch steht.«

Ich frühstückte, nahm ein Bad, rasierte mich und schlüpfte von Kopf bis Fuß in die neuen Sachen, einschließlich der schwarzen Joppe, deren Reißverschluß ich hochzog. Dann bürstete ich mir die Haare nicht nach hinten, sondern nach vorn, so daß die kurzen schwarzen Fransen in die Stirn fielen.

Terence kam wieder, um das Tablett abzuholen, und sah mich vor dem Wandspiegel stehen. Statt ihn wie sonst anzulächeln, drehte ich mich langsam auf dem Absatz um und fixierte ihn grimmig mit zusammengekniffenen Augen.

«Du liebe Zeit!«entfuhr es ihm.

«Gut«, meinte ich vergnügt.»Sie würden mir also nicht trauen?«

«Ich würde mich hüten.«

«Und welchen Eindruck haben Sie sonst von mir? Würden Sie mir Arbeit geben?«

«Zur Haustür kämen Sie hier erst gar nicht rein. Höchstens hintenrum. Ich würde mir Ihre Referenzen gut ansehen, bevor ich Sie einstellte — und wenn ich nicht schwer unter Druck wäre, würde ich es lieber lassen. Sie sehen verschlagen aus… und, na ja, ein bißchen… gefährlich fast.«

Ich öffnete den Reißverschluß der Lederjacke, so daß der karierte Hemdkragen und der hellbraune Pullover zu sehen waren. Eine legere Note.

«Und jetzt?«fragte ich.

Er neigte prüfend den Kopf zur Seite.»Ja, jetzt würde ich Sie vielleicht nehmen. So sehen Sie gleich normaler aus. Nicht unbedingt ehrlicher, aber leichter zu handhaben.«

«Danke, Terence. Das kommt genau hin, glaube ich. Durchschnitt, aber unehrlich. «Ich lächelte freudig.»Dann will ich mich mal auf den Weg machen.«

«Sie haben nichts Eigenes bei sich?«

«Nur meine Uhr«, versicherte ich ihm.

«Gut«, sagte er.

Ich bemerkte mit Interesse, daß er zum erstenmal in den vier Tagen das ungezwungene, automatische» Sir «weggelassen hatte; und als ich den billigen Koffer ergriff, machte er keine Anstalten, ihn mir wie die Reisetasche bei meiner Ankunft abzunehmen.

Wir gingen hinunter zur Haustür, wo ich ihm die Hand bot, mich für seine Fürsorge bedankte und ihm einen Fünfpfundschein gab. Einen von Octobers Fünfern. Er nahm ihn lächelnd an und betrachtete mich in meiner neuen Identität.

Ich grinste breit.

«Wiedersehen, Terence.«

«Auf Wiedersehen, und vielen Dank… Sir«, sagte er; und im Davongehen hörte ich ihn lachen.

Den nächsten Hinweis darauf, daß mein Kleiderwechsel einen gewaltigen Statusverlust bedeutete, gab mir der Taxifahrer, den ich am Ende des Platzes heranwinkte. Er wollte erst mein Geld sehen, bevor er mich zum Bahnhof

King’s Cross fuhr. Ich nahm den Mittagszug nach Harrogate und fing mir die mißbilligenden Blicke eines vis-a-vis sitzenden steifen Mannes mit ausgefransten Manschetten ein. Das läuft ja alles, dachte ich, während die regennasse Herbstlandschaft an mir vorbeiflog; du machst wirklich einen zweifelhaften Eindruck. Ich mußte um die Ecke denken, um mich darüber zu freuen.

Von Harrogate fuhr ich mit dem Bus nach der kleinen Ortschaft Slaw, erkundigte mich nach dem Weg, ging die letzten drei Kilometer bis zu Octobers Landgut zu Fuß und kam dort kurz vor sechs an, die beste Zeit, um Arbeit in einem Rennstall zu finden.

Sie hatten wirklich alle Hände voll zu tun; ich fragte nach dem Futtermeister, und dieser brachte mich zu Inskip, der auf seinem abendlichen Rundgang war.

Inskip musterte mich und schürzte die Lippen. Er war ein mürrischer, relativ junger Mann mit Brille, schütterem rotblondem Haar und schlafflippigem Mund.

«Referenzen?«Seine Stimme hingegen war scharf und gebieterisch.

Ich nahm den Brief von Octobers Kusine aus der Tasche und gab ihn ihm. Er faltete ihn auseinander, las ihn und steckte ihn ein.

«Mit Rennpferden haben Sie also noch nicht gearbeitet?«

«Nein.«

«Wann könnten Sie anfangen?«

«Sofort. «Ich wies auf meinen Koffer.

Er zögerte, aber nur kurz.»Zufällig brauchen wir gerade jemand. Wir versuchen es mit Ihnen. Wally, besorgen Sie ihm bei Mrs. Allnut ein Bett, er kann morgen früh anfangen. Der übliche Lohn«, wandte er sich wieder an mich,»elf Pfund die Woche, davon bekommt Mrs. Allnut drei für Kost und Logis. Ihre Karten können Sie mir morgen geben. Alles klar?«

«Ja«, sagte ich und war im Geschäft.

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