Ziemlich beste Feindinnen


»Los, nun mach schon!« Leonie lächelt mich an. Aber es ist kein aufmunterndes Lächeln, so viel ist selbst mir klar. Es wirkt eher … höhnisch. Okay, damit ist es wohl eher ein Grinsen. »Oder traust du dich nicht?«

Ich muss trocken schlucken. »Klar traue ich mich. Also, ich meine, ich würde mich schon trauen, aber …«

»Was, aber?« Nun grinst nicht nur Leonie, sondern auch Emilia, Ruth und Helene sehen aus, als hätten sie gerade den Spaß ihres Lebens.

»Äh, ich meine, dass es sehr unklug wäre, in ein Geschäft hineinzuspazieren, das von schätzungsweise vier Kameras überwacht wird, und dort ein T-Shirt zu klauen. Die juristischen Probleme wären unvermeidlich.«

Jetzt reißt Leonie die Augen auf. »Die juristischen Probleme wären unvermeidlich? Was redest du da für einen Müll?« Sie dreht sich auf dem Absatz um und lässt mich einfach stehen. Die drei anderen folgen ihr.

Verdammt. So wird das nichts. Ich weiß einfach zu wenig darüber, was es wirklich bedeutet, ein Mensch zu sein. Geschweige denn ein Mädchen. Das hatte ich mir deutlich einfacher vorgestellt. Ich hätte auch nicht gedacht, dass eine simple Einladung zum Eisessen, die doch eigentlich als Entschuldigung gedacht war, so enden würde: an der Eingangstür eines Klamottenladens. Verbunden mit der Aufforderung, hier mal schnell ein T-Shirt zu klauen.

Aber genau das ist gerade passiert: Erst waren wir zu fünft ein Eis essen. Leonie, Emilia, ich und zwei weitere Mädchen aus Leonies Clique. Eigentlich war es ganz nett. Wir haben über die Schule gequatscht, und Leonie hat noch mal gesagt, dass ihr die Sache mit dem Brief leidtue. Tja, und dann haben die vier beschlossen, dass sie mich liebend gern in ihre Clique aufnehmen würden. Ich müsste allerdings vorher eine Mutprobe bestehen. Und die Aufgabe wäre nun mal, hier, bei TK Moritz, ein T-Shirt mitgehen zu lassen.

Nun bin ich ja kein Experte in menschlichen Angelegenheiten, aber selbst ich weiß, dass man sich mit so einer Aktion eine Menge Ärger einhandeln kann. Ich sollte es also besser lassen.

Andererseits: Vielleicht wäre Kira wirklich gern Mitglied dieser Mädchentruppe und ich vermassle ihr eine einmalige Chance?! Ich stelle mir vor, Odette würde versuchen, sich mit mir anzufreunden, und würde sich von Kira, die zufälligerweise gerade in meinem Körper steckt, eine Abfuhr einfangen. Und dann wäre die Chance vertan und Odette würde nie wieder ein Wort mit mir reden. Ich glaube, ich wäre stinksauer auf Kira. Also doch reingehen und das T-Shirt klauen?

Ich drehe mich um und rufe Leonie hinterher.

»He, nun wartet doch mal! Wenn es euch so wichtig ist, dann mache ich das eben.«

Leonie und die anderen kehren wieder um und kommen zu mir zurück.

»Cool. Dann lass mal sehen, was du so draufhast!«

Ich versuche, ganz lässig zu wirken, dabei ist mir überhaupt nicht wohl in meiner Haut.

»Klar, kein Problem!«

Zu fünft spazieren wir wie zufällig in den Laden und laufen an den Verkaufstischen vorbei.

»Da!«, sagt Leonie schließlich und zeigt auf ein weißes T-Shirt mit einem glitzernden Schriftzug auf der Brust. »Das hätte ich gern. Los, hol’s für mich!«

Ich schlucke und nicke. Wie komme ich da wohl am besten ran? Vorsichtig schaue ich mich um – auf den ersten Blick kann ich hier keine Kamera entdecken. Dann entscheide ich mich für die Variante »Augen zu und durch!«. Ich greife mir schnell das T-Shirt und stopfe es in meine Jackentasche. Leonie starrt mich an und flüstert:

»Und? Hast du es?«

»Ja!«

»Dann nix wie weg!«

Möglichst unauffällig schlendern wir zum Ausgang. Mein Herz rast und ich merke, wie ich schon wieder anfange zu schwitzen. Hoffentlich schaffen wir es hier heil raus – je näher wir der Tür kommen, desto mehr beginnt nun auch mein Magen, sich zusammenzukrampfen. Durchhalten!

Der Ausgang ist vielleicht noch einen Meter von mir entfernt, da löst sich von der Seite ein Schatten. Ich kann ihn nur aus den Augenwinkeln sehen, aber ich erkenne sofort die Umrisse eines Mannes. Auweia! Das ist bestimmt der Kaufhausdetektiv! Auch die anderen Mädchen haben ihn gesehen, jedenfalls rennen sie sofort los Richtung Tür. Ich stürze ihnen nach und will gerade direkt hinter Leonie aus dem Laden raus – da schlägt sie mir regelrecht die Tür vor der Nase zu, sodass ich eine Vollbremsung einlegen muss. Eine Sekunde später spüre ich schon eine Hand auf meiner Schulter.

Das gibt’s doch gar nicht! Leonie hat mich absichtlich zurückgelassen, da bin ich mir ganz sicher! Hätte sie nicht schnell die Tür zugeworfen, hätte ich es auch noch rausgeschafft! Fassungslos beobachte ich durch das Schaufenster, wie Leonie und die anderen Mädchen davonlaufen und sich dabei ausschütten vor Lachen. Wie kann man nur so gemein sein?

»So, junges Fräulein«, spricht mich der Schatten an, der eine ziemlich dunkle Stimme hat, »dann zeig doch mal, was du da in deiner Tasche hast!« Er greift in meine Jackentasche, ich lasse es geschehen. Widerstand erscheint mir hier zwecklos. Dann zieht er das T-Shirt heraus. »Aha. Sieh an, sieh an. Na, dann komm bitte mal mit nach hinten in mein Büro.«

Ergeben und mit gesenktem Haupt trotte ich hinter dem Mann her. Er ist nicht besonders groß, aber dafür ziemlich breit. Alles in allem sieht er nicht aus wie jemand, mit dem ich gern Streit hätte. Der Detektiv führt mich in sein kleines Büro und bedeutet mir mit einer Handbewegung, auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Dann setzt er sich ebenfalls.

»Also, wie heißt du?«

»Winston Chur…, äh, ich meine Kira Kovalenko.«

Der Mann zieht die Stirn in Falten und mustert mich streng.

»Hör mal, Mädchen, das ist hier eine ernste Sache, also keine Späße mit mir! Wie heißt du denn nun wirklich?«

»Tut mir leid!«, murmle ich zerknirscht. »Aber ich heiße wirklich Kira Kovalenko. Mein Spitzname ist nur Winston, weil … weil … äh, weil ich so gut Englisch kann.«

»Soso. Und wie alt bist du?«

Grundgütige Ölsardine – immer diese Fachfragen! Wie alt war ich denn noch mal? Zwölf oder dreizehn? Ich bin mir nicht sicher. Aber wenn ich jetzt sage, dass ich es nicht genau weiß, wird der Typ es nicht glauben. Wahrscheinlich wird er dann noch ungemütlicher werden. Also sage ich mit fester Stimme:

»Zwölf.«

»Also noch keine vierzehn.«

»Nein.«

»Aha. Glück gehabt.«

Ich bin verwirrt. Wieso habe ich dann Glück gehabt? Offenbar sieht mir der Mann meine Verwirrung an.

»Na, wenn du vierzehn wärst, dann wärst du schon strafmündig. Dann müsstest du jetzt vor Gericht und würdest zu einer richtigen Strafe verknackt werden. So rufe ich jetzt zwar auch die Polizei, aber die werden im Wesentlichen nichts anderes machen, als mit deinen Eltern zu schimpfen.«

Bei dem Wort Polizei zucke ich zusammen. Nicht schon wieder die! Wenn die Polizei erst mal hier aufkreuzt, wird es garantiert unmöglich, diesen Vorfall irgendwie vor Anna und Werner zu verheimlichen. Und dann gibt’s bestimmt richtig Ärger – da habe ich den Heringssalat!

»Muss denn das mit der Polizei sein?«, mache ich einen zaghaften Versuch in Richtung Schadensbegrenzung. »Ich könnte das T-Shirt doch einfach bezahlen. Dann wäre alles wieder gut.« Okay, ich habe zwar gar kein Geld, aber vielleicht lässt sich der Detektiv auf Verhandlungen ein.

Der schüttelt entrüstet den Kopf.

»Nee, kommt gar nicht infrage! Das hättest du dir eher überlegen müssen. Und überhaupt – auffälliger ging es ja wohl kaum. Da kannst du dich mal bei deinen feinen Freundinnen bedanken. Ich glaube, wenn die eine nicht noch in die Kamera gewunken und auf dich gezeigt hätte, hätte ich dich gar nicht bemerkt.«

WAS? Die haben mich absichtlich reingeritten? Also, nicht nur absichtlich hiergelassen, sondern mir auch den Detektiv auf den Hals gehetzt? Ist es vielleicht das, was Pauli heute Morgen mit »eine Falle stellen« meinte? Ich merke, wie Tränen in meine Augen schießen. Aber nicht, weil ich traurig bin. Sondern wütend. SO WÜTEND!

Die Polizistin auf der Wache ist eigentlich ganz nett zu mir. Ich habe ihr mein Herz ausgeschüttet und ihr von der Mutprobe erzählt. Und von dem Vormittag in der Schule und dem Zettel, den Leonie geschrieben hat. Sie hat sehr verständnisvoll genickt und mir immer wieder Taschentücher gereicht, weil ich einfach nicht aufhören konnte zu weinen. Wegen der Schlechtigkeit der Menschenwelt! Und wegen meiner eigenen Blödheit, auf diese dummen Ziegen reingefallen zu sein! Ein toller Kater bin ich – werde von vier Schulmädchen ausgetrickst.

Leider lässt sich die Polizistin trotz ihres Mitgefühls nicht davon abbringen, meine Mutter anrufen zu wollen. Also Anna. Nicht meine Katzenmutter natürlich. Was sollte die auch zu der ganzen Geschichte sagen? Die kann ja gar nicht mit Menschen sprechen.

Oje, was mache ich nur, wenn Anna hier aufkreuzt? Ich glaube, ich bin noch nicht gewappnet für einen richtigen Streit mit meiner Menschenmutter. Wenn doch bloß Kira hier wäre! Sie könnte mir heimlich Tipps geben, was ich am besten antworte oder auch besser lasse, wenn mich Anna richtig in die Mangel nimmt.

Das bringt mich auf eine geniale Idee … Ob ich mich mit Kira wohl über größere Entfernungen in Gedanken unterhalten kann? So wie bei einem Telefonat? Da können Menschen schließlich mit Menschen sprechen, die gar nicht im selben Raum und manchmal sogar furchtbar weit weg sind. Das habe ich sowohl bei Werner als auch bei Anna und Olga schon beobachtet. Sollte das klappen, wäre es natürlich ungemein praktisch. Ach was: Es wäre sensationell! Dann könnte ich Kira bestimmt herbeidenken.

Ich konzentriere mich also auf Kira:

Liebe Kira, ich stecke hier wirklich knietief im Schlamassel. Ach was, sogar bis zum Hals. Also, wenn Anna gleich einen Anruf bekommt und das Haus verlässt, dann bitte, bitte, bitte versuche unter allen Umständen, sie zu begleiten. Ich brauche dich hier ganz dringend! Drei Ausrufezeichen!!!

»Kira?« Offenbar hat die Polizistin mich gerade etwas gefragt und wartet auf eine Antwort.

»Äh, ja?«

»Alles in Ordnung bei dir? Du wirkst auf einmal so weggetreten.«

»Schon gut. Alles in Ordnung. Ich musste nur gerade an etwas denken.«

»Okay. Dann rufe ich jetzt deine Mutter an.«

Ich seufze. Und hoffe sehr, dass meine Gedankenübertragung funktioniert hat.

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