Kapitel 14

Auf der Rückfahrt machte ich in Posset halt, um zu sehen, ob October zu meiner Theorie von vor acht Tagen Stellung bezogen hatte, aber es war keine Post für mich gekommen.

Obwohl ich schon spät dran war, schrieb ich ihm noch. Mir ging Tommy Stapleton nicht aus dem Kopf, der gestorben war, ohne weitergegeben zu haben, was er wußte. Ich wollte nicht den gleichen Fehler machen. Und sterben noch viel weniger. Ich schrieb sehr schnell.

«Der Auslöser ist, glaube ich, eine lautlose Pfeife, wie man sie zur Hundedressur nimmt. Humber hat so eine in der Bar seines Wagens liegen. Erinnern Sie sich an Old Etonian? In Cartmel werden morgens vor den Pferderennen Hunderennen abgehalten.«

Nachdem ich den Brief aufgegeben hatte, kaufte ich mir eine große Tafel Schokolade, dazu den Comic für Jerry und versuchte möglichst unauffällig in den Stall zurückzukommen. Cass erwischte mich trotzdem und meinte säuerlich, den nächsten Samstag bekäme ich wohl kaum frei, da er mich Humber melden werde. Ich seufzte resigniert, machte mich an die mehr als reichliche Arbeit und spürte, wie die kalte, schmuddelige, aggressive Atmosphäre wieder von mir Besitz ergriff.

Aber etwas hatte sich geändert. Die Pfeife lag wie eine Bombe in meinem Geldgürtel. Mein Todesurteil, wenn ich damit erwischt wurde. Nahm ich zumindest an. Ich mußte erst noch prüfen, ob ich keinen falschen Schluß gezogen hatte.

Tommy Stapleton hatte wahrscheinlich geahnt, was ablief, und war geradewegs zu Humber gegangen, um ihn zur Rede zu stellen. Er konnte nicht wissen, daß er es mit Männern zu tun hatte, die auch vor einem Mord nicht zurückschreckten. Aber weil er umgekommen war, war ich gewarnt. Ich lebte seit sieben Wochen unbehelligt in ihrer Nähe, denn ich hatte aufgepaßt, und da ich bis zum Schluß unentdeckt bleiben wollte, überlegte ich am Sonntag reiflich, wie ich die Probe aufs Exempel machen konnte, ohne aufzufliegen.

Sonntag nachmittag gegen fünf kam Adams mit seinem blitzenden grauen Jaguar in den Hof gefahren. Wie immer schlug mir sein Anblick aufs Gemüt. Er begleitete Humber bei der üblichen Stallkontrolle und blieb lange vor Mickeys Box stehen. Weder er noch Humber gingen hinein. Humber war seit dem Tag, als er mir geholfen hatte, den ersten Tränkeimer mit Beruhigungsmittel hineinzustellen, mehrmals in der Box gewesen, aber Adams noch überhaupt nicht.

«Was meinst du, Hedley?«fragte Adams.

Humber zuckte die Achseln.»Unverändert.«

«Abschreiben?«

«Sieht so aus. «Humber hörte sich deprimiert an.

«Verdammt ärgerlich«, fuhr Adams auf. Er sah mich an.

«Machen Sie sich immer noch mit Tranquilizern Mut?«

«Ja, Sir.«

Er lachte gehässig. Er fand das sehr komisch. Dann verfinsterte sich seine Miene, und er sagte brutal zu Humber:»Es bringt ja doch nichts. Also weg mit ihm.«

Humber wandte sich ab und sagte:»Gut, das wird morgen erledigt.«

Sie gingen zur nächsten Box. Ich schaute Mickey an. Ich hatte für ihn getan, was ich konnte, aber es war hoffnungslos; er war von Anfang an nicht zu retten gewesen. Nach vierzehn Tagen innerem Chaos, dauernder Betäubung und Futterverweigerung war er in einem erbärmlichen Zustand, und ein weniger gefühlloser Mensch als Humber hätte seinem Leiden längst ein Ende gesetzt.

Ich machte es ihm für seine letzte Nacht bequem und wich einmal mehr seinen zuschnappenden Zähnen aus. Nicht, daß ich es bedauert hätte, ihn loszuwerden, denn vierzehn Tage mit einem durchgeknallten Pferd sind jedem genug; aber wenn er am nächsten Tag getötet werden sollte, mußte ich mein Experiment sofort anstellen.

Das kam mir zu plötzlich. Während ich mein Putzzeug wegräumte und über den Hof zur Küche ging, überlegte ich, ob es nicht wenigstens einen guten Grund gab, damit zu warten.

Die Gründe flogen mir zu, bis ich an der unangenehmen Erkenntnis nicht mehr vorbeikam, daß ich zum erstenmal seit meiner Kinderzeit gehörig Angst hatte.

Ich konnte October bitten, das Experiment mit Six-Ply zu machen, dachte ich. Oder mit einem der anderen Pferde. Ich mußte es nicht selber tun. Anders war es viel gescheiter. Der Graf riskierte dabei überhaupt nichts, während ich, wenn Humber mich erwischte, so gut wie tot war; am besten also, man überließ es October.

Da merkte ich dann, daß ich kneifen wollte, und es gefiel mir nicht. Ich brauchte fast den ganzen Abend, um mich zu entschließen, die Probe selbst zu machen. Bei Mickey. Am nächsten Morgen. Sicher wäre es einfacher gewesen, das Ganze auf October abzuwälzen, aber was hätte mein Gewissen dazu gesagt? Warum war ich von zu Hause weggegangen, wenn nicht, um meinen Mann zu stehen?

Als ich am nächsten Morgen mit dem Eimer zum Büro ging, um die letzte Dosis Phenobarbital für Mickey abzuholen, war kaum noch etwas in der Flasche. Cass drehte sie um und klopfte sie am Eimer aus, damit kein Gran des weißen Pulvers verlorenging.

«Das war’s dann«, meinte er, als er den Stöpsel auf die leere Flasche setzte.»Schade, sonst hätten wir dem armen Vieh ausnahmsweise die doppelte Dosis gegönnt. Nun mach schon«, fügte er scharf hinzu.»Kein Grund, hier mit Leichenbittermiene rumzuhängen. Dich erschießt heute nachmittag ja keiner.«

Das hoffte ich auch.

Ich schwenkte den Eimer unterm Wasserhahn, bis sich das Phenobarbital auflöste, und kippte es weg. Dann füllte ich klares Wasser nach und ging damit zu Mickey.

Er konnte nicht mehr. Die Knochen traten noch deutlicher unter dem Fell hervor, der Kopf hing zwischen den Schultern herab. Die Augen hatten immer noch einen wirren, wilden Ausdruck, aber es ging so rapide bergab mit ihm, daß er kaum noch Kraft hatte, jemanden anzugreifen. Er machte nicht einmal den Versuch, mich zu beißen, als ich den Eimer vor ihn hinstellte, sondern ging mit dem Maul hinein und soff halbherzig ein paar Schlucke.

Ich ließ ihn allein und holte ein neues Halfter aus dem Korb in der Sattelkammer. Das war streng verboten; nur Cass durfte neues Zeug ausgeben. Ich ging mit dem Halfter zu Mickey und legte es ihm um, nachdem ich das in den vierzehn Tagen seiner Krankheit durch ständiges Zerren strapazierte alte heruntergenommen und unter einem Strohhaufen versteckt hatte. Ich löste die Anbindekette vom alten Halfter und befestigte sie am Ring des neuen. Dann klopfte ich Mickey den Hals, was ihm nicht gefiel, verließ die Box und sperrte nur die untere Hälfte der Tür zu.

Wir ritten mit dem ersten, dann mit dem zweiten Lot aus, und ich nahm an, daß Mickeys auf Entzug gesetzte Gehirnzellen inzwischen langsam aus ihrem Dämmer erwachten.

Als ich mit Dobbin zum Stall zurückkam, blickte ich von draußen zu Mickey hinein. Sein Kopf pendelte hin und her, und er wirkte sehr unruhig. Armer Kerl, dachte ich. Armer Kerl. Und für ein paar Sekunden würde ich ihn noch mehr quälen müssen.

Humber stand an der Tür seines Büros und sprach mit Cass. Die ihre Pferde versorgenden Pfleger eilten hin und her, Eimer klapperten, Stimmen ertönten; der übliche Stallärm. Eine bessere Gelegenheit würde ich nicht bekommen.

Ich führte Dobbin über den Hof zu seiner Box. Auf halbem Weg nahm ich die Pfeife aus dem Geldgürtel und zog die Kappe ab, dann, nachdem ich mich vergewissert hatte, daß ich nicht beobachtet wurde, drehte ich den Kopf, setzte die Pfeife an und blies kräftig hinein. Es gab nur einen dünnen Ton, so hoch, daß ich ihn zwischen dem Geklapper von Dobbins Schritten kaum hören konnte.

Was darauf folgte, war gräßlich.

Mickey schrie vor Entsetzen.

Seine Hufe droschen gegen den Boden, die Wände, und er riß an der klirrenden Anbindekette.

Schnell brachte ich Dobbin in seine Box, band ihn an, steckte die Pfeife in meinen Gürtel und lief zu Mickey. Alle waren auf dem Weg dahin. Humber hinkte rasch über den Hof.

Mickey schrie immer noch und schmetterte die Hufe gegen die Wand, als ich über die Schultern von Cecil und Lenny in die Box schaute. Das arme Tier stand auf den Hinterbeinen und schien eine Bresche in die Ziegelmauer schlagen zu wollen. Dann setzte er die Vorderbeine plötzlich auf und riß mit seiner ganzen versiegenden Kraft zurück.

«Achtung!«schrie Cecil, indem er instinktiv vor den wahnsinnig angespannten Muskeln der Hinterhand zurückwich, obwohl er draußen in Sicherheit war.

Mickeys Anbindekette war nicht lang. Es gab ein widerliches Knacken, als sie gespannt war, und seine Rückwärtsbewegung wurde mit einem Ruck unterbrochen. Er rutschte mit den Hinterbeinen nach vorn und fiel krachend auf die Seite. Die Beine zuckten steif. Sein Kopf, der noch in dem stabilen neuen Halfter steckte, hing verdreht an der straff gespannten Kette über dem Boden, und der unnatürliche Winkel sagte alles. Er hatte sich das Genick gebrochen. Eigentlich hatte ich das für ihn gehofft, damit seine Raserei ein schnelles Ende fand.

Die ganze Mannschaft war vor Mickeys Box versammelt. Humber, der nur kurz von draußen einen Blick auf das tote Pferd geworfen hatte, drehte sich um und schaute nachdenklich seine sechs abgerissenen Pfleger an. Der harte Ausdruck seiner zusammengekniffenen Augen ließ nicht zu, daß jemand Fragen stellte. Es blieb erst einmal still.

«In einer Reihe antreten«, sagte er plötzlich.

Die Jungs waren überrascht, doch sie stellten sich nebeneinander auf.

«Taschen ausleeren«, sagte Humber.

Verwundert gehorchten sie ihm. Cass ging von einem zum anderen, sah sich an, was vorgezeigt wurde, und zog die Hosentaschen ganz heraus, um sich zu vergewissern, daß sie leer waren. Als er zu mir kam, zeigte ich ihm ein schmutziges Taschentuch, ein paar Geldstücke und stülpte meine Taschen um. Er nahm mir das Taschentuch ab, schüttelte es aus und gab es mir zurück. Die Pfeife unter meinem Hosenbund war nur Zentimeter von seinen Fingern entfernt.

Ich spürte Humbers prüfenden Blick aus zwei Metern, doch während ich mich bemühte, ein unverfängliches, höchstens etwas verwirrtes Gesicht zu machen, stellte ich erstaunt fest, daß ich weder schwitzte noch in Fluchtbereitschaft die Muskeln anspannte. Angesichts der Gefahr war ich merkwürdig ruhig und klar im Kopf. Es wunderte mich, aber ich konnte es gebrauchen.

«Gesäßtasche?«fragte Cass.

«Nichts drin«, sagte ich und drehte mich halb zu ihm, damit er es sehen konnte.

«Alles klar. Jetzt du, Kenneth.«

Ich schob die Taschen wieder in die Hose und stopfte mein Zeug hinein. Kein Zittern in den Händen. Erstaunlich, dachte ich.

Humber wartete und wachte, bis auch Kenneths Taschen ergebnislos geleert waren; dann sah er Cass an und wies mit dem Kopf auf die Stallboxen. Cass durchstöberte die Boxen der Pferde, die wir gerade bewegt hatten. Er kam aus der letzten zurück und schüttelte den Kopf. Humber deutete stumm auf die Garage, in der sein Bentley stand. Cass verschwand, tauchte wieder auf und schüttelte erneut den Kopf. Schweigend hinkte Humber, auf den schweren Stock gestützt, zu seinem Büro.

Er konnte die Pfeife nicht gehört haben, und er argwöhnte auch nicht, daß einer von uns absichtlich gepfiffen hatte, um die Wirkung auf Mickey zu beobachten, sonst hätten wir uns nackt ausziehen müssen und wären von Kopf bis Fuß gefilzt worden. Er hielt Mickeys Tod immer noch für einen Unfall, und nachdem sich weder bei den Pflegern noch in den Boxen eine Pfeife gefunden hatte, würde er hoffentlich zu dem Schluß kommen, daß unser verlorener Haufen für Mickeys Hirnsturm nichts konnte. Wenn Adams das auch fand, war ich aus dem Schneider.

Am Nachmittag mußte ich den Wagen waschen. Humbers Hundepfeife war noch an ihrem Platz, fein säuberlich in einer Lederschlaufe zwischen Korkenzieher und Eiszange. Ich rührte sie nicht an.

Adams kam am nächsten Tag.

Mickey war vom Abdecker geholt worden, der seine Magerkeit bemäkelt hatte, und ich hatte unauffällig das neue Halfter wieder in die Sattelkammer gebracht und das alte an die Anbindekette gehängt. Nicht einmal Cass hatte den Tausch bemerkt.

Adams und Humber schlenderten zu Mickeys leerer Box und unterhielten sich, an die Halbtür gelehnt. Jerry steckte den Kopf aus der Nachbarbox, sah sie dort stehen und zog ihn schnell wieder ein. Ich ging wie üblich meiner Arbeit nach, holte Heu und Wasser für Dobbin und brachte den Mistsack weg.

«Roke«, rief Humber.»Kommen Sie her, aber dalli.«

Ich eilte hinüber.»Sir?«

«Sie haben die Box hier nicht saubergemacht.«

«Entschuldigung, Sir. Ich mach’s heute nachmittag.«

«Sie machen das vor dem Essen«, bestimmte er.

Er wußte genau, daß ich dann nichts zu essen bekommen würde. Ich warf ihm einen Blick zu. Er sah mich berechnend an, mit schmalen Augenschlitzen und geschürzten Lippen.

Ich blickte zu Boden.»Ja, Sir«, sagte ich brav. Verdammt, dachte ich bei mir, das ist zu früh. Ich war noch keine acht Wochen da und hatte mir noch mindestens drei ausgerechnet. Wenn er mich jetzt schon abschieben wollte, konnte ich meine Aufgabe nicht zu Ende führen.

«Als erstes«, schaltete sich Adams ein,»Können Sie mal den Eimer rausholen und ihn wegschaffen.«

Ich sah in die Box. Mickeys Eimer stand noch neben der Krippe. Ich öffnete die Tür, ging hinein, nahm den Eimer und blieb jäh stehen.

Adams war mir nachgekommen. Er hatte Humbers Gehstock in der Hand, und er lächelte.

Ich ließ den Eimer fallen und wich in eine Ecke zurück. Er lachte.

«Heute keine Tranquilizer, was, Roke?«

Ich schwieg.

Er holte aus, und der Stockknauf landete auf meinen Rippen. Ein harter, gezielter Schlag. Als er wieder den Arm hob, schlüpfte ich darunter durch und stürzte aus der Box. Sein brüllendes Lachen hallte mir nach.

Ich lief, bis ich aus seinem Blickfeld war, ging dann im Schritt weiter und rieb mir den Brustkorb. Das würde einen ziemlichen blauen Fleck geben, und allzu viele davon wollte ich mir nicht einfangen. Wahrscheinlich konnte ich noch froh sein, daß sie mich auf dem üblichen Weg loszuwerden gedachten und nicht im Sturzflug mit einem brennenden Auto.

Den ganzen langen Nachmittag überlegte ich mit leerem Magen, was zu tun sei. Sollte ich gleich gehen und mich damit abfinden, daß das Ganze nicht zu Ende gebracht war, oder die paar Tage nutzen, die ich noch bleiben konnte, ohne Humbers Argwohn zu erregen? Wobei sich die bedrückende Frage stellte, was drei oder vier Tage bringen sollten, wenn acht Wochen mir nicht genügt hatten.

Ausgerechnet Jerry nahm mir die Entscheidung ab.

Nach dem Abendessen (gebackene Bohnen auf Brot, sparsam portioniert) saßen wir am Tisch, Jerrys Comic aufgeschlagen vor uns. Seit Charlie gegangen war, hatten wir kein Radio mehr, und die Abende waren langweiliger denn je. Lenny und Kenneth knobelten auf dem Fußboden. Cecil betrank sich irgendwo. Bert saß in seiner stillen Welt neben Jerry auf der Bank und sah zu, wie die Würfel über den Boden rollten.

Die Backofentür stand offen, und sämtliche Kochplatten am Elektroherd waren aufgedreht — Lennys schlauer Einfall zur Verstärkung der kargen Wärme des Ölofens, den Humber widerwillig zur Verfügung gestellt hatte. Bei der nächsten Stromrechnung würde damit wieder Schluß sein, aber vorerst hatten wir es warm.

Das schmutzige Geschirr stapelte sich im Spülstein. Spinnweben hingen wie Girlanden zwischen den Ziegelwänden und der Decke. Eine nackte Glühbirne gab Licht. Auf dem Tisch hatte jemand Tee verschüttet, und die Eselsohren von Jerrys Comic hatten ihn aufgesaugt.

Ich seufzte. Da setzte man mir die Pistole auf die Brust, und ich zauderte, dieses Schmuddeldasein hinter mir zu lassen!

Jerry sah von seinem Heft auf, ließ aber den Finger als Merkzeichen auf der Seite.

«Dan?«

«Mhm?«

«Hat Mr. Adams dich geschlagen?«

«Ja.«

«Das habe ich mir gedacht. «Er nickte ein paarmal und widmete sich wieder seinem Heft.

Mir fiel plötzlich ein, daß er in der Box neben der von Mickey gewesen war, bevor Adams und Humber mich gerufen hatten.

«Jerry«, sagte ich langsam,»hast du Mr. Adams und Mr. Humber reden hören, als du bei Mr. Adams’ schwarzem Hunter drin warst?«

«Ja«, antwortete er, ohne aufzusehen.

«Was haben sie gesagt?«

«Als du weggelaufen bist, hat Mr. Adams gelacht und dem Chef gesagt, du würdest das nicht lange aushalten. Aushalten«, wiederholte er verständnislos,»aushalten.«

«Und was haben sie vorher gesagt? Als sie dahin kamen und du den Kopf rausgesteckt und sie gesehen hast?«

Das beunruhigte ihn. Er setzte sich aufrecht und vergaß, den Finger im Heft zu lassen.

«Der Chef durfte nicht merken, daß ich noch da drin war. Ich hätte mit dem Hunter längst fertig sein sollen.«

«Ja. Hast du Schwein gehabt. Sie haben dich nicht erwischt.«

Er grinste und schüttelte den Kopf.

«Was haben sie gesagt?«hakte ich nach.

«Sie waren sauer wegen Mickey. Sie sagten, sie würden gleich mit dem nächsten anfangen.«

«Was heißt, mit dem nächsten?«

«Weiß ich nicht.«

«Haben sie sonst noch was gesagt?«

Er verzog das schmale Kindergesicht. Er wollte mich zufriedenstellen, und ich sah ihm an, daß er angestrengt nachdachte.

«Mr. Adams hat gesagt, du bist zu lange bei Mickey gewesen, und der Chef hat gesagt, ja, das ist zu… das ist zu… zu riskant, ja, und daß du weg mußt, und Mr. Adams hat gesagt, ja, sieh zu, daß er die Kurve kratzt, und sobald er weg ist, fangen wir mit dem nächsten an. «Stolz, daß er das so auf die Reihe bekommen hatte, riß er die Augen auf.

«Sag das noch mal«, bat ich ihn.»Nur das letzte.«

Jerry hatte durch die Comic-Vorlesestunden viel Übung darin, Gehörtes auswendig zu lernen.

Gehorsam wiederholte er:»Mr. Adams sagte, sieh zu, daß er die Kurve kratzt, und sobald er weg ist, fangen wir mit dem nächsten an.«

«Was wünschst du dir mehr als alles andere auf der Welt?«fragte ich.

Er war überrascht, wurde nachdenklich, und schließlich nahm sein Gesicht einen verträumten Ausdruck an.

«Also?«

«Eine Eisenbahn«, sagte er.»Eine zum Aufziehen. Du weißt schon. Mit Gleisen und allem. Und einem Signal.«

Er verstummte andächtig.

«Kriegst du von mir«, sagte ich.»Sobald ich kann.«

Er staunte mit offenem Mund.

«Jerry, ich höre hier auf«, sagte ich.»Man kann ja nicht bleiben, wenn Mr. Adams mit Prügeln anfängt. Also muß ich weg. Aber an die Eisenbahn denke ich. Versprochen.«

Der Abend verplätscherte wie so viele andere, und wir stiegen die Leiter zu unseren unbequemen Betten hinauf, wo ich im Dunkeln auf dem Rücken lag, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und mir vorstellte, wie Humbers Stock am nächsten Morgen wieder irgendwo auf meinen Knochen landete. Fast wie ein Zahnarzttermin, dachte ich kläglich — man malt es sich schlimmer aus, als es ist. Ich seufzte und schlief ein.

Operation Rauswurf ging wie erwartet am nächsten Tag weiter: Als ich Dobbin nach der Morgenarbeit mit dem zweiten Lot absattelte, trat Humber hinter mir in die Box und zog mir den Stock übers Kreuz.

Ich ließ den Sattel fallen — er landete auf einem Haufen frischem Pferdemist — und fuhr herum.

«Was hab ich denn gemacht, Sir?«sagte ich gekränkt. Er sollte kein ganz so leichtes Spiel haben, aber die Antwort kam prompt.

«Cass hat mir gesagt, daß Sie vorigen Samstagnachmittag zu spät zur Arbeit gekommen sind. Und heben Sie den Sattel auf. Was schmeißen Sie den einfach in den Dreck?«

Er stand breitbeinig vor mir und maß mit den Augen die Entfernung ab.

Na schön, dachte ich. Einen noch, dann ist Schluß.

Ich drehte mich um und hob den Sattel auf. Als ich damit hochkam, schlug er mich erneut ins Kreuz, nur wesentlich fester diesmal. Ein Atemstoß entwich mir durch die Zähne.

Ich warf den Sattel wieder in den Dreck und schrie ihn an:»Das reicht! Ich hör hier auf! Aber sofort!«

«Bitte sehr«, sagte er kalt, mit merklicher Zufriedenheit.

«Gehen Sie packen. Ihre Papiere können Sie im Büro abholen. «Er drehte sich auf dem Absatz um und hinkte langsam davon, Mission erfolgreich beendet.

Was für ein Eisschrank, dachte ich. Gefühllos, geschlechtslos, berechnend. Unmöglich, sich ihn verliebt, geliebt, mitleidig, traurig oder in irgendeiner Weise ängstlich vorzustellen.

Ich machte einen Buckel, verzog das Gesicht und beschloß, Dobbins Sattel im Dreck liegenzulassen. Paßt, dachte ich. Meiner Rolle getreu bis zum bitteren Ende.

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