Sachen gibt’s, die gibt’s gar nicht.


Oder etwa doch?


Nein. Ich bin nicht tot. Aber irgendetwas ist trotzdem anders. Sehr anders. Als ich die Augen wieder aufschlage, sieht die Welt um mich herum völlig verändert aus. Sie ist so … farbig! Genau: Sie ist auf einmal richtig bunt. Es scheint, als seien ein paar Farben dazugekommen, die vorher nicht da waren. Außerdem sieht alles schärfer aus. Ich erkenne auf einmal Details, die mir noch nie aufgefallen sind. Direkt neben mir auf dem Boden krabbelt ein kleiner Käfer. Er hat eine Farbe, die mir völlig neu ist, und viele kleine schwarze Punkte auf seinem Rücken. Unglaublich. Was ist bloß passiert?

Ich rappele mich hoch und schüttele mich. Das heißt: Ich will mich schütteln, aber weil ich dabei anfange, ganz furchtbar zu schwanken, höre ich sofort wieder damit auf. Es ist, als habe ich meinen Körper nicht mehr im Griff. Und wenn ich mich jetzt umsehe, weiß ich auch, warum: Ich bin plötzlich wahnsinnig groß. Also, ich meine: lang. Mein Kopf muss auf einmal hoch über der Erde schweben – ein schwindelerregendes Gefühl! Zu schwindelerregend passt übrigens auch, dass ich rasende Kopfschmerzen habe. Ich will maunzen, aber mein Maul verlässt ein Laut, der mich erschaudern lässt: Ich habe gerade eindeutig »Aua« gesagt. Aua. A-U-A. Ein Wort. Ein menschliches Wort. Seit wann kann ich sprechen?

Direkt unter mir höre ich ein sehr klägliches Miauen. Ich schaue hinunter und sehe eine schwarze Katze, die lang gestreckt neben der Spule liegt und sich hin und her windet. Die schwarze Katze kommt mir auf eine seltsame Art und Weise sehr bekannt vor. Sie sieht aus wie … ich schaue noch einmal genau hin … tatsächlich: Sie sieht aus wie ich! Und zwar haargenau! Auf dem Boden vor mir liegt Winston Churchill. Kein Zweifel! Ein kalter Schauer jagt über meinen Rücken. Langsam dämmert mir, dass der Schlag von vorhin etwas ganz gewaltig durcheinandergebracht haben muss. Wenn dort unten Winston liegt, bin ich dann etwa …? Aber nein, das kann doch nicht sein! Das darf doch nicht sein!

Ich nehme all meinen Mut zusammen und schaue vorsichtig an mir hinunter. Tatsächlich. Blaue Jeans. Knöchelhohe Turnschuhe, deren Farbe ich erst jetzt so richtig bemerke. Sehr knallig. Das muss wohl Pink sein. Ich kenne diese Schuhe. Sie gehören Kira. Nun hebe ich mein linkes Vorderbein und betrachte meine Pfote. Fehlanzeige. Dort wo eben noch eine Pfote war, befindet sich jetzt eine Hand. Heilige Ölsardine! Ich habe mich in einen Menschen verwandelt! Und zwar nicht in irgendeinen, sondern in Kira!

»Winston, was ist hier los? Was ist passiert?«

Kira. Eindeutig Kiras Stimme. Aber wo kommt die her? Ich bin doch Kira und ich habe nichts gesagt. Ich bin nämlich immer noch sprachlos.

»He, Winston – kannst du mich hören?«

Da das einzige Lebewesen in meiner Nähe die Katze zu meinen Füßen ist, muss sie es wohl sein, die mit mir spricht. Also gewissermaßen spricht Winston mit mir. Winston spricht mit Winston. Was für ein unglaublicher Schlamassel! Mein Schädel brummt noch lauter. Ich sollte wohl besser antworten, aber die Vorstellung, nun zu sprechen, macht mir Angst. Nur Mut!, versuche ich mich selbst zu beruhigen und räuspere mich.

»Äh, ich, äh – ich bin hier oben.«

Die Katze guckt erstaunt zu mir hoch.

»Bist du das, Winston?«, höre ich sie sagen.

Tatsächlich. Ich kann sie eindeutig hören und es klingt wie Kiras Stimme. Allerdings hat die Katze weder miaut noch etwas gesagt. Offenbar höre ich ihre Stimme in meinem Kopf! Das ist echt zu viel für mich, zumal wenn ich auf zwei Beinen stehen muss. Ich setze mich auf den Boden.

»Hast du etwas gesagt?«, will ich dann von der Katze, die wie Winston aussieht, wissen. »Also, ich meine, so richtig etwas gesagt?«

Die Katze rückt näher an mich heran und mustert mich.

»Keine Ahnung, ich bin so durcheinander. Rede ich denn? Es fühlt sich nicht so an. Ich … ich … ich glaube, ich denke eher.«

Genau. Das ist es. Ich höre Kiras Stimme in meinem Kopf, weil ich ihre Gedanken höre. Um Himmels willen! Großer Katzengott, wenn es dich gibt: Was hast du uns denn da eingebrockt und vor allem: warum?!

Ob das auch umgekehrt funktioniert? Ich schaue die Katze an und denke: Kannst du mich jetzt auch hören?

»Ja, so kann ich dich auch hören«, kommt die Antwort prompt. Faszinierend. Ich kann mich mit der Katze, die wie Winston aussieht und wie Kira klingt, in Gedanken unterhalten. Gehen wir der Sache also mal auf den Grund.

»Wer bist du?«, will ich von der Katze wissen, obwohl ich mir die Antwort eigentlich schon denken kann.

»Ich glaube, ich bin Kira. Allerdings habe ich gerade festgestellt, dass ich nicht mehr aussehe wie Kira. Sondern wie Winston.«

»Hm, geht mir genauso. Na ja, eigentlich umgekehrt: Also, ich bin Winston, sehe aber aus wie Kira.«

»Das ist ja verrückt! Haben wir etwa getauscht?«

Ich nicke.

»Sieht ganz so aus.«

»Warum bloß?«

»Keine Ahnung. Aber es hat bestimmt etwas mit diesem grellen Licht zu tun und dem Schlag, der uns getroffen hat«, mutmaße ich.

»Du meinst den Blitz?«, will Kira, die jetzt im alten Winston steckt, von mir wissen.

»War das ein Blitz?«

»Ich glaub schon. Wir sind doch in ein Gewitter geraten. Das grelle Licht, der heftige Schlag: Ich würde sagen, wir sind vom Blitz getroffen worden. Es ist ein Wunder, dass wir das überlebt haben.«

Vermutlich hat sie recht. Es ist ein Wunder. Allerdings habe ich es leider nicht in meinem alten Körper überlebt. Das begreife ich immer noch nicht. Wie ist das nur möglich?

»Vielleicht hat es ja mit meinem Wunsch zu tun«, denkt Kira nach.

»Hä? Welcher Wunsch?«

»Na ja, kurz bevor der Blitz eingeschlagen hat, habe ich mir gewünscht, jemand anders zu sein.«

»Stimmt«, erinnere ich mich. »Das hast du auch gesagt. Und interessanterweise habe ich kurz vorher genau das Gleiche gedacht.«

Wir seufzen. Und zwar gleichzeitig.

»Tja«, stellt Kira fest, »dann ist uns wohl ein Wunsch erfüllt worden und wir haben miteinander getauscht. Jetzt bin ich du und du bist ich. Kira ist Winston und Winston ist Kira. Oh Mann, was für ein Chaos!«

Da hat sie ganz recht. Bei meinem Schnurrbart, den ich nun nicht mehr habe: so ein verfluchter Mist!

Als wir wieder in der Hochallee ankommen, bin ich schweißgebadet. Ich hätte nie gedacht, dass das Laufen auf zwei Beinen so anstrengend ist. Sobald ich nicht genau schaue, wo ich hinwill, beginne ich schon zu schlingern – ich kann mit meiner neuen Körpergröße noch nichts anfangen. Zum Glück sind weder Anna noch Werner da, als wir heimkehren. Wir bieten bestimmt einen sehr merkwürdigen Anblick, und das Letzte, was ich jetzt brauche, sind neugierige Fragen von Menschen, mit denen ich dann reden müsste.

Auch Kira ist mit ihrer neuen Gestalt alles andere als zufrieden. In der Wohnung angekommen, lässt sie sich in mein Körbchen fallen und streckt alle viere von sich.

»Winston, dieser Tausch ist eine Katastrophe! Wir müssen unbedingt wieder zurücktauschen! So schnell wie möglich – ehrlich! Ich kann doch nicht den Rest meines Lebens eine Katze bleiben!«

»Tja, ich wäre auch gern so schnell wie möglich wieder ein Vierbeiner«, stimme ich ihr zu. »Nur – wie wollen wir das machen? Ich habe das ungute Gefühl, dass das nicht so einfach wird.«

»Vielleicht müssen wir noch mal vom Blitz getroffen werden und uns dann wünschen, dass alles wieder beim Alten ist?«, schlägt Kira vor. Ich schüttle den Kopf.

»Uns noch mal vom Blitz treffen lassen? Geht denn das so einfach? Und überhaupt: Wir wissen doch gar nicht, wie das wirklich passiert ist. Ob es an dem Blitzschlag lag – keine Ahnung. Oder hast du schon mal irgendwo von Leuten gehört, die vom Blitz getroffen wurden und dann jemand anders sind?«

Kira schlägt mit dem Schwanz hin und her und maunzt unglücklich.

»Nein, habe ich nicht. Und wenn mir vorher jemand erzählt hätte, dass so etwas möglich ist, hätte ich ihn für verrückt erklärt.«

»Na siehst du. Was uns passiert ist, ist also offenbar nicht normal. Und ich glaube, bevor wir nicht herausgefunden haben, warum wir nun im falschen Körper stecken, haben wir keine Chance, wieder rauszukommen.«

Kira gibt seltsame Schnaufgeräusche von sich.

»He, alles in Ordnung?«, will ich wissen.

»Nein, überhaupt nicht! Ich würde am liebsten heulen – und selbst das kann ich als Katze nicht! Es ist einfach furchtbar!«

Ich fürchte, Kira hat recht. Es ist wirklich furchtbar. Und es wird bestimmt noch viel furchtbarer, wenn ich mich das erste Mal mit Anna unterhalten muss und sie denkt, dass ich Kira bin. Was sage ich dann bloß zu ihr? Was sagen Zwölfjährige so zu ihren Müttern? Okay, ich habe die beiden jetzt ein paarmal zusammen erlebt – als Experte würde ich mich deswegen noch lange nicht bezeichnen. Einen Streit, wie ihn die beiden heute Mittag hatten, stehe ich mit Sicherheit noch nicht auf zwei Beinen durch. Jedenfalls nicht, ohne zwischendurch umzufallen. Oje! Insgeheim hoffe ich sehr darauf, morgen früh wach zu werden und festzustellen, dass alles nur ein böser Traum war.

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