Manchmal verändert ein Tag dein Leben. Und du merkst es erst gar nicht.


Als wir wieder zu Hause ankommen, parkt ein Polizeiwagen vor der Tür. Himmel, ja! Vielleicht war es nicht die beste Idee, Kira in die Schule zu begleiten. Aber deswegen gleich mit der Polizei hier anzurücken, erscheint mir nun doch ein wenig übertrieben. Schließlich haben wir gar nichts gemacht. Und wenn die blöde Leonie nicht eine so ausgezeichnete Schauspielerin wäre, wäre mein erster Schultag ganz entspannt zu Ende gegangen. Stattdessen hatte ich das zweifelhafte Vergnügen, auch gleich die Direktorin des Wilhelminen Gymnasiums kennenzulernen. Frau Rosenblatt. Aber während ihr Name so zart und blumig klingt, ist sie in Wirklichkeit eine Frau der klaren Ansage. Und die lautete in unserem Fall: keine Haustiere in der Schule! Ich glaube, wenn Herr Prätorius nicht einfach behauptet hätte, dass Kira seine Erlaubnis für die Aktion hatte – es hätte ein echtes Donnerwetter im Direktorenzimmer gegeben. So war es lediglich eine steife Brise, die uns hier entgegenwehte. Nicht schön, aber verkraftbar.

Dachte ich jedenfalls. Nun aber steht hier die Polizei. Mist. Was machen wir da bloß? Ob mich Kira besser wieder in ihrer Tasche verstecken sollte? Im Fernsehen nimmt die Polizei häufiger mal Menschen mit und sperrt sie in eine Zelle. Ob die das mit Katzen auch so machen? Oder bringen die mich dann direkt ins Tierheim? Ich merke, wie mein Herz rast. Bloß nicht ins Tierheim! Dort gibt es bestimmt kein so schönes Fleckchen wie mein Wohnzimmersofa!

Allerdings wohnen wir nicht allein in der Hochallee. Vielleicht wollen die gar nicht zu uns. Sondern zu Frau von Basewitz im Stockwerk über uns. Falls sie die mitnehmen, würde es mich nicht weiter stören. Die alte Basewitz mag keine Katzen im Allgemeinen und mich im Besonderen nicht. Behauptet immer, schwarze Katzen würden Unglück bringen und dass es auch etwas damit zu tun hätte, ob ich von links nach rechts durch den Flur laufe – oder von rechts nach links. Völlig gaga also, die Alte. Die könnte die Polizei ruhig mal ein bisschen einsperren. Ich weiß, es ist gemein, aber dieser Gedanke beruhigt mich etwas und so trabe ich wieder halbwegs entspannt neben Kira die Treppen zu unserer Wohnung hoch.

Kurz bevor wir an der Wohnungstür ankommen, öffnet sich diese von allein und heraus kommen: MIAU! Zwei Polizisten! Vor Schreck springe ich auf Kiras Arm. Wahrscheinlich ist das nicht besonders klug, denn hier sehen die mich natürlich sofort, aber ich kann nicht anders. Auch Kira scheint sich beim Anblick der Männer erschreckt zu haben. Ich kann hören, dass ihr Herz fast so schnell schlägt wie meins.

»Guten Tag!«, begrüßen sie die beiden Männer. Wahrscheinlich werden sie Kira nun bitten, ihnen ohne Gegenwehr den Kater, also mich, auszuhändigen. Und dann: Ade, du meine schöne Heimat! Ich kralle mich vorsorglich schon mal in Kiras Pullover.

»Hallo«, erwidert Kira. »Suchen Sie etwa mich?«

»Nein, wir suchen deine Katze!«

AAAHH! Ich hab’s gewusst! Hilfe! Sie werden mich verhaften wegen gefährlichen Eingriffs in eine Schulstunde. Ich werde mein geliebtes Sofa nie wiedersehen! In diesem Moment brechen beide Polizisten in Gelächter aus. Was, bitte, ist daran komisch? Der größere der beiden Männer hört schließlich auf zu lachen und räuspert sich.

»Nein, nein. Kleiner Scherz. Wir suchen niemanden. Wir hatten nur ein paar Fragen an Frau Kovalenko.«

Kira zuckt zusammen.

»Oh, das ist meine Mutter!« Die Polizisten zögern kurz, als wollten sie dazu etwas sagen, lassen es dann aber und verabschieden sich stattdessen. Ein sehr seltsamer Auftritt.

Anna steht im Wohnungsflur und wartet schon auf uns.

»Kira! Da bist du ja! Ich hatte eben einen Anruf aus deiner Schule. Erfreulich war der nicht gerade! Wie kommst du auf die verrückte Idee, Winston mit in deine Klasse zu schleppen?«

»Aber Mama, so war das gar nicht«, verteidigt sich Kira. »Winston wollte unbedingt mitkommen.«

Anna schnaubt empört.

»Sag mal, du hältst mich wohl für blöd, oder? Es war nicht deine Idee, sondern die einer Katze? Ein Mädchen ist ernsthaft krank geworden. Ich kann nur hoffen, dass da nicht noch eine Menge Ärger auf uns zukommt. Das ist das Letzte, was ich gerade brauchen kann.« Jetzt ist es an Kira zu schnauben.

»Ich glaube, die doofe Leonie ist gar nicht krank. Die hat nur so getan, um mich zu ärgern. Alle anderen fanden Winston toll! Es war eine klasse Aktion!«

»Was deine Mitschüler finden, interessiert mich nicht. Mich interessiert nur, was deine Direktorin findet, und die war alles andere als begeistert von der Aktion.« Annas Stimme bebt. Sie ist richtig wütend.

»Na klar, meine Mitschüler sind dir egal. Kümmert dich ja nicht, ob ich an der neuen Schule Freunde finde. Hauptsache, du hast deine Ruhe. Meine Probleme interessieren dich nicht.« Bei den letzten Worten fängt Kira an zu weinen. Ich fühle mich mit einem Mal sehr, sehr schlecht. Es war ja tatsächlich meine Idee.

»Das stimmt doch gar nicht, Schatz. Wenn es ein Problem gibt, kannst du es mir erzählen – das weißt du ganz genau. Wir vertrauen uns gegenseitig, schon vergessen?«

»Nein, hab ich nicht. Aber ich glaube, du hast es vergessen. Oder warum erzählst du mir nicht von deinem Ärger mit der Polizei?« Anna zuckt zusammen.

»Das ist nichts, was ein Kind etwas angeht.«

»Ach, auf einmal bin ich wieder das kleine Mädchen, was? Du bist so … so … du bist so ÄTZEND!« Mit diesen Worten macht Kira auf dem Absatz kehrt und rennt wieder aus der Wohnung. Bevor sie die Tür zuschlagen kann, renne ich hinterher. Ich habe den Mist hier verbockt, ich halte jetzt zu ihr! Ehrensache! Auch wenn ich momentan keine Idee habe, wo Kira überhaupt hinwill.

Sie weiß es anscheinend selbst nicht. Unten auf der Straße steht sie jedenfalls erst einmal unschlüssig herum und starrt mal auf den Boden, mal in die Luft. So geht es eine ganze Zeit lang, bis ich beschließe, selbst die Initiative zu ergreifen. Sonst stehen wir womöglich noch morgen hier. Ich fauche lautstark. Hallo, Erde an Kira! Bist du da irgendwo?

»Oh, Mist, Winston, ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll. Wieder nach oben gehen will ich nicht, aber ich habe keine Ahnung, wohin ich sonst könnte. Ich kenne mich in der Gegend noch gar nicht aus und Freunde habe ich hier auch keine. Was für ein doofer Tag!«

Da hat sie vollkommen recht. Der Tag ist bisher richtig doof, und hier wie angenagelt stehen zu bleiben, ist sogar noch doofer. Ich trabe Richtung Hinterhof. Heute ist schon so viel schiefgegangen, da können wir auch gleich meine unfreundlichen Kollegen wieder besuchen. Vielleicht bringt das Kira auf andere Gedanken. Schließlich mag sie Katzen. Und schlimmer wird der Tag schon nicht werden. Kann er ja gar nicht.

Kann er doch. Denn schlimmer geht’s immer: Ich bin noch nicht bei den Mülltonnen angekommen, da stellt sich mir schon der dicke Tiger namens Spike in den Weg.

»Hallöchen, Popöchen! Der Herr Stubenkater gibt sich die Ehre!« Er grinst von einem Ohr zum anderen. Oder besser: Er würde garantiert so grinsen, wenn es ihm als Katze möglich wäre. Das höre ich seinem spöttischen Tonfall genau an. »Ich dachte, wir sehen dich hier nie wieder.«

»Wie kommst du darauf?«, gebe ich mich möglichst selbstbewusst.

»Tja, ich weiß gar nicht, wie ich darauf gekommen bin. Moment, lass mich überlegen. Hm, vielleicht, weil wir nicht in deine besseren Kreise passen? Oder nein, das war es nicht. Jetzt hab ich’s: Ich dachte, du findest den Hof hier gar nicht wieder. So ohne deine Leine. Das war ja wirklich ein sehr schönes Teil. Und so glitzerig!« Er prustet los.

Haha, sehr witzig.

»Natürlich finde ich den Hof. Ich sehe ihn schließlich jeden Tag von meinem Fenster aus«, erwidere ich genervt.

»Wie auch immer. Für den Notfall hast du ja wieder dein Frauchen dabei. Bist du sicher, dass du kein Hund bist?«

Grrrr, so eine bodenlose Unverschämtheit! Zu gern würde ich Spike jetzt mit einer unglaublich geistreichen Antwort abservieren – aber leider fällt mir keine ein. Wo ist nur meine Schlagfertigkeit, wenn ich sie brauche? In der Zwischenzeit ist auch Odette herangestromert. Großartig. Das wird mein neues Hobby: in Anwesenheit einer hübschen Katze dumm aus der Wäsche gucken.

»Ach, schau an: der Premierminister. Wenn das kein hoher Besuch ist! Und nun schon zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage. Toll!«

»Hallo, Odette. Wollte nur checken, was bei euch gerade so abgeht«, versuche ich es betont lässig. Odette legt den Kopf schief.

»Checken, so abgeht …??? Wo hast du denn den Spruch her? Der passt ja nun gar nicht zu so einem steifen Typen wie dir. Willst wohl einen auf locker machen. Pffff, wie uncool!«

Warum in aller Welt ist die eigentlich so verdammt unfreundlich zu mir? Und warum in aller Welt macht mir das so viel aus? Könnte mir doch egal sein, was diese dahergelaufene Hofkatze von mir denkt. Ist es mir aber leider nicht. Im Gegenteil. Odettes Spott versetzt mir einen sehr schmerzhaften Stich in der Brust. Betreten schaue ich zu Boden. Mein Versuch, hier als ganz entspannter Gentleman-Kater aufzutrumpfen, ist gründlich in die Hose gegangen.

»He, ich wollte nur mal gucken, wie es euch so geht!«, verteidige ich meinen Besuch. »Ich meine, wir sind schließlich Nachbarn, da wird man doch noch vorbeikommen dürfen.«

Odette mustert mich kritisch.

»Ja? Wird man? Hat dich doch bisher auch nicht interessiert, wie es uns hier geht. Ich sehe dich immer an eurem Fenster sitzen und auf uns hinabschauen. Und das meine ich jetzt nicht nur wörtlich. Nee, nee – ich weiß doch, wie du über uns denkst. Ich habe es an deinem Blick gesehen. Du hältst dich für etwas Besseres, nur weil du mit deinem Professor da oben wohnst und ihr sogar ’ne Köchin habt, die dir deine Extrawurst brät.«

Jetzt bin ich baff. Woher weiß Odette das? Offenbar sieht sie mir meine Überraschung an, denn sie legt sofort nach.

»Jetzt verrat ich dir mal was: Deine feine Olga hat nicht nur für euch gekocht. Nein, immer wenn etwas übrig geblieben ist, kam sie in den Hof und hat uns auch etwas gegeben. Sehr lecker! Am besten schmeckte mir immer Geflügelleber mit Petersilie. Einfach ein Traum.«

Bitte? Olga hat MEINE Geflügelleber an die Kollegen im Hof verfüttert?

»Da bist du platt, richtig? Und stell dir vor, was sie immer gesagt hat, wenn sie kam. Sie sagte, dass es ihr viel mehr Spaß machen würde, für uns zu kochen, als für dich. Weil wir das Essen nämlich zu schätzen wissen, während du total verwöhnt bist!«

Ich fasse es nicht – so hat Olga über mich gesprochen? Der Stich in meiner Brust ist jetzt hundertmal schlimmer als der, den ich vorhin gespürt habe. Nein, genau genommen tut mir nicht nur die Brust weh, sondern alles. Ich taumle zur Seite, als ob mich ein heftiger Schlag getroffen hätte. Aber Odette macht unbarmherzig weiter.

»Auf so einen überkandidelten, arroganten Kater wie dich habe ich hier garantiert nicht gewartet. Am besten, du verziehst dich wieder.«

Ich nehme all meine Kraft zusammen, um Odette möglichst fest in die Augen zu blicken. Es fällt mir schwer, aber es muss sein.

»Hatte sowieso nicht vor, länger zu bleiben. Irgendwie ziemlich schlechte Luft hier. Tschüss.« Dann drehe ich mich um und laufe hoch erhobenen Hauptes weiter.

»Warte doch mal, Winston! Wo willst du denn auf einmal so schnell hin?« Kira folgt mir. Sie hat natürlich überhaupt nicht mitbekommen, dass mir gerade etwas Furchtbares zugestoßen ist. Ich maunze mitleiderregend und sie bückt sich zu mir.

»Du Armer, stimmt etwas nicht? Du siehst ja auf einmal furchtbar aus!« Sie krault mich am Hals und ihre Streicheleinheiten tun mir sehr gut. Blöde Olga. Du bist nicht der einzig nette Mensch auf der Welt. Suche ich mir eben einen anderen Zweibeiner zum Kuscheln. Genau genommen bist du nicht mal nett gewesen. Hat sich gerade gezeigt. Verräterin!

»Heute ist nicht so unser Tag, was? Ich schlage vor, wir erkunden jetzt mal gemeinsam das Viertel und machen das Beste daraus. Vielleicht finden wir eine Eisdiele. Und wenn wir an einem Fischgeschäft vorbeikommen, kriegst du einen riesigen Hering. Versprochen!«

Okay, der Plan klingt nicht so schlecht. Und Kira hat natürlich völlig recht: Man muss versuchen, auch aus so einem verkorksten Tag noch etwas zu machen. Wenn dabei ein großer Hering für mich rausspringt – umso besser!

Kira schaut sich kurz um und geht dann mit entschlossenen Schritten die Straße hinunter. Ob sie dort das Fischgeschäft vermutet? Neugierig und schon deutlich besser gelaunt, trabe ich hinter ihr her. Irgendwie macht Spazierengehen mit einem Menschen doch Spaß. Vor allem, wenn ich dabei keine Leine tragen muss.

Die neugewonnene Freude an dem Tag währt allerdings nicht lang. Denn kaum sind wir einen Moment unterwegs, bekomme ich einen Wassertropfen auf die Nase. Nanu, was ist das?

»Och nee, jetzt fängt es auch noch an zu regnen! So ein Mist!«, schimpft Kira vor sich hin. Ach so, das ist also Regen. Interessant. Aber auch unpraktisch. Wasser von oben – da werden wir ja nass! Das mag ich als Kater nun überhaupt nicht.

Der Regen wird immer stärker. In der Ferne fängt es an zu donnern. Am liebsten würde ich sofort umdrehen und nach Hause laufen. Leider weiß ich nicht genau, wo unser Zuhause überhaupt liegt. Ich fürchte, Spike hatte recht: Mein Orientierungssinn ist nicht der beste.

»Komm, Winston, wir müssen uns was zum Unterstellen suchen!«, ruft Kira und rennt los. Ich renne hinterher. Mittlerweile schüttet es wie aus Eimern, und ich merke, wie mein Fell langsam durchweicht.

»Da vorn! Das Baustellenhäuschen. Komm!« Kira hat eine kleine Hütte entdeckt. Sie steht auf einem Platz mit riesigen Fahrzeugen und einer Grube und ist an der Vorderseite offen. Wir können uns also ohne Probleme unter ihr Dach stellen, was wir auch tun. Ich schaue mich um und nehme neben mir eine große runde Spule wahr, auf die hell glänzendes Kabel gewickelt ist. Was mag das sein? Gesehen habe ich so etwas noch nie. Das Ding hat in etwa die Höhe einer Parkbank, weswegen sich Kira einfach obendrauf setzt. Dann nimmt sie mich auf den Schoß. Klitschnass, zitternd und frierend hocken wir dort und warten, dass der Regen aufhört. Leider tut er das nicht. Stattdessen kommt das Donnern immer näher.

Sagte ich vorhin, der Tag sei doof? Ich korrigiere mich. Er ist entsetzlich. Erst der Ärger in der Schule, dann das Desaster mit Odette. Und jetzt der Regen. Ich wünschte, ich wäre nicht hier. Ach was: Ich wünschte, ich wäre jemand anderes. Irgendjemand anderes. Hauptsache nicht mehr Winston Churchill, wohnhaft bei Professor Hagedorn.

Kira fährt mir mit den Händen durch mein nasses Fell. »Winston, ich bin wirklich froh, dass es dich gibt«, seufzt sie, während sie mich weiter krault. »Ich meine, ohne dich hätte ich überhaupt keinen Freund. Du hast es ja heute in der Schule erlebt – die sind da echt gemein zu mir. Ach, manchmal wünschte ich, ich wäre jemand anderes. Irgendjemand. Hauptsache nicht mehr Kira Kovalenko.«

In diesem Moment leuchtet direkt über uns ein unglaublich grelles Licht auf. Dann trifft mich ein Schlag. Und zwar so unvermittelt und gewaltig, dass ich erst gar nicht begreife, wo der überhaupt herkommt. Er hebt Kira und mich regelrecht in die Luft und schüttelt uns von Kopf bis Fuß durch. Dann schleudert er uns zu Boden. Es tost und donnert, die Erde bebt. Dann ist es wieder dunkel. Stockdunkel. Und ganz still.


Bin ich jetzt tot?

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