Ein seltsamer Ort namens Schule.


Oder: Wie ich den halben Tag in einer Umhängetasche verbrachte.


Das Gebäude ist riesig. RIESIG. Also, ich dachte immer, unser Haus sei groß. Doch dieses hier übertrifft alles, was ich jemals gesehen habe. Gut, das ist nicht besonders viel, aber trotzdem! Wow! Ein gigantisches weißes Haus mit einer großen Eingangstür und einem Turm. Fast wie ein Schloss! Ich bin tief beeindruckt. Ob alle Schulen so aussehen? Irgendwie wird mir gerade ein bisschen unheimlich und ich muss mich sehr beherrschen, um mich nicht in Kiras Arme zu krallen.

Reiß dich zusammen, Winston!, fauche ich mir selbst zu. Du willst hier schließlich ein paar Ziegen beeindrucken – als verschüchtertes Schmusekätzchen wird das kaum gehen! Also: Haltung annehmen! Entschlossen straffe ich meinen Rücken und springe von Kiras Arm – direkt vor die Füße eines anderen Mädchens, das gleichzeitig mit uns ankommt.

»Morgen, Kira! Hast du etwa eine Katze mitgebracht?«

»Hallo, Emilia. Nein, das ist ein Hund.«

»Hä?« Das Mädchen guckt Kira völlig verständnislos an.

»Mann, Emilia: Das war ein Scherz. Natürlich ist das eine Katze! Sieht man doch. Genau genommen ist Winston ein sehr edler Rassekater.«

Das Mädchen schüttelt seinen blondgelockten Kopf.

»Kira, man darf keine Tiere mit in die Schule nehmen. In Russland geht das vielleicht, aber hier sicher nicht!«

»Was weißt du schon von Russland!«, erwidert Kira sehr knapp, nimmt mich wieder auf den Arm und stapft die Stufen zur Eingangstür hoch. He, warum auf einmal so schlecht gelaunt? Eben hat Kira sogar noch fröhlich gesummt, jetzt kann ich ihren Ärger förmlich riechen. Versteh ich nicht. Aber vielleicht gehört diese Emilia auch zu den Ziegen und Kira kriegt schon Pickel, wenn sie Emilia nur sieht.

In der Schule sind unglaublich viele Kinder. Gut, das habe ich mir natürlich so vorgestellt, aber diese Horden dann tatsächlich zu sehen, ist etwas völlig anderes. Es ist unglaublich wuselig und vor allem: laut! Einen Moment lang fürchte ich, mir könnten meine sensiblen Öhrchen abfallen. Vielleicht war mein Ausflug doch keine so gute Idee?

Bevor ich noch länger darüber nachdenken kann, ertönt ein schriller Klingelton. Was das wohl bedeutet? Ist das ein Warnsignal? Falls ja, wovor? Kira presst mich etwas enger an sich.

»Komm, Winston, der Unterricht fängt gleich an!«

Sie kniet sich hin und holt ein paar Bücher aus ihrer Umhängetasche. Dann nimmt sie mich hoch, setzt mich in die entstandene Lücke und schließt die Tasche vorsichtig über meinem Kopf. He! Ich sehe nichts mehr! Und vor allem: Man sieht mich nicht mehr! Wie soll ich denn so auch nur eine einzelne Ziege beeindrucken? Lautstark protestiere ich. Bellen kann ich zwar nicht, aber wenn ich anfange zu fauchen und zu jaulen, ist das auch nicht ohne. Kira öffnet die Tasche ein Stückchen und lugt hinein.

»Winston, du hast doch versprochen, dich zu benehmen! Also hör auf damit! Ich packe dich doch nur in meine Tasche, damit du nicht gleich rausfliegst. In der nächsten Pause hole ich dich wieder raus. Versprochen!«

Na gut. Sie wird es wissen. Schließlich verbringt sie jeden Tag hier. Ich höre auf zu jaulen und schließe die Augen. Offenbar ist Kira wieder aufgestanden und trägt mich eine Treppe hoch, jedenfalls schaukelt es nun ganz schön. So laut wie eben ist es auch nicht mehr – entweder die Kinder haben sich etwas beruhigt oder ich höre durch den Stoff der Tasche einfach nicht so gut.

Jetzt scheint Kira anzuhalten. Das Schaukeln hört auf und die Tasche wird auf dem Boden abgestellt. Ich glaube, dass Stühle gerückt werden. Dann klappt eine Tür.

»Guten Morgen, 7c!« Eindeutig die Stimme einer erwachsenen Frau. »Guten Morgen, Frau Wettstein!«, antwortet ein ganzer Chor.

»Setzt euch!« Wieder das Stühlerücken. Ein Stuhl scheint mir dabei sehr nahe zu kommen – jedenfalls kriege ich einen Schubs und die ganze Tasche wackelt. Hilfe! Hoffentlich passt Kira gut auf mich auf!

»Wir haben uns in der letzten Stunde mit der indirekten Rede und dem Konjunktiv beschäftigt. Kira, erklärst du uns bitte, wann wir den Konjunktiv 2 benutzen?« Kira räuspert sich. Sie ist nervös, das spüre ich genau.

»Den Konjunktiv 2 verwende ich, wenn ich mir etwas vorstelle oder wünsche, was zurzeit nicht möglich ist.«

»Sehr gut. Leonie, bildest du bitte ein Beispiel?«

Grrr, miau! Leonie! Das muss die Oberziege sein! Am liebsten würde ich jetzt aus der Tasche hüpfen und es der mal richtig zeigen! Aber weil ich mein heiliges Katzenehrenwort gegeben habe, mich zu benehmen, reiße ich mich zusammen und maunze nur kurz vor mich hin.

»Gern, Frau Wettstein. Hätte Kira Geld, zöge sie sich vernünftig an.« Die ganze Klasse bricht in schallendes Gelächter aus. Uahrgh! Was für eine Unverschämtheit! Und ich kann nicht eingreifen! Es ist zum Schwanzhaareausreißen!

»Pst, Kinder beruhigt euch!«, schimpft Frau Wettstein. Vergebens, denn die meisten Kinder lachen immer noch. Nur Kira bleibt ganz stumm. Es gibt einen Knall. Frau Wettstein scheint mit der Hand auf einen Tisch geschlagen zu haben. »Leonie Weichert, was soll das? So etwas will ich nicht noch einmal von dir hören! So behandelt man seine Mitschüler nicht!«

»Entschuldigen Sie, Frau Wettstein. Es war eben das erste Beispiel, was mir in den Sinn kam«, behauptet die fiese Leonie mit unschuldiger Stimme.

»Entschuldige dich nicht bei mir, sondern bei Kira!«, fordert die Lehrerin sie auf.

»Oh, entschuldige bitte, Kira. Es wird nicht wieder vorkommen.« Ihre Stimme verrät, dass das glatt gelogen ist. Wenn ich in all den Jahren als Haustier etwas gelernt habe, dann ist es, auf die Stimmlage der Menschen zu achten. Denn leider meinen Menschen häufig nicht, was sie sagen. Oder sie sagen nicht, was sie meinen. Der Klang einer Stimme aber verrät fast immer ihre wahren Gedanken. Und mir verrät die Stimme von Leonie gerade, dass sie noch viel boshaftere Sachen mit Kira plant.

Der Rest der Schulstunde plätschert vor sich hin. Als ich gerade beginne einzudösen, ertönt die Klingel erneut. Ich hoffe, dass ich jetzt endlich aus der doofen Tasche darf! Und tatsächlich ruckelt es nun an der Seite und Kira öffnet mein Verlies.

»So, Winston. Jetzt haben wir gleich Biologie bei Herrn Prätorius. Der ist total nett, und ich habe mir auch schon eine super Geschichte ausgedacht, warum ich dich unbedingt mitbringen musste. Ist auf Dauer ja langweilig in der Tasche, oder?« Sie streichelt mir über den Kopf, öffnet die Tasche noch weiter und hebt mich heraus. Endlich, Freiheit! Miau!

»He, cool! Wo kommt die denn auf einmal her?« Ein Junge mit einer riesigen Brille kniet sich neben Kira und mich.

»Das ist Winston. Er wohnt bei mir. Ich dachte, ich bringe ihn mal mit. Passt doch gut zum Thema, das wir gerade haben.«

»Hä? In Bio?«

»Klar, in Bio«, erklärt Kira im Brustton der Überzeugung. Der Junge kratzt sich am Kopf.

»Aber wir machen doch gerade wirbellose Tiere. Regenwürmer und so. Welche Gemeinsamkeit hat denn diese Katze mit einem Regenwurm? Versteh ich nicht.«

»Tja, Tom, warte es einfach ab. Du wirst es schon erfahren.«

»Was wird er erfahren?« Eine allzu bekannte Stimme mischt sich in das Gespräch der beiden. Leonie. Endlich sehe ich sie auch mal, anstatt nur zu hören, wie sie ihr Gift verspritzt. Sie ist ungefähr so groß wie Kira, mit etwas kürzeren, leicht gewellten Haaren. Als sie mich entdeckt, schnappt sie nach Luft.

»He, ist das deine Katze?« Kira nickt.

»Ja. Ist sie. Oder besser: er. Winston ist ein sehr edler Rassekater. Ich dachte, er könnte uns heute zeigen, dass es auch Wirbeltiere gibt, die sehr beweglich sind.«

»Edler Rassekater? Pfff, wo willst du den denn herhaben? Oder haste den geklaut?«

MAUNZ! Mit einem Riesensatz springe ich auf den Tisch, der neben Kira steht, und recke stolz meinen Kopf in die Luft. Von hier oben bemerke ich, dass der Raum, in dem wir uns befinden, recht groß ist und mit vielen kleineren Tischen und Stühlen ausgestattet. So schaut also ein Zimmer aus, in dem Kinder lesen und schreiben lernen. Interessant.

»Oh, hallo. Wo kommst du denn her?« Ein erwachsener Mann taucht in diesem Moment im Klassenzimmer auf.

»Äh, guten Morgen, Herr Prätorius«, stammelt Kira. »Das ist Winston. Ich habe ihn mal mitgebracht, um zu zeigen, dass nicht nur Regenwürmer sehr beweglich sind.« Sie lächelt scheu, der Mann grinst. Ich kenne mich mit Regenwürmern und Biologie nicht so gut aus, aber selbst für meine Katerohren klingt das wie eine ziemlich blöde Ausrede. Hoffentlich schluckt Herr Prätorius sie und ich darf hierbleiben. So richtig beeindruckt sieht Leonie nämlich noch nicht aus. Ich schätze, da muss ich noch ein wenig Gas geben.

»Tja, Kira, das ist zwar ein etwas sonderbarer Einfall, aber kein schlechter. Vielleicht habt ihr euch nach dem letzten Test wirklich mal eine Unterrichtsstunde mit lebendigem Anschauungsmaterial verdient.« Anschauungsmaterial? He, ich heiße Winston Churchill – ich bin doch kein Material! »Dann komm mal mit deiner Katze nach vorne, Kira!«

Kira krault mich hinter den Ohren und beugt sich über mich.

»Siehst du«, flüstert sie mir zu, »hab ich dir doch gesagt – der Prätorius ist wirklich total nett!« Sie geht mit mir nach vorn und setzt mich auf den Tisch, hinter dem ihr Lehrer steht.

»Danke, Kira. So, liebe 7c, nachdem wir uns in den letzten Stunden ja recht ausführlich mit wirbellosen Tieren beschäftigt haben, hat uns Kira heute ein Wirbeltier mitgebracht, nämlich ihre Katze. Ein schönes Exemplar. Kira, willst du uns etwas zu deinem kleinen Freund hier erzählen?« Kira nickt.

»Ja, also das ist Winston Churchill. Er ist ein Kater. Britisch Kurzhaar. Wie der Name schon sagt, kommt die Rasse aus England. Sie wird seit über hundert Jahren gezüchtet. Winston ist also sehr edel.«

»Nun gib mal nicht so an!«, ruft Leonie dazwischen.

»Genau!«, stimmt ihr das Mädchen zu, das wir heute Morgen schon getroffen haben. Emilia, oder wie die hieß. Gehört offenbar zu Leonies Fanclub. Jetzt mischt sich der Junge mit der Brille ein.

»Also, ich finde das sehr interessant. Ist doch toll, dass Winston hier ist. Ich mag Katzen!«

»Ja, Tom, ich auch«, stimmt ihm Herr Prätorius zu. »Und weil das so ist, frage ich euch: Weiß denn jemand, wie lange der Mensch schon Katzen als Haustiere hält?«

Schweigen. Nicht mal die oberschlaue Leonie sagt etwas.

»Der Mensch hält Katzen schon seit ungefähr zehntausend Jahren als Haustiere«, erklärt Prätorius. »Ganz schön lang, was?« Schätze, da hat er recht. Ich kenne mich zwar mit der menschlichen Zeit nicht so aus, aber zehntausend Jahre klingen ziemlich lang. Schätze, in zehntausend Jahren sitze ich längst auf einer Wolke im Katzenhimmel.

»Die ältesten Knochenfunde von den Vorfahren der Katzen sind sogar schon dreißig Millionen Jahre alt. Dein Winston hier hat also eine ganz schön alte Sippe. Steinalt gewissermaßen«, erzählt Prätorius weiter.

Ein Mädchen meldet sich.

»Dürfen wir Winston mal streicheln?«

»Oh ja, bitte, Kira – dürfen wir ihn mal streicheln?« Kira nickt.

»Klar, aber vielleicht einzeln und nacheinander. Nicht, dass Winston noch Angst bekommt.« Sofort bildet sich eine Schlange von neugierigen Mädchen und Jungen. Hrrr, normalerweise ist das überhaupt nicht mein Fall, aber wenn es dazu führt, dass Kira hier neue Freunde findet, dann opfere ich mich gern. Und tatsächlich sieht Kira so aus, als wäre sie seit Beginn der Schulstunde um ein paar Zentimeter gewachsen. Sehr gut! Mein Plan geht auf! Geduldig bleibe ich also auf dem Tisch hocken, während mich ein fremdes Kind nach dem nächsten krault.

Auf einmal steht Leonie vor mir und streckt die Hand nach mir aus. Dabei ist mir ausgesprochen unwohl. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mich einfach nur ganz lieb streicheln will. Zumal mir ein Blick in ihr Gesicht verrät, dass sie sich unglaublich über die viele Aufmerksamkeit ärgert, die Kira nun bekommt. Aber egal – soll sie mich eben auch streicheln. Was kann sie dabei schon Böses anstellen?

Kaum hat sie mich berührt, zieht Leonie auf einmal ihre Hand zurück, als hätte sie ein Stromschlag getroffen. Dann beginnt sie zu keuchen.

»Hilfe!«, krächzt sie dramatisch. »Hilfe! Ich bekomme keine Luft mehr!« Sie wankt einen Schritt zurück und lässt sich direkt in die Arme des völlig überraschten Herrn Prätorius fallen.

»Oh mein Gott! Schnell, Kira, pack deine Katze wieder ein!«, ruft er. »Ich fürchte, die arme Leonie hat einen allergischen Schock erlitten! Schnell!«

Kira braucht einen Moment, um sich aus der Schreckstarre zu lösen, dann packt sie mich und rennt mit mir zu ihrem Tisch. Keine zwei Sekunden später stecke ich völlig verdattert wieder in der dunklen Tasche.

Wer oder was auch immer ein allergischer Schock ist: Das Jucken in meiner Schwanzspitze verrät mir, dass es dieser Leonie nicht halb so schlecht geht, wie sie gerade behauptet. Und meine Schwanzspitze irrt sich nie!

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