Kapitel 6

October tauchte den Finger in das Pulver und kostete es.

«Ich weiß auch nicht, was das ist«, sagte er kopfschüttelnd.»Wir lassen es analysieren.«

Ich bückte mich nach seinem Hund, streichelte ihn und kraulte ihn hinter den Ohren.

«Ist Ihnen klar«, sagte October,»was für ein Risiko Sie eingehen, wenn Sie das Geld annehmen, dem Pferd aber das Zeug nicht geben?«

Ich grinste ihn an.

«Das ist nicht zum Lachen«, sagte er ernst.»Diese Leute können ganz schön ruppig werden, und es nützt uns wenig, wenn man Ihnen die Rippen bricht.«

«An sich fände ich es auch besser, wenn Sparking Plug nicht gewinnen würde«, sagte ich, mich aufrichtend.»Die Leute, hinter denen wir eigentlich her sind, werden kaum an mich herantreten, wenn sie hören, daß ich schon mal jemand verladen habe.«

«Sie sagen es. «Er hörte sich erleichtert an.»Sparking Plug muß verlieren, aber Inskip… wie erkläre ich dem, daß der Jockey hinterhermachen soll?«

«Das geht nicht«, sagte ich.»Die darf man da nicht reinziehen. Aber ich bin auch noch da. Das Pferd gewinnt schon nicht, wenn ich es morgen früh dursten lasse und ihm kurz vor dem Rennen einen Eimer Wasser hinstelle.«

Er sah mich belustigt an.»Sie haben ja schon einiges gelernt.«

«Und ob; die Haare würden Ihnen zu Berge stehen.«

Er erwiderte mein Lächeln.»Also gut. Es geht wohl nicht anders. Man fragt sich, was die Hindernisbehörde davon halten würde, daß einer ihrer Leiter mit einem seiner Stallangestellten verabredet, einen Favoriten zurückzuhalten?«

Er lachte.»Roddy Beckett weihe ich ein, aber für Inskip und für die Pfleger hier, die auf das Pferd setzen, ist das gar nicht lustig, und auch für das breite Publikum nicht, das sein Geld verliert.«

«Nein«, gab ich zu.

Er faltete das Päckchen mit dem weißen Pulver zusammen und steckte es wieder zu dem Geld. Die fünfundsiebzig Pfund im Umschlag bestanden törichterweise aus einem Bündel neuer Fünfer mit fortlaufenden Nummern; October wollte versuchen, festzustellen, an wen sie ausgegeben worden waren.

Ich erzählte ihm von den langen Zielgeraden auf den Bahnen, wo die elf Pferde gewonnen hatten.

«Das hört sich fast so an, als hätten sie doch Vitamine benutzt«, meinte er nachdenklich.»Die kann man bei der Dopinguntersuchung nicht nachweisen, da sie letztlich keine Drogen, sondern Nährstoffe sind. Die ganze Vitaminfrage ist sehr schwierig.«

«Sie erhöhen die Ausdauer?«

«Und zwar beträchtlich. Für Pferde, die auf den letzten achthundert Metern >eingehen< — und wie Sie festgestellt haben, gehören unsere elf ja dazu —, wäre das ideal. Aber an Vitamine haben wir mit als erstes gedacht, und wir mußten sie streichen. In massiver Dosis in die Blutbahn injiziert, können sie Pferden zwar zum Sieg verhelfen, und in der Analyse zeigen sie sich nicht, weil sie bei der Siegesanstrengung aufgebraucht werden, aber sie hinterlassen auch sonst keine Spuren. Sie erregen nicht, und die Pferde sehen nach dem Rennen nicht aus, als ständen sie bis zu den Ohren unter Speed. «Er seufzte.»Ich weiß auch nicht…«

Bedauernd gestand ich ein, daß Becketts Manuskript mich nicht weitergebracht hatte.

«Weder Beckett noch ich haben uns davon so viel versprochen wie Sie«, sagte er.»Ich habe mich diese Woche eingehend mit ihm beraten, wir sind der Meinung, daß Sie am ehesten noch etwas finden können, was bei den breit angelegten Ermittlungen damals übersehen wurde, wenn Sie in einem der Ställe arbeiten, wo die elf Pferde zum Zeitpunkt ihres Dopings trainiert wurden. Acht Tiere sind inzwischen leider verkauft worden und haben den Stall gewechselt, aber drei sind noch bei ihren damaligen Trainern, und es wäre vielleicht das beste, Sie kämen dort unter.«

«Gut«, sagte ich.»Geht klar. Ich frage bei allen dreien. Aber die Fährte ist schon reichlich kalt… und Kandidat Nummer zwölf wird in einem ganz anderen Stall auftauchen. In Haydock war wohl diese Woche nichts?«

«Nein. Wir haben von allen Teilnehmern am Verkaufsrennen vorher Speichelproben genommen, uns die Untersuchung aber geschenkt, weil der Favorit ganz normal gesiegt hat. Da wir dank Ihnen jetzt jedoch wissen, daß die fünf Bahnen bewußt wegen ihrer langen Zielgeraden ausgewählt worden sind, werden wir dort künftig besonders gut aufpassen. Zumal, wenn eins der elf Pferde da wieder läuft.«

«Sie können ja im Rennkalender nachsehen, ob eins genannt ist«, stimmte ich zu.»Bis jetzt ist aber noch keins zweimal gedopt worden, und ich wüßte nicht, warum sich das ändern sollte.«

Eine eisige Bö fegte die Anhöhe hinunter, und er fröstelte. Der Bach, vom gestrigen Regen angeschwollen, rauschte durch sein felsiges Bett. October pfiff seinem Hund, der am Ufer herumschnüffelte.

«Übrigens«, sagte er, als er mir die Hand gab,»die Tierärzte sind der Meinung, daß die Pferde weder durch Pfeile noch durch Gummimunition oder sonstige Geschosse angetrieben wurden. Ganz ausschließen können sie es allerdings nicht. Die Pferde wurden damals nicht allzu genau untersucht. Beim nächsten Mal werde ich dafür sorgen, daß jeder Zentimeter Haut nach Einstichen abgekämmt wird.«

«Gut. «Wir lächelten einander an und trennten uns. Ich mochte ihn. Er hatte Phantasie und einen Humor, der sein ehrfurchtgebietendes, machtbewußtes Auftreten milderte. Ein Kämpfer, dachte ich bewundernd: willensstark, körperlich stark, selbstbewußt; ein Mann, der sich den Grafentitel verdienen würde, wenn er ihn nicht geerbt hätte.

Sparking Plug mußte am Abend und am nächsten Morgen ohne seinen Eimer Wasser auskommen. Der Fahrer, der ihn nach Leicester brachte, hatte die Taschen voll schwerverdientem Pflegergeld, das er auf ihn setzen sollte, und ich kam mir vor wie ein Verräter.

Inskips zweites Pferd, im gleichen Transporter angereist, startete im dritten Lauf, aber Sparking Plugs Rennen war erst das fünfte, so daß ich mir die beiden ersten in Ruhe anschauen konnte. Ich kaufte mir ein Programm, suchte mir einen Platz am Führring und sah zu, wie die Pferde für das erste Rennen herumgeführt wurden. Aus den Rennberichten kannte ich zwar die Namen vieler Trainer, aber persönlich kennengelernt hatte ich noch keinen, und so versuchte ich interessehalber, den einen oder anderen, der sich da im Führring mit seinem Jockey unterhielt, mit einem Namen zu verbinden. Im ersten Rennen waren es nur sieben: Owen, Cundell, Beeby, Cazalet, Humber… Humber? Was hatte ich über Humber gehört? Es fiel mir nicht ein. Sicher nicht so wichtig, dachte ich.

Humbers Pferd sah von allen im Ring am schlechtesten aus, und dem Pfleger mit den ungeputzten Schuhen und dem schmutzigen Regenmantel, der es herumführte, schien alles egal zu sein. Als der Jockey die Jacke auszog, sah man an seinem Dreß noch die Schlammspritzer aus einem anderen Rennen, und der Trainer, der keinen Wert auf saubere Farben oder gepflegtes Personal gelegt hatte, war ein massiger, übellaunig wirkender Mann, der sich auf einen dicken, knorrigen Gehstock stützte.

Humbers Pfleger stand, als wir dem Rennen zuschauten, zufällig neben mir auf der Tribüne.

«Gute Chancen?«sprach ich ihn an.

«Mit dem Vieh verplempert man nur seine Zeit«, sagte er und zog die Lippe hoch.»Ich kann’s nicht mehr sehen.«

«Oh. Vielleicht schlägt sich dein anderes Pferd ja besser«, meinte ich, als sich die Teilnehmer am Start aufstellten.

«Mein anderes Pferd?«Er lachte unfroh.»Drei andere hab ich noch, kannst du dir das vorstellen? Mir reicht’s mit dem Laden. Ende der Woche hau ich ab, Lohn hin, Lohn her.«

Plötzlich wußte ich wieder, was ich über Humber gehört hatte. Die schlechtesten Arbeitsbedingungen im Land, hatte der Junge in Bristol erzählt: Pfleger, die hungern mußten und geschlagen wurden, ein Stall, der nur noch den Ausschuß bekam.

«Lohn hin, Lohn her?«fragte ich.

«Bei denen gibt’s sechzehn Pfund statt elf die Woche«, sagte er,»aber das macht den Bock nicht fett. Ich hab die Schnauze voll von Humber. Ich hör auf.«

Das Rennen begann, und Humbers Pferd wurde Letzter. Sein Pfleger verschwand schimpfend, um es wegzuführen.

Ich lächelte, ging hinter ihm die Stufen hinunter und vergaß ihn, weil unten an der Tribüne ein ungepflegter Mann mit einem schwarzen Schnurrbart stand, den ich bei dem Cheltenhamer Tanzfest in der Bar gesehen hatte.

Ich ging langsam zum Führring hinüber, um mich wieder an die Abzäunung zu stellen, und er kam mir unauffällig nach. Er blieb neben mir stehen, schaute auf das einzige schon im Ring befindliche Pferd und meinte:»Sie sind knapp bei Kasse, wie ich höre.«

«Heute abend nicht mehr«, gab ich zurück und musterte ihn.

Er warf mir einen Blick zu.»Hm. Sind Sie sich mit Sparking Plug so sicher?«

«Bin ich«, sagte ich mit einem fiesen Grinsen. Jemand hatte ihm freundlicherweise erzählt, welches Pferd ich betreute. Er mußte sich also über mich erkundigt haben. Ich ging davon aus, daß ihm nichts Vorteilhaftes zu Ohren gekommen war.

«Hmm.«

Eine ganze Minute verstrich. Dann sagte er beiläufig:

«Haben Sie schon mal daran gedacht, woanders hinzugehen… zu einem anderen Stall?«

«Klar«, gab ich achselzuckend zu.»Wer denn nicht?«

«Gute Pfleger sind immer gefragt«, erklärte er,»und Sie sollen mit den Händen sehr geschickt sein. Mit einer Empfehlung von Inskip kommen Sie überall rein, wenn Sie warten können, bis was frei wird.«

«Wo denn?«fragte ich; aber er ließ sich nicht drängen. Nach einer weiteren Pause sagte er, noch immer im Plauderton:»Es kann sehr, ehm… lukrativ sein, für bestimmte Ställe zu arbeiten.«

«So?«

«Das heißt«, er hüstelte diskret,»wenn man bereit ist, etwas mehr zu tun, als dort verlangt wird.«

«Zum Beispiel?«

«Ach… Verschiedenes«, sagte er unbestimmt.»Je nachdem. Alles, was demjenigen nützt, der dafür Ihr Einkommen aufbessert.«

«Und der wäre?«

Ein dünnes Lächeln.»Betrachten Sie mich als seinen Stellvertreter. Also, er bietet fünf Pfund die Woche für Trainingsergebnisse und ähnliche Auskünfte sowie eine gute Prämie für gelegentliche Sonderaufgaben, die, ehm, heikler sind.«

«Klingt nicht übel«, meinte ich langsam und saugte an meiner Unterlippe.»Geht das nicht bei Inskip?«

«Nein«, sagte er.»Bei dem laufen die Pferde immer auf Sieg. In solchen Ställen brauchen wir keinen ständigen Mitarbeiter. Zur Zeit gibt es aber zwei wettfreudige Ställe, wo uns ein Mann fehlt, und da könnten wir Sie gebrauchen.«

Er nannte die Namen zweier führender Trainer, die nicht zu den dreien gehörten, bei denen ich mich ohnehin bewerben wollte. Jetzt mußte ich überlegen, ob es nicht sinnvoller war, mich in einen offenbar gut organisierten Spionagering einzuschleichen, als mich an ein ehedem gedoptes Pferd zu hängen, das mit ziemlicher Sicherheit nicht noch einmal gedopt werden würde.

«Ich denke drüber nach«, sagte ich.»Wo kann ich Sie erreichen?«

«Bis wir Sie auf der Gehaltsliste haben, gar nicht«, versetzte er.»Sparking Plug läuft im fünften, oder? Danach können Sie mir ja Bescheid geben. Sie sehen mich, wenn Sie ihn zum Stall zurückbringen. Nicken Sie, wenn Sie dabei sind, sonst schütteln Sie den Kopf. Aber so eine Gelegenheit, die läßt einer wie Sie sich nicht entgehen. «Die leise Verachtung in seinem Lächeln traf mich trotz allem.

Er wandte sich ab und ging ein paar Schritte, dann kam er noch einmal zurück.

«Soll ich denn auf Sparking Plug ordentlich was setzen?«fragte er.

«Ach na ja… ehm, an Ihrer Stelle würde ich mir das Geld sparen.«

Er blickte erst überrascht, dann argwöhnisch, dann pfiffig drein.»Also daher weht der Wind«, sagte er.»Ei, ei.«

Er lachte und sah mich an, als wäre ich unter einem Stein hervorgekrochen. Ein Mann, der seine Werkzeuge verachtete.»Ich merke schon, daß Sie uns sehr nützlich werden können. Sehr, sehr nützlich!«

Ich schaute hinter ihm her. Ich hatte ihm nicht aus Freundlichkeit davon abgeraten, auf Sparking Plug zu setzen, sondern weil ich mir nur damit sein Vertrauen erhalten konnte. Als er fünfzig Meter weg war, folgte ich ihm. Er ging schnurstracks zum Buchmacherring, schlenderte an den Ständen entlang und studierte die von den einzelnen Firmen angebotenen Quoten; offenbar wollte er aber wirklich nur eine Wette für das nächste Rennen anlegen, denn er machte keine Anstalten, jemandem von dem Ausgang unserer Unterhaltung zu berichten. Seufzend setzte ich zehn Shilling auf einen Außenseiter und ging zurück, um zu sehen, wie die Pferde auf die Bahn kamen.

Sparking Plug trank durstig zwei volle Eimer Wasser, stolperte über das vorletzte Hindernis und trabte, begleitet von Buhrufen aus den billigen Rängen, müde hinter den sieben anderen Startern durchs Ziel. Er tat mir leid. Widerwärtig, ein stolzes Pferd so zu behandeln.

Der Ungepflegte mit dem schwarzen Schnurrbart stand bereit, als ich das Pferd zu den Stallungen führte. Ich nickte ihm zu, und er grinste bedeutsam.

«Sie hören von mir«, sagte er.

Auf der Heimfahrt im Transporter und am nächsten Tag zu Hause war die Stimmung gedrückt wegen Sparking Plugs unerklärlicher Niederlage, und am Dienstag abend ging ich allein nach Slaw, wo mir Soupy die zweiten fünfundsiebzig Pfund gab. Ich sah sie mir an. Wieder fünfzehn neue Fünfer, ihre Nummern schlossen an die ersten fünfzehn an.

«Danke«, sagte ich.»Und was springt für dich dabei raus?«

Soupys wulstige Lippen kräuselten sich.»Genug. Ihr Knaller habt das Risiko, ich kriege einen Anteil dafür, daß ich euch an Land ziehe. Ist doch in Ordnung, oder?«

«Klar. Und wie oft ziehst du das so durch?«Ich steckte das Kuvert mit dem Geld ein.

Er zuckte die Achseln, machte ein selbstzufriedenes Gesicht.»Typen wie dich erkenne ich auf zwei Kilometer. Inskip scheint doch nachzulassen. Das erste Mal, daß bei dem so ein falscher Fuffziger landet. Aber die Dartturnie-re, die bringen’s. Ich bin gut, verstehst du? Immer in der Mannschaft. Und in Yorkshire gibt es viele Ställe… und immer wieder geschlagene Favoriten, die den Leuten ein Rätsel sind.«

«Du bist wirklich clever«, sagte ich.

Er lächelte. Das fand er auch.

Auf dem Heimweg nahm ich mir vor, unter dem explosiven Herrn TNT eine Lunte anzuzünden.

Nach dem Angebot des Mannes mit dem schwarzen Schnurrbart beschloß ich, Becketts Manuskript noch einmal im Hinblick darauf durchzulesen, ob die elf Dopingfälle auf systematische Spionage zurückgehen konnten. Ein neuer Ansatz bringt vielleicht neue Ergebnisse, dachte ich, und um so besser kann ich entscheiden, ob ich den Spionageauftrag sausenlasse und statt dessen wie geplant in einen durch Doping aufgefallenen Rennstall gehe.

Im Bad eingeschlossen, begann ich wieder auf Seite 1. Auf Seite 67, im ersten Teil der Lebensgeschichte des fünften Pferdes, las ich:»Auf der Auktion in Ascot von D. L. Mentiff, York, für 420 Guineen gekauft; für 500 Pfund weiterverkauft an H. Humber, Posset, County Durham, blieb dort drei Monate, lief zwei Maidenrennen, ohne sich zu plazieren; weiterverkauft in Doncaster für 600 Guineen an N. W. Davies, Leeds, der ihn von L. Peterson in Mars Edge, Staffordshire, trainieren ließ; blieb dort achtzehn Monate, lief vier Maidenrennen, fünf Sieglosenrennen, ohne sich zu plazieren. Liste der Rennen siehe unten.«

Drei Monate bei Humber. Ich lächelte. Anscheinend blieben die Pferde auch nicht länger bei ihm als die Pfleger. Seite für Seite ackerte ich die Einzelheiten durch.

Auf Seite 94 las ich folgendes:»Alamo kam dann in Kelso zur Auktion, und Mr. John Arbuthnot, Berwickshire, erwarb ihn für 300 Pfund. Er wurde von H. Humber, Posset, County Durham, trainiert, aber für kein Rennen genannt, und Mr. Arbuthnot verkaufte ihn zum gleichen Preis an Humber. Einige Wochen später kam er in Kelso erneut zur Auktion. Mr. Clement Smithson, Nantwich,

Cheshire, kaufte ihn für 375 Guineen, behielt ihn den Sommer über zu Hause, schickte ihn dann zu einem Trainer namens Samuel Martin nach Malton, Yorkshire, wo er bis Weihnachten vier Maidenrennen lief, ohne sich zu plazieren (siehe Liste).«

Ich massierte meinen steifen Nacken. Wieder Humber.

Ich las weiter.

Auf Seite 180 hieß es:»Ridgeway ging dann zur Begleichung einer Schuld an den Farmer James Green, Home Farm, Crayford, Surrey. Mr. Green ließ ihn zwei Jahre auf der Koppel und anschließend einreiten in der Hoffnung, ein gutes Jagdpferd aus ihm zu machen, verkaufte ihn dann aber an Mr. Taplow aus Pewsey, Wiltshire, der ihn als Rennpferd ausbilden lassen wollte. Ridgeway wurde von Ronald Streat, Pewsey, für Flachrennen trainiert, konnte sich aber in keinem seiner vier Starts in jenem Sommer plazieren. Mr. Taplow verkaufte Ridgeway daraufhin privat an den Farmer Albert George, Bridge Lewes, Shropshire, der ihn selbst trainieren wollte, jedoch nicht die nötige Zeit fand und ihn an einen Bekannten seines Vetters in der Nähe von Durham verkaufte, einen Trainer namens Hedley Humber. Humber hielt das Pferd offenbar für unbrauchbar; es kam im November in Doncaster zur Auktion und ging für 290 Guineen an Mr. P. J. Brewer, The Manor, Witherby, Lancashire.«

Ich las das gesamte Manuskript, wühlte mich durch die Unzahl von Namen, doch Humber wurde nirgends mehr erwähnt.

Drei von den elf Pferden waren irgendwann in ihrer Laufbahn für kurze Zeit in Humbers Obhut gewesen. Das war schon alles.

Ich rieb mir die vom Schlafmangel entzündeten Augen, und plötzlich schrillte ein Wecker in dem stillen Haus.

Überrascht sah ich auf die Uhr. Halb sieben schon. Ich stand auf, streckte mich, benutzte das Bad als Bad, schob das Manuskript unter die Schlafanzugjacke und den Pullover, den ich darüber trug, und schlurfte gähnend in den Schlafsaal zurück, wo die anderen bereits aufgestanden waren und mit verquollenen Augen in ihre Kleider stiegen.

Im Hof unten war es so kalt, daß alles, was man anfaßte, den Fingern die Wärme zu rauben schien und jeder Atemzug schneidend in die Brust drang. Ausmisten, aufsatteln; raus aufs Moor, galoppieren, führen, zurück zum Stall, Schweiß ausbürsten, Pferd einstellen, mit Futter und Wasser versorgen, dann frühstücken. Das gleiche fürs zweite Pferd, das gleiche fürs dritte Pferd, dann Mittagessen.

Während wir aßen, kam Wally herein und wies zwei andere und mich an, das Sattelzeug zu säubern, und nachdem wir unsere Pflaumen mit Eiercreme verdrückt hatten, gingen wir in die Sattelkammer und machten uns ans Werk. Es war schön warm dort, weil der Ofen brannte, und ich legte meinen Kopf auf einen Sattel und schlief fest ein.

Einer der anderen stieß mich an und sagte:»Wach auf, Dan, wir haben viel zu tun«, womit er mich aus meinen Träumen riß, aber noch ehe ich die Augen aufschlug, meinte der andere:»Ach, laß ihn, der macht schon genug«, und dankbar überließ ich mich wieder dem Schlaf. Viel zu schnell war es vier Uhr, kamen die drei Stunden Abendstallzeit, danach um sieben das Abendbrot, und wieder war ein Tag fast vorbei.

Die meiste Zeit dachte ich darüber nach, daß Humbers Name dreimal in dem Manuskript auftauchte. Ich sah eigentlich nicht ein, warum dem mehr Bedeutung zukommen sollte als der Tatsache, daß vier von den elf Pferden zum Zeitpunkt ihres Dopings Preßfutter bekommen hatten. Bedenklich war nur, daß mir der Name beim ersten und zweiten Lesen glatt entgangen war. Zwar hatte ich keinen

Grund gehabt, auf den Namen Humber zu achten, bevor ich ihn und sein Pferd gesehen und mit seinem Pfleger gesprochen hatte, aber wenn mir ein Name entgangen war, der dreimal vorkam, konnte ich auch andere übersehen haben. Nur wenn ich eine Liste von allen im Manuskript erwähnten Namen anlegte, konnte ich sehen, ob sonst noch einer in Verbindung mit mehreren Pferden auftauchte. Ein Elektronenrechner hätte das in Sekunden erledigt. Mich würde es wohl wieder eine Nacht im Bad kosten.

Über tausend Namen standen in dem Manuskript. Ich schrieb die Hälfte davon Mittwoch nacht heraus, schlief ein wenig, ergänzte die Liste in der Nacht auf Freitag und fiel wieder ins Bett.

Am Freitag schien zur Abwechslung die Sonne, und der Morgen auf dem Moor war schön. Ich ließ Sparking Plug in der Mitte des Lots traben und dachte über die Liste nach. Außer Humbers Namen tauchte nur ein einziger noch in Verbindung mit mehr als zwei Pferden auf. Aber dieser eine war ein gewisser Paul J. Adams, und ihm hatten zu verschiedenen Zeiten gleich sechs der Pferde gehört. Sechs von elf. Das konnte kein Zufall sein. Es war einfach zu ungewöhnlich. Ich war mir sicher, die erste entscheidende Entdeckung gemacht zu haben, auch wenn mir nicht einging, wie der Umstand, daß Paul J. Adams einmal für ein paar Monate ein Pferd besessen hatte, erklären sollte, daß es ein oder zwei Jahre später gedopt werden konnte. Ich grübelte den ganzen Vormittag vergebens darüber nach.

Da es draußen schön war, fand Wally, das sei die Gelegenheit für mich, ein paar Decken zu schrubben. Gemeint waren die Stalldecken der Pferde; man mußte sie auf dem Beton im Hof ausbreiten, mit einem Schlauch abspritzen, mit einem langstieligen Besen und Waschmittel schrubben, wiederum abspritzen und sie zum Abtropfen über den

Zaun hängen, bevor sie zum Trocknen in die warme Sattelkammer gebracht wurden. Niemand machte das gern, und Wally, der mich seit Sparking Plugs Niederlage noch unfreundlicher behandelte (wenngleich er nicht so weit gegangen war, mir die Schuld daran zu geben), sagte mir mit kaum verhohlener Abneigung, heute sei ich eben an der Reihe.

Egal, dachte ich, als ich nach dem Essen fünf Stalldek-ken ausbreitete und sie einweichte, so kannst du wenigstens zwei Stunden ungestört nachdenken. Doch wie so oft irrte ich mich.

Um drei Uhr, als die Pferde dösten und die Pfleger, soweit sie nicht mit ihrem Wochenlohn nach Harrogate gebraust waren, Siesta hielten, das Leben im Stall also ruhte und nur ich mit meinem Besen widerwillig zugange war, kam Patty Tarren zum Tor herein, überquerte den Hof und blieb vor mir stehen.

Sie trug ein einfaches grünes Kleid aus warmem, weichem Tweed mit Silberknöpfen vom Kragen bis zum Saum. Das kastanienbraune Haar, von einem breiten grünen Band aus der Stirn gehalten, fiel glatt und glänzend auf ihre Schultern, und mit den langen, dichten Wimpern und dem hellrosa Mund stellte sie ungefähr die reizvollste Unterbrechung dar, die ein hart arbeitender Stallmann sich wünschen konnte.

«Hallo, Danny«, sagte sie.

«Guten Tag, Miss.«

«Ich hab dich vom Fenster aus gesehen«, sagte sie. Ich drehte mich überrascht um, da ich Octobers Haus völlig hinter Bäumen verborgen geglaubt hatte, aber tatsächlich konnte man weiter oben am Hang durch eine Lücke zwischen den unbelaubten Ästen eine Hausecke und ein Fenster sehen. Aber es war weit weg. Wenn Patty mich auf die Entfernung erkannt hatte, mußte sie durch ein Fernglas geschaut haben.

«Du sahst ein bißchen einsam aus, da dachte ich, ich unterhalte mich mal mit dir.«

«Danke, Miss.«

«Die übrige Familie«, sagte sie und schlug die Wimpern nieder,»Kommt auch erst heute abend, und allein in dem großen Schuppen wußte ich gar nichts anzufangen, das wird schnell langweilig. Da dachte ich, mit dir kann man wenigstens reden.«

«Mhm. «Ich stützte mich auf den Besen, sah in ihr reizendes Gesicht und fand, daß ihre Augen einen Ausdruck hatten, der ihrem Alter nicht entsprach.

«Es ist ziemlich kalt hier, hm? Ich wollte was mit dir bereden… Können wir uns nicht da in den Eingang stellen?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie auf den fraglichen Eingang, es war der des Heuspeichers, zu und trat hinein. Ich folgte ihr und lehnte den Besen gegen den Türpfosten.

«Ja, Miss?«sagte ich. Es war halb dunkel in dem Raum.

Wie sich herausstellte, ging es ihr doch nicht in erster Linie ums Reden.

Sie schlang die Arme um meinen Hals und bot mir die Lippen zum Kuß. Ich beugte mich vor und küßte sie. Octobers Tochter war nicht unerfahren. Sie küßte mit Zunge und Zähnen, und sie bewegte ihren Bauch rhythmisch gegen meinen. Meine Muskeln verkrampften sich. Sie duftete nach frischer Seife, unschuldiger, als sie sich benahm.

«Na siehst du«, sagte sie kichernd, machte sich los und ging auf die Heuballen zu, die den Raum halb ausfüllten.

«Komm«, sagte sie über die Schulter und stieg auch schon auf die Ballen, die eine durchgehend gerade Fläche bildeten. Ich folgte ihr langsam. Oben setzte ich mich, schaute auf den Boden hinunter, sah den Besen an der Tür, den Eimer und eine von der Sonne beschienene Stalldecke draußen. Auf dem Heu hatte Philip, als er klein war, jahrelang am liebsten gespielt… und wie gut, daß dir jetzt deine Familie einfällt, dachte ich.

Patty lag einen Meter von mir entfernt auf dem Rücken. Ihre weit geöffneten Augen glänzten, und auf ihren Lippen lag ein merkwürdiges kleines Lächeln. Ohne den Blick von mir zu wenden, öffnete sie die Silberknöpfe an ihrem Kleid bis weit unter die Taille. Dann ließ sie mit einer schüttelnden Bewegung das Kleid auseinanderfallen.

Sie hatte nichts darunter an.

Ich betrachtete ihren Körper, perlmuttfarben, schlank, begehrenswert; und es durchlief ihn ein leiser Schauer der Erwartung.

Ich sah ihr wieder ins Gesicht. Die Augen waren groß und dunkel, und ihr merkwürdiges Lächeln kam mir plötzlich verstohlen, gierig und ganz und gar verdorben vor. Unvermittelt sah ich mich, wie sie mich sehen mußte, so wie ich mich in dem großen Spiegel in Octobers Stadthaus gesehen hatte, ein flotter, etwas zwielichtiger Bursche mit dunklen Haaren und unlauteren Absichten.

Da wußte ich ihr Lächeln einzuordnen.

Ich wandte mich ab, drehte ihr den Rücken zu und spürte, wie Zorn und Scham in mir aufstiegen.

«Ziehen Sie sich an«, sagte ich.

«Warum? Kriegst du keinen hoch, Danny?«

«Ziehen Sie sich an«, wiederholte ich.»Der Spaß ist vorbei.«

Ich sprang vom Heu herunter und ging, ohne mich umzudrehen, zur Tür hinaus. Schnappte mir den Besen, fluchte verhalten und schrubbte vor lauter Wut über mich selbst die nächste Stalldecke, bis mir die Arme weh taten.

Nach einer Weile sah ich sie im wieder zugeknöpften Kleid aus dem Heuspeicher kommen, um sich blicken und zu einer Schlammpfütze am Rand des Betons gehen. Sie saute sich gründlich die Schuhe ein, trat dann wie ein böses Kind auf die Decke, die ich gerade gereinigt hatte, und streifte den ganzen Matsch mitten darauf ab.

Ihre Augen waren groß, ihr Gesicht ausdruckslos, als sie mich ansah.

«Das wird dir noch leid tun, Danny«, sagte sie nur und ging ohne Eile über den Hof davon, wobei das kastanienbraune Haar ein wenig auf dem grünen Tweedkleid wippte.

Ich schrubbte die Decke noch einmal. Warum hatte ich sie geküßt? Warum war ich mit ihr, obwohl ich nach diesem Kuß über sie Bescheid wußte, ins Heu gegangen? Wie hatte ich so dumm, so gierig, so unbesonnen sein können? Sinnlose Bestürzung erfüllte mich.

Man brauchte eine Einladung zum Essen nicht anzunehmen, selbst wenn die Vorspeise Appetit gemacht hatte. Nahm man sie aber an, durfte man das Gebotene nicht so schroff zurückweisen. Sie hatte allen Grund, wütend zu sein.

Und ich hatte allen Grund, bestürzt zu sein. Seit neun Jahren ersetzte ich zwei Mädchen, von denen eines fast so alt war wie Patty, den Vater. Als sie klein waren, hatte ich ihnen beigebracht, sich nicht von Fremden mitnehmen zu lassen, und als sie größer wurden, wie man raffinierteren Fallstricken entgeht. Und jetzt war ich selbst einer derjenigen, vor denen alle Eltern warnen.

Ich hatte ein entsetzlich schlechtes Gewissen gegenüber October, denn es ließ sich nicht leugnen, daß ich das gleiche gewollt hatte wie Patty.

Загрузка...