Du mit deinen Befürchtungen, dachte ich. Du mit deiner überschäumenden Phantasie. Niemand wollte ihr was. Sie hatte ein Glas, halbvoll mit einer rosa Flüssigkeit, in der Hand und unterhielt sich lachend mit Adams und Humber, die ebenfalls tranken.
Humber wirkte angespannt, doch Adams lachte amüsiert. Das Bild prägte sich mir ein, bevor sie alle drei zu mir herüberschauten.
«Daniel!«rief Elinor.»Mr. Adams sagte, Sie seien schon weg.«
«Ja, aber ich habe etwas vergessen. Das wollte ich noch holen.«
«Lady Elinor Tarren«, sagte Adams betont, indem er an mir vorbeiging, die Tür schloß und sich dagegenlehnte,»wollte wissen, ob Sie das Experiment durchgeführt haben, für das sie Ihnen die Hundepfeife geliehen hat.«
Es war also doch gut, daß ich zurückgekommen war.
«Das habe ich so nicht gesagt«, wandte sie ein.»Ich dachte nur, ich könnte die Pfeife mitnehmen, wenn Daniel sie nicht mehr braucht. Ich meine, ich kam gerade vorbei, und dann müßte er sie mir nicht extra schicken.«
Ich wandte mich an Adams.»Lady Elinor Tarren«, sagte ich ebenso betont wie er,»weiß nicht, wofür ich ihre Hundepfeife haben wollte. Ich habe es ihr nicht gesagt. Sie hat keine Ahnung.«
Seine Augen wurden schmal, dann wieder weit und starrten mich an. Er schob das Kinn vor. Ihm war aufgefallen, wie ich ihn angesprochen, ihn angesehen hatte. So kannte er mich nicht. Er richtete den Blick auf Elinor.
«Lassen Sie sie in Ruhe«, sagte ich.»Sie weiß nichts.«
«Worum geht’s denn eigentlich?«fragte Elinor lächelnd.
«Was ist das für ein geheimnisvolles Experiment?«
«Nichts von Bedeutung«, sagte ich.»Hier, ehm… hier gibt’s einen tauben Stallmann, der wollte wissen, ob er auf einer höheren Frequenz hören kann, das ist alles.«
«Oh«, sagte sie.»Und konnte er?«
Ich schüttelte den Kopf.»Leider nicht.«
«Schade. «Sie trank einen Schluck, und Eis klimperte in ihrem Glas.»Tja, kann ich sie dann wiederhaben, wenn Sie sie nicht mehr brauchen?«
«Klar. «Ich holte die Pfeife aus meinem Gürtel und gab sie ihr. Humber sah es mit Verwunderung, Adams schwoll der Hals, weil bei der von Humber veranlaßten Durchsuchung ein so simples Versteck übersehen worden war.
«Danke«, sagte sie und steckte die Pfeife in ihre Tasche.
«Was haben Sie denn jetzt vor? Gehen Sie zu einem anderen Stall? Wissen Sie«, meinte sie lächelnd zu Humber,»es wundert mich, daß Sie ihn weggehen lassen. Er war der beste Reiter, der je bei meinem Vater gearbeitet hat. So einen muß man doch behalten.«
Bei Humber war ich mäßig geritten. Er sagte gewichtig:
«So gut ist er auch wieder nicht…«, wurde aber von Adams aalglatt unterbrochen.
«Ich glaube, wir haben Roke unterschätzt, Hedley. Lady Elinor, wenn Sie ihn so empfehlen, stellt ihn Mr. Humber sicherlich wieder ein und läßt ihn nie mehr weg.«»Prima«, meinte sie beifällig.
Adams sah mich unter gesenkten Augenlidern an, um festzustellen, ob ich seinen kleinen Spaß mitbekommen hatte. Ich fand ihn nicht sehr lustig.
«Nehmen Sie doch den Sturzhelm ab«, sagte er.»Wir sind im Haus und sprechen mit einer Dame. Nehmen Sie ihn ab.«
«Ich behalte ihn lieber auf«, sagte ich ruhig. Und am liebsten hätte ich noch eine Ritterrüstung dazu gehabt. Adams, der keinen Widerspruch von mir gewohnt war, klappte den Mund zu.
Humber sagte verwirrt:»Ich verstehe nicht, was Ihnen an Roke liegt, Lady Elinor. Ich dachte, Ihr Vater hätte ihn rausgeworfen, weil er Sie… nun ja, belästigt hat.«
«Aber nein«, erwiderte sie lachend.»Nicht mich, meine Schwester angeblich. Nur war das alles erfunden. Ein Märchen. «Sie trank aus und lieferte mich endgültig ans Messer.»Ich mußte Vater versprechen, niemandem zu erzählen, daß das alles aus der Luft gegriffen war, aber ich finde, Sie als Daniels Arbeitgeber sollten wissen, daß er ein viel besserer Kerl ist, als er sich den Anschein gibt.«
Einen Moment lang war es arg still. Dann sagte ich lächelnd:»Das war das netteste Zeugnis, das ich je bekommen habe… Sie sind sehr liebenswürdig.«
«Ach je«, sagte sie lachend,»Sie wissen schon, wie ich das meine. Und ich verstehe wirklich nicht, warum Sie nicht ein bißchen Mut zur Selbstbehauptung haben.«
«Das ist nicht immer ratsam«, sagte ich und blickte mit hochgezogener Braue zu Adams. Mein Humor gefiel ihm offenbar auch nicht so. Er nahm Elinors Glas.
«Noch einen Gin mit Campari?«fragte er.
«Nein, danke, ich muß los.«
Er stellte ihr Glas neben seines und sagte:»Glauben Sie, daß Roke jemand ist, der Beruhigungstabletten braucht, bevor er sich an ein schwieriges Pferd heranwagt?«
«Beruhigungstabletten? Woher denn? So was hat er bestimmt im Leben noch nicht angerührt, oder?«sagte sie und wandte sich etwas verunsichert zu mir.
«Nein«, antwortete ich. Ich wollte unbedingt, daß sie ging, bevor sie ins Grübeln kam. Sie war nur sicher, solange sie nichts wußte und keinen Verdacht schöpfte.
«Aber Sie sagten doch…«, setzte Humber begriffsstutzig an.
«Das war ein Scherz. Nur ein Scherz«, meinte ich zu ihm.»Mr. Adams hat sehr darüber gelacht, wenn Sie sich erinnern.«
«Stimmt. Ich habe gelacht«, sagte Adams düster. Wenigstens schien er bereit, sie so ahnungslos, wie sie gekommen war, auch wieder gehen zu lassen.
«Ach so. «Elinors Gesicht hellte sich auf.»Tja… ich muß mich jetzt auf den Weg ins College machen. Zum Wochenende fahre ich morgen nach Slaw… soll ich meinem Vater etwas ausrichten, Daniel?«
Es war nur eine beiläufig gestellte Frage, aber ich sah, wie Adams erstarrte.
Ich schüttelte den Kopf.
«Also dann. hat mich sehr gefreut, Mr. Humber.
Schönen Dank für den Campari. Hoffentlich habe ich Sie nicht zu lange aufgehalten.«
Sie gab Humber und Adams und dann mir die Hand.
«Wie gut, daß Sie etwas vergessen haben. Ich dachte, wir hätten uns verpaßt… und ich wäre meiner Pfeife umsonst nachgelaufen. «Sie lächelte.
«Ja, traf sich gut«, meinte ich lachend.
«Also auf Wiedersehen. Wiedersehen, Mr. Humber«, sagte sie, als Adams ihr die Tür aufhielt. Sie verabschiedete sich von ihm, und über Humbers Schulter sah ich durchs Fenster, wie sie zu ihrem Wagen ging. Sie stieg ein, ließ den Motor an, winkte fröhlich Adams, der noch am Eingang stand, und fuhr zum Hof hinaus. Meine Erleichterung darüber war noch größer als die Sorge, wie ich selbst da herauskommen sollte.
Adams kam wieder herein, schloß die Tür, sperrte sie ab und steckte zur Überraschung Humbers, der noch immer nicht verstand, den Schlüssel in die Tasche.
«Also irgendwie«, sagte Humber, indem er mich anstarrte,»Kommt Roke mir verändert vor. Er redet auch anders.«
«Der Teufel weiß, wer Roke ist!«
Das einzig Gute an dem Ganzen war, daß ich mich vor Adams nicht mehr zu ducken brauchte. Es war schön, einmal aufrecht vor ihm zu stehen. Auch wenn es vielleicht nicht lange gutging.
«Soll das heißen, Roke, nicht Elinor Tarren weiß das mit der Pfeife?«
«Natürlich«, sagte Adams gereizt.»Menschenskind, kapierst du denn überhaupt nichts? Es sieht so aus, als hätte ihn October auf uns angesetzt, obwohl der Himmel weiß…«
«Roke ist doch bloß ein Pfleger.«
«Bloß!«fuhr Adams auf.»Als ob das etwas ändert. Auch Pferdepfleger haben Augen im Kopf. Auch Pferdepfleger können reden, oder nicht? Und schau ihn dir an. Der ist nicht so erbärmlich, wie er immer getan hat.«
«Wenn sein Wort gegen deins steht, kommt er nicht durch«, sagte Humber.
«Der kommt sowieso nicht durch.«»Was meinst du damit?«
«Ich bringe ihn um«, sagte Adams.
«Das wäre vielleicht die glattere Lösung. «Humber hörte sich an, als spreche er von einem Pferd.
«Dafür ist es zu spät«, sagte ich.»Ich habe der Hindernisbehörde schon einen Bericht geschickt.«
«Das hat man uns schon mal gesagt«, erwiderte Humber,»aber es hat nicht gestimmt.«
«Diesmal schon.«
Adams sagte heftig:»Bericht hin, Bericht her, ich bringe ihn um. Es gibt noch andere Gründe…«Er brach ab und starrte mich böse an:»Ich bin auf Sie reingefallen. Ich! Wie haben Sie das angestellt?«
Ich schwieg. Für leichte Unterhaltung schien mir jetzt nicht die Zeit.
«Der hier«, warf Humber ein,»hat ein Motorrad.«
Ich entsann mich, daß die Fenster im Waschraum als Fluchtweg alle zu klein waren. Die Tür zum Hof war abgesperrt, und Humber stand vor seinem Schreibtisch, zwischen mir und dem Fenster. Wenn ich Lärm schlug, würde nur Cass kommen, aber keiner von den armen Pflegern, die gar nicht wußten, daß ich da war und sonst für mich auch keinen Finger gerührt hätten. Adams und Humber waren beide größer und schwerer als ich, Adams sogar erheblich. Humber hatte seinen Stock, ich ahnte nicht, zu welcher Waffe Adams greifen würde, und ich hatte mich im Leben noch nicht ernsthaft geprügelt. Die nächsten Minuten sahen nicht gerade rosig aus.
Andererseits war ich jünger als sie und dank der harten Arbeit, die sie mir abverlangt hatten, durchtrainiert. Ich hatte den Sturzhelm, und ich konnte mit irgend etwas werfen… ganz aufgeschmissen war ich vielleicht doch nicht.
Ein polierter Holzstuhl mit Ledersitz stand an der Wand neben der Tür. Adams packte ihn und kam auf mich zu. Humber blieb stehen, ließ aber den Stock durch die Finger gleiten und hielt ihn schlagbereit.
Ich fühlte mich schrecklich wehrlos.
Adams’ Blick war verschleierter denn je, und das Lächeln um seinen Mund erreichte die Augen nicht.»Kosten wir das ruhig aus«, sagte er laut.»Ein verbranntes Unfallopfer wird sich keiner so genau ansehen.«
Er schlug mit dem Stuhl nach mir. Ich konnte zwar ausweichen, geriet dafür aber in Reichweite Humbers, dessen Stock mir haarscharf am Ohr vorbei auf die Schulter knallte. Ich stolperte, stürzte, wälzte mich herum und kam gerade noch rechtzeitig hoch, um dem herabsausenden Stuhl von Adams zu entgehen. Ein Stuhlbein brach beim Aufschlag auf dem Boden ab, und Adams griff es sich. Ein dickes, gerades, vierkantiges Stuhlbein mit einer gefährlich splitterigen Bruchstelle.
Adams lächelte verstärkt und warf den Rest des Stuhls in die Ecke.
«Jetzt«, sagte er,»machen wir uns einen Spaß.«
Und wenn man so etwas einen Spaß nennen konnte, dann machten sie ihn sich wirklich.
Nach kurzer Zeit waren sie jedenfalls noch ziemlich heil, während ich etliche blaue Flecken dazubekommen hatte sowie eine stark blutende Wunde an der Stirn, von Adams abgebrochenem Stuhlbein. Aber der Sturzhelm entschärfte viele ihrer Angriffe, und ich entdeckte, daß ich im Ausweichen nicht unbegabt war. Außerdem trat ich um mich.
Humber, nicht der Beweglichste, blieb auf seinem Posten am Fenster und schlug zu, wann immer ich in Reichweite kam. In dem kleinen Büro geschah das nur zu oft.
Ich versuchte von Anfang an, ihnen die Knüppel zu entreißen, den kaputten Stuhl an mich zu bringen oder etwas Werfbares zu finden, aber das war überhaupt nicht gut für meine Finger, und an den Stuhl ließ Adams, der meine Absichten erriet, mich einfach nicht heran. Alles, was sich in dem kahlen Büro zum Werfen eignete, lag hinter Humber auf seinem Schreibtisch.
Weil es in der Nacht am Hang so kalt gewesen war, trug ich zwei Pullover unter der Jacke, die ein wenig schlagdämpfend wirkten, aber besonders Adams schlug mit Wucht, und jeder seiner Treffer rüttelte mich durch. Ich hatte auch daran gedacht, durchs geschlossene Fenster zu hechten, aber sie ließen mich da nicht ran, und ich mußte in Bewegung bleiben.
Verzweifelt ging ich von der Abwehr zum Angriff über und stürzte mich auf Humber. Ohne auf Adams zu achten, der prompt zwei fürchterliche Treffer landete, packte ich meinen ehemaligen Arbeitgeber beim Wickel, riß ihn, einen Fuß gegen den Schreibtisch stemmend, herum und schleuderte ihn durch den schmalen Raum. Er flog krachend in die Aktenschränke.
Auf dem Schreibtisch lag der grüne Briefbeschwerer aus Glas. Groß wie ein Kricketball. Er war gut zu greifen, und mit einer einzigen schnellen Bewegung hob ich ihn auf, drehte mich auf den Zehenspitzen herum und warf ihn nach Humber, der keine drei Meter entfernt noch um sein Gleichgewicht rang.
Ich traf ihn genau zwischen die Augen. Ein Volltreffer. Bewußtlos sank er in sich zusammen.
Ich war bei ihm, noch bevor er am Boden aufschlug, und griff nach der grünen Glaskugel, die als Waffe jedem Stock oder kaputten Stuhl überlegen war. Aber Adams schaltete zu schnell. Er holte aus.
Ich nahm irrtümlich an, ein weiterer Schlag wäre halb so schlimm, und streckte mich weiter nach dem Briefbeschwerer, obwohl ich wußte, daß Adams’ Stuhlbein unterwegs war. Aber diesmal nützte mir der Sturzhelm wenig, weil ich den Kopf gesenkt hielt. Adams traf mich unter dem Helmrand, hinter dem Ohr.
Benommen taumelte ich gegen die Wand und setzte mich hin, die Schultern an die Wand gelehnt und ein Bein unterm Körper angewinkelt. Ich wollte aufstehen, hatte aber einfach nicht die Kraft dazu. Mir schwindelte. Ich sah kaum etwas. Es sang mir in den Ohren.
Adams beugte sich über mich, öffnete den Gurt meines Sturzhelms und nahm ihn mir vom Kopf. Der hat doch was vor, dachte ich beduselt. Ich blickte auf. Er stand lächelnd da und schwang das Stuhlbein. Freute sich.
Im allerletzten Moment lichtete sich der Nebel in meinem Kopf ein wenig, und ich wußte, wenn ich nichts dagegen tat, würde dieser Schlag der letzte sein. Zum Ausweichen war keine Zeit. Ich riß den rechten Arm hoch, um meinen bloßen Kopf zu schützen, und das niedersausende Stück Holz krachte hinein.
Es war wie eine Explosion. Meine Hand fiel taub und kraftlos herunter.
Wieviel hatte ich noch? Zehn Sekunden. Höchstens. Ich war wütend. Das Vergnügen, mich umzubringen, sollte Adams auf keinen Fall haben. Er lächelte immer noch. Beobachtete mein Gesicht, während er ausholte, um mir den Gnadenstoß zu geben.
Nein, dachte ich, wozu hast du denn Beine? Willst du hier liegen, bis er dich ausradiert, statt dich zu wehren? Er stand rechts von mir. Mein linkes Bein war unter mir eingeknickt, und er achtete nicht weiter darauf, als ich es herauszog und über das andere legte. Ich brachte beide Beine hoch, eins vor, eins hinter seinen Füßen, dann schloß ich die Beinschere und rollte mich mit einem Ruck jäh auf die Seite.
Adams war völlig überrumpelt. Er verlor die Balance, ruderte wild mit den Armen und fiel krachend auf den Rük-ken. Hier kam mir sein Körpergewicht zustatten, denn es verstärkte den Aufprall, der ihm die Luft nahm, und erschwerte ihm das Aufstehen. Meine Rechte war zum Werfen nicht mehr zu gebrauchen. Ich rappelte mich hoch, packte die grüne Glaskugel mit links und schlug sie Adams über den Kopf, während er noch auf den Knien lag. Es schien keine große Wirkung zu haben. Er stand auf. Er ächzte.
Verzweifelt holte ich aus und schlug noch einmal zu. Ich traf ihn am Hinterkopf; er ging zu Boden und blieb liegen.
Benommen, mit flauem Magen, ließ ich mich neben ihn fallen, und meine Schmerzen holten mich ein, während das Blut aus der Wunde an meiner Stirn langsam auf den Boden tropfte.
Ich weiß nicht, wie lange ich so dasaß, zu Atem und zu Kräften zu kommen suchte, damit ich endlich abziehen konnte, aber allzu lange kann es nicht gewesen sein. Der Gedanke an Cass brachte mich schließlich auf die Beine. Jeder Dreikäsehoch hätte mich jetzt weggehauen, und der drahtige kleine Futtermeister erst recht.
Die beiden anderen lagen regungslos am Boden. Adams atmete schwer, beinah schnarchend. Humbers Atem ging ganz flach.
Ich fuhr mir mit der Linken übers Gesicht, und sie war blutverschmiert. Dein ganzes Gesicht muß voll Blut sein, dachte ich. So kannst du nicht durch die Gegend fahren. Ich taumelte in den Waschraum.
Im Spülbecken lagen halb geschmolzene Eiswürfel. Eis. Benommen guckte ich darauf. Eis im Kühlschrank. Klirrendes Eis in den Gläsern. Eis im Ausguß. Kühl und blutstillend. Ich nahm ein Stück Eis und sah in den Spiegel. Grausig. Ich drückte das Eis auf die Wunde und versuchte, wie man so schön sagt, mich zusammenzureißen. Mit geringem Erfolg.
Nach einer Weile ließ ich Wasser ins Becken laufen und wusch mir das Blut ab. Dabei stellte sich heraus, daß die Wunde nur ein paar Zentimeter lang, aber nicht tief war, auch wenn sie immer noch nachblutete. Ich suchte ein Handtuch.
Auf dem Tisch neben dem Arzneischrank stand eine offene kleine Flasche, daneben lag ein Teelöffel. Mein Blick glitt auf der Suche nach dem Handtuch darüber hinweg, stockte, kehrte zurück. Ich machte drei unsichere Schritte zum Tisch hin. Mit der Flasche hat es etwas auf sich, dachte ich, aber ich war nicht klar im Kopf.
Eine Flasche Phenobarbital in Pulverform, wie ich es Mickey vierzehn Tage lang verabreicht hatte. Nur Phenobarbital, weiter nichts. Ich seufzte.
Dann fiel mir ein, daß Mickey den letzten Rest aus der Flasche bekommen hatte. Sie hätte leer sein müssen. Ganz leer. Nicht voll. Die hier war noch bis zum Hals gefüllt, und die Wachsstückchen vom aufgebrochenen Siegel lagen ringsherum. Jemand hatte kürzlich eine neue Flasche Phenobarbital geöffnet und ihr ein paar Löffel entnommen.
Natürlich. Für Kandersteg. Ich fand ein Handtuch und trocknete mir das Gesicht. Dann kehrte ich ins Büro zurück und kniete neben Adams nieder, um den Büroschlüssel aus seiner Tasche zu holen. Er schnarchte nicht mehr.
Ich drehte ihn auf den Rücken.
Es läßt sich nicht in schönen Worten sagen: Er war tot.
Blutfäden waren ihm aus Ohren, Augen, Nase und Mund gelaufen. Ich betastete seinen Kopf an der Stelle, wo ich ihn getroffen hatte, und die eingedrückten Schädelknochen bewegten sich unter meinen Fingern.
Entsetzt und zitternd suchte ich in seinen Taschen und fand den Schlüssel. Dann stand ich auf und ging langsam zum Schreibtisch, um die Polizei anzurufen.
Das Telefon lag auf dem Boden, der Hörer neben der Gabel. Ich bückte mich und hob den Apparat unbeholfen mit der linken Hand auf, und alles schwamm vor den Augen. Wäre mir nur nicht so übel gewesen. Ich richtete mich auf und stellte das Telefon auf den Schreibtisch. Wieder lief Blut an meiner Braue herunter. Ich hatte nicht die Energie, es abzuwischen.
Draußen im Hof brannten ein paar Lampen, auch die in Kanderstegs Box. Die Tür stand weit offen, und das angebundene Pferd schlug wütend nach allen Seiten aus. Es machte keineswegs den Eindruck, als hätte es ein Beruhigungsmittel bekommen.
Meine Finger stockten an der Wählscheibe, und ich erstarrte. Mein Kopf war plötzlich klar.
Kandersteg stand nicht unter Beruhigungsmitteln. Seine Erinnerung sollte ja nicht getrübt werden. Im Gegenteil. Mickey hatte erst Phenobarbital bekommen, als er völlig aus dem Lot geraten war.
Ich wollte nicht glauben, was mein Verstand mir sagte: daß ein oder mehrere Teelöffel Phenobarbital, aufgelöst in einem großen Glas Gin mit Campari, fast mit Sicherheit den Tod bedeuteten.
Ganz genau erinnerte ich mich an die Szene im Büro, an die Gläser, das angespannte Gesicht Humbers, die Belustigung von Adams. Die gleiche fröhliche Miene, mit der er sich angeschickt hatte, mich umzubringen. Töten machte ihm Spaß. Er hatte den voreiligen Schluß gezogen, Eli-nor kenne den Zweck der Hundepfeife, und hatte nicht gezögert, sie aus dem Weg zu räumen.
Kein Wunder, daß er sie nicht gebeten hatte, noch zu bleiben. Sie sollte schön zum College zurückfahren und auf ihrem Zimmer sterben, zig Kilometer entfernt, ein dummes Ding, das eine Überdosis Tabletten geschluckt hatte. Keinerlei Verbindung zu Adams und Humber.
Kein Wunder auch, daß er so entschlossen gewesen war, mich umzubringen: nicht nur, weil ich über die Pferde Bescheid wußte, sondern weil ich Elinor den Gin hatte trinken sehen.
Ich konnte mir unschwer vorstellen, was meiner Ankunft vorausgegangen war. Adams, wie er scheinheilig fragte:»Sie wollten also nachhören, ob Roke die Pfeife noch braucht?«
«Ja.«
«Und weiß Ihr Vater, daß Sie hier sind? Weiß er von der Pfeife?«
«Ach was, ich bin ganz spontan hergekommen. Er hat keine Ahnung.«
Sicher hatte er sie für dumm gehalten, weil sie einfach so hereingeplatzt war; aber für einen Mann wie ihn waren vermutlich alle Frauen dumm.
«Möchten Sie Eis zu Ihrem Drink? Ich hole Ihnen welches. Keine Mühe. Gleich nebenan. Bitte sehr, meine Liebe, einmal Gin mit Phenobarbital, und auf geht’s in den Himmel.«
Im Fall Stapleton hatte er auf die gleiche Karte gesetzt, und es hatte funktioniert. Wäre er da nicht auch noch mit zwei weiteren Morden durchgekommen, wenn man mich im nächsten Bezirk tot unter den Trümmern meines Motorrads in einer Schlucht gefunden hätte und Elinor tot in ihrem College?
Wenn Elinor starb.
Ich hatte den Finger noch auf der Wählscheibe. Ich wählte dreimal die Neun. Niemand meldete sich. Ich drückte auf die Gabel und versuchte es noch einmal. Nichts. Keine Verbindung. Die Leitung war tot. Alles war tot — Mickey war tot, Stapleton war tot, Adams war tot, Elinor… laß das. Ich nahm meinen durcheinandergeratenen Verstand zusammen. Wenn das Telefon nicht funktionierte, mußte jemand zu Elinor hinfahren, damit sie nicht starb.
Mein erster Gedanke war, daß ich nicht fahren konnte. Aber wer sonst? Wenn ich recht hatte, brauchte sie dringend einen Arzt, und mit jeder Sekunde, die ich nach einem Telefon suchte oder nach jemandem, der mir die Fahrt abnehmen konnte, verringerten sich ihre Überlebenschancen. Ich konnte in zwanzig Minuten bei ihr sein. Wenn ich zum Anrufen nach Posset fuhr, wurde ihr auch nicht schneller geholfen.
Erst beim dritten Versuch brachte ich den Schlüssel ins Schloß. Mit der Rechten konnte ich ihn überhaupt nicht halten, und die Linke zitterte. Ich holte tief Luft, schloß die Tür auf, ging hinaus und zog sie hinter mir zu.
Niemand bemerkte mich, als ich den Stallhof auf dem gleichen Weg, den ich gekommen war, verließ und zu meinem Motorrad ging. Aber es sprang nicht sofort an, und schon kam Cass neugierig um die Boxenreihe herum.
«Hallo?«rief er.»Bist du das, Dan? Was willst du denn hier noch?«Er kam auf mich zu.
Ich trat grimmig auf den Starter. Der Motor blubberte, hustete und heulte auf. Ich zog die Kupplung und legte den Gang ein.
«Hiergeblieben!«rief Cass. Aber ich fuhr ihm davon und brauste zum Tor hinaus in Richtung Posset, daß der Schotter unter den Reifen wegspritzte.
Der Gaszug war im rechten Lenkergriff integriert. Man drehte den Griff einwärts, um zu beschleunigen, und vorwärts, um das Tempo zu verlangsamen. Normalerweise drehte er sich leicht. Jetzt allerdings nicht, denn sobald ich die Finger um ihn geschlossen hatte, war es mit der Taubheit in meinem Arm schlagartig vorbei. Fast wäre ich in der Ausfahrt noch vom Bock gefallen.
Durham lag sechzehn Kilometer nordöstlich. Zweieinhalb bergab nach Posset, zwölf auf einer leidlich geraden, wenig befahrenen Nebenstraße durchs Heidemoor, anderthalb durch die Stadt zur Uni. Das letzte Stück würde wegen des Verkehrs, der Abzweigungen, der vielen Tempowechsel am schwierigsten sein.
Nur das Wissen, daß Elinor ohne mich wahrscheinlich sterben würde, hielt mich überhaupt auf der Maschine, und insgesamt war es eine Fahrt, die ich nicht noch einmal erleben möchte. Ich wußte nicht, wieviel Schläge ich abbekommen hatte, aber mancher Teppich wäre danach staubfrei gewesen. Ich konzentrierte mich auf die vor mir liegende Aufgabe.
Wenn Elinor direkt zum College gefahren war, mußte sie bald nach ihrer Ankunft schläfrig geworden sein. Soweit ich wußte — es hatte mich nie sonderlich interessiert —, wirkten Barbiturate erst nach einer Stunde. Aber in Verbindung mit Alkohol setzte die Wirkung schneller ein. Nach zwanzig Minuten oder einer halben Stunde vielleicht schon. Ich wußte es nicht. In zwanzig Minuten konnte sie zumindest heil von Humber zurückgekommen sein. Und dann? Wahrscheinlich war sie hinauf in ihr Zimmer gegangen, hatte sich hingelegt, weil sie müde war, und war eingeschlafen.
Während ich mit Adams und Humber gekämpft hatte, war sie unterwegs nach Durham gewesen. Ich wußte nicht, wieviel Zeit ich im Waschraum verduselt hatte, aber sie konnte erst kurz, bevor ich losgefahren war, im College angekommen sein. Vielleicht war ihr ja so schwummrig gewesen, daß sie es einer Freundin erzählt oder jemand um Rat gefragt hatte, aber selbst dann konnte niemand ahnen, was mit ihr los war.
Ich kam nach Durham, bog ab und wieder ab, hielt sogar bei Rot an einer verkehrsreichen Straße und kämpfte gegen die Versuchung an, den letzten Kilometer im Schritttempo zu fahren, nur damit ich nicht mehr am Lenkergriff zu drehen brauchte. Aber die Sorge, das Gift könnte inzwischen irreparable Schäden herbeiführen, trieb mich voran.