Ursachenforschung.
Oder: Warum es immer gut ist, einen Professor für Physik im Haus zu haben.
»Da bist du ja! Ich habe dich schon überall gesucht – warum antwortest du denn nicht, wenn ich an dich denke? Ich habe mir richtig Sorgen um dich gemacht!«
Ich habe Kira in Annas Zimmer aufgestöbert. Sie liegt zusammengerollt auf dem Bett und rührt sich nicht. Als ich mich neben sie auf die Bettkante setze und sie streichle, hebt sie den Kopf und schaut mich an.
»Ich will keine Katze mehr sein. Ich will wieder ich sein. Und ich will mich wieder von Mama trösten lassen. Als sie dich eben so lieb begrüßt und im Arm gehalten hat, bin ich richtig eifersüchtig geworden.«
»Und deswegen liegst du hier im Bett?«
»Ich liege auf Mamas Kissen. Das riecht so gut nach ihr.« Kira seufzt. »Ach, Winston! Ich glaube, ich habe gerade ganz schlimmes Heimweh nach meinem alten Ich.«
Heimweh. Was soll das nun wieder sein?
»Wie fühlt sich denn Heimweh an?«, will ich von ihr wissen.
»Das ist schwer zu beschreiben. Ein bisschen, als ob man Hunger hätte und ganz müde wäre. Auf alle Fälle ist man traurig. Und es schnürt einem die Brust zu. Ich kann gerade gar nicht tief durchatmen.«
Ich muss zugeben, dass mir die Vorstellung, bis ans Ende meiner Tage im falschen Körper zu stecken, genauso wenig gefällt wie Kira. Insofern kann ich sie gut verstehen. Ich möchte auch lieber wieder auf meinem Sofa liegen und von Werner gekrault werden. Und ich möchte Odette im Hof besuchen. Als Kater, nicht als Mensch.
Bei dem Gedanken an Odette packt mich ein Gefühl, das tatsächlich eine Mischung aus Hunger und Müdigkeit sein könnte. Den Druck auf der Brust nicht zu vergessen, gepaart mit leichtem Herzrasen. Ob ich also auch Heimweh habe?
»Tja, aber was können wir bloß tun, um wieder zu tauschen?«, überlege ich. »Ich fürchte, solange wir nicht wissen, warum das überhaupt passiert ist, haben wir ganz schlechte Karten.«
»So weit waren wir mit unseren Überlegungen doch schon mal«, stellt Kira fest. »Dann müssen wir uns nun endlich auf die Suche nach den Ursachen machen. So jedenfalls will ich nicht bleiben!«
Ich seufze. Es stimmt natürlich. Wir müssen Ursachenforschung betreiben.
»Aber wo fangen wir damit bloß an?«
»Ganz einfach: Wir gehen noch einmal zu der Stelle, wo der ganze Schlamassel begonnen hat. Vielleicht fällt uns da etwas Besonderes auf.«
»Na gut«, sage ich und muss gleichzeitig gähnen. »Aber vor morgen früh bringen mich keine zehn Pferde mehr aus dem Haus!«
»Okay, dann gleich morgen früh! Das passt gut: Samstags ist keine Schule und du kannst behaupten, dass du Brötchen holen gehst.«
»Von mir aus«, murmle ich ergeben. Heilige Ölsardine, Kira ist ganz schön hartnäckig!
Am nächsten Morgen stehen wir tatsächlich wieder vor der Baustelle, wo uns damals das Gewitter überrascht hat. Das Häuschen, in dem wir Unterschlupf gefunden haben, ist noch genau so, wie ich es in Erinnerung hatte. Vielleicht wuchert auf dem Boden ein wenig mehr Unkraut, sonst hat sich nichts verändert. Sogar die Spule liegt noch in der Mitte des Unterstands. So weit, so unspektakulär.
»Also, fassen wir mal zusammen: Wir saßen auf dieser Kabeltrommel und haben uns beide gewünscht, jemand anderes zu sein. Dann schlug der Blitz ein und wir waren erstaunlicherweise nicht tot, sondern hatten den Körper getauscht.« Kira legt den Kopf schief, was ihr für eine Katze ein sehr nachdenkliches Aussehen verleiht.
Ich nicke.
»Genau so war es. Jedenfalls, wenn du mit Kabeltrommel die große Spule meinst.«
»Wir müssen uns alles gründlich anschauen. Irgendwo hier liegt die Lösung für unser Problem, das spüre ich!« Kira nimmt einen kurzen Anlauf und springt dann mit einem beherzten Satz auf die Trommel.
»Guck mal, der Holzdeckel ist tatsächlich richtig verkokelt. Der Blitz ist also direkt in die Trommel eingeschlagen.«
»Mag sein. Aber wie bringt uns das weiter?«, frage ich ratlos. »Wo ist der Unterschied, ob ein Blitz in einen Baum oder in eine Kabeltrommel einschlägt? Ist doch beides Holz.«
»Nicht ganz«, stellt Kira fest. »Um die Trommel ist ein Kabel gewickelt, um den Baum nicht.«
Ich zucke mit den Schultern.
»Na und? Was macht das schon?«, wiederhole ich.
»Das weiß ich auch nicht. Es ist ja nur so eine Idee. Vielleicht ist es einfach der Strohhalm, an den ich mich gerade klammere.«
»An welchen Strohhalm?«
»Ach, Winston, das sagt man so, wenn man wenig Hoffnung hat!«, erklärt Kira. »Dann klammert man sich eben an einen Strohhalm. Das bedeutet, man stürzt sich selbst auf das kleinste Fünkchen Hoffnung.«
»Hm.« Ich gehe um die Kabeltrommel herum und betrachte sie. Der Deckel ist wirklich ganz schwarz und rußig. In der Mitte hat er sogar einen Spalt. Das muss die Stelle sein, die der Blitz genau getroffen hat. Wir haben riesiges Glück gehabt, dass er uns nicht direkt erwischt hat. Sonst wäre Kira jetzt nicht katzenlebendig, sondern mausetot. Und ich gleich mit.
»Es muss einfach etwas mit dem Blitz zu tun haben. Und mit dem Ort hier. Es muss eine logische Erklärung dafür geben. Solche Dinge passieren doch nicht einfach so!« Kira klingt mittlerweile ziemlich verzweifelt.
»Ehrlich gesagt, dachte ich noch vor Kurzem, sie würden gar nicht passieren!«
Wir setzen uns beide auf den Boden neben der Trommel. Eine Weile sagt oder denkt keiner von uns beiden etwas. Schließlich rappelt sich Kira wieder hoch.
»Komm, Winston. Wir müssen jemanden fragen, der sich mit Blitzen gut auskennt. Wir brauchen einen Experten. Und ich weiß auch schon, wen.«
»Echt? Du kennst einen Experten für Blitze?«
»Ja. Und du kennst ihn auch.«
Erstaunt schaue ich sie an.
»Ich kenne einen Experten für Blitze?«
»Tust du: Werner.«
»Werner ist Experte für Blitze?«
»Klar. Denn Blitze sind doch eigentlich Strom. Strom ist in der Physik ein wichtiges Thema – und Werner ist Professor für Physik. Also, wenn uns jemand hier weiterhelfen kann, dann ist es Werner.«
»Na großartig. Und deswegen gehen wir jetzt zu Werner und erzählen ihm mal schnell die Geschichte von dem Körpertausch. Und dann fragen wir ihn, ob er eine Idee hat, was der Blitz damit zu tun haben könnte. Eine tolle Idee. Warum bin ich da nicht selbst draufgekommen?« Die spinnt doch, die Kira. Ich kenne meinen Professor. Der glaubt nicht an Wunder. Eher geht der mit mir zum Arzt, wenn ich ihm so eine Geschichte auftische. Und zwar nicht zum Kinderarzt, sondern zum Seelenklempner!
»Mann, Winston! Nun sei doch nicht immer so negativ! Natürlich sagen wir das Werner nicht so direkt. Wir machen das viel geschickter.«
»Aha. Und wie?«
»Also, als Erstes müssen wir ihn mal hierherlocken. Das machen wir am besten, indem du auf das schöne Wetter hinweist und fragst, ob ihr nicht zur Feier des Tages alle einen kleinen Spaziergang machen wollt. Nach dem Frühstück ein bisschen frische Luft schnappen. Du wirst sehen: Wenn man als Kind einen Spaziergang vorschlägt, sagen Erwachsene nie Nein.«
»Bist du sicher?«
»Ganz sicher. Erwachsene wollen immer, dass wir Kinder uns an der frischen Luft bewegen. Ich laufe als Katze vor und lenke euch in diese Richtung. Wenn du vor dem Häuschen stehst, behauptest du einfach, dass ihr in Physik gerade Gewitter und Blitze durchnehmt. Und dass du dich fragst, ob wohl etwas Besonderes passieren würde, wenn in diese Trommel der Blitz einschlagen würde. Das fändest du nämlich total spannend.«
Ich überlege einen Moment.
»Okay. Das könnte klappen. Werner mag es ganz gern, wenn er anderen etwas erklären kann.«
»Siehst du! Sag ich doch. So sind Erwachsene eben. Voll nervig. Ständig wollen sie, dass man etwas lernt. Aber in unserem Fall ist das ganz praktisch. Du wirst sehen: Das funktioniert!«
Hoffentlich hat Kira recht.
Kira hat recht. Kaum sage ich das magische Wort Spaziergang, schon nicken Anna und Werner begeistert.
»Das ist eine gute Idee«, lobt mich Werner. »Nach der ganzen Aufregung gestern sollten wir heute mal die Seele baumeln lassen. So ein Spaziergang ist dann genau richtig.«
Kaum haben wir also unser Frühstück beendet und das Geschirr vom Esszimmer in die Küche getragen, greifen Anna und Werner auch schon nach ihren Jacken. Mir soll es recht sein. Ich ziehe mir einen dünnen Pullover über und nehme Kira auf den Arm.
»Soll Winston denn auch mitkommen?«, will Anna von mir wissen.
»Auf alle Fälle! Ohne ihn säßen wir vielleicht noch bei Vadim in der Wohnung! Gut, dass er gestern einfach hinter uns hergelaufen ist, als wir Vadim besucht haben. Ich finde, Winston hat sich wirklich einen Spaziergang verdient.«
Werner nickt.
»Ja, es ist wirklich erstaunlich, wozu eine Katze in der Lage ist. Ich habe immer gedacht, so ein Wohnungskater wie Winston sei in der Stadt völlig orientierungslos. Da sieht man mal, wie man sich täuschen kann! Also, Dicker, komm ruhig mit!«
Wieso Dicker? So eine Frechheit! Ich bin ganz schlank! Erst recht, seitdem Kira in meinem Körper steckt. Manchmal glaube ich, sie isst ein bisschen weniger als ich. Jedenfalls ist sie als Kater eine sehr elegante Erscheinung.
Unten angekommen, springt Kira von meinem Arm und läuft Richtung Baustelle los. Wir schlendern hinterher. Anna und Werner unterhalten sich angeregt. Kein Wunder: Nachdem die Zigarettenschmuggelgeschichte ans Licht gekommen ist, haben die beiden sich jede Menge zu erzählen. Anna jedenfalls wirkt erleichtert, dass Werner nun die Wahrheit kennt. Sie lacht viel und auch Werner ist super gelaunt. Es ist schön, dass die beiden sich so gut verstehen. Vielleicht bleibt Anna einfach mit Kira bei uns wohnen, auch wenn sie jetzt keine Angst mehr vor Vadim haben muss. Ich würde mich darüber jedenfalls sehr freuen.
Kurze Zeit später haben wir unser Ziel erreicht. Nun muss ich Werner nur noch etwas näher an das Baustellenhäuschen lotsen und ihn aus seinem Plausch mit Anna reißen. Dann kann ich meine Frage loswerden. Kira ist schon auf die Trommel gesprungen und schlägt ungeduldig mit dem Schwanz hin und her.
»Winston, nun mach schon! Nicht, dass die beiden gleich an der Baustelle vorbeilaufen.«
»Momentchen! Ich muss kurz überlegen, wie ich die Frage am besten verpacke.«
»Mein Tipp: Stell sie einfach! Frag ihn, was wohl passieren würde, wenn genau an der Stelle, wo ich sitze, der Blitz einschlägt.«
Was Unterhaltungen mit Menschen anbelangt, hat Kira deutlich mehr Erfahrung als ich. Also ran an den Mann!
»Äh, Werner …« Ja, wie jetzt weiter?
»Was ist denn, Kira?«
»Also, du bist doch Physiker. Kannst du mir sagen, ob irgendetwas Besonderes passieren würde, wenn in diesem Moment ein Blitz genau dort einschlagen würde, wo Winston gerade sitzt?«
Mann, das klingt ja total bescheuert! Werner schaut mich erstaunt an.
»Wie kommst du denn darauf?«
»Ich … äh … also, wir beschäftigen uns in der Schule gerade mit Blitzen und … äh …« Was für ein grauenhaftes Gestammel! Werner muss sich fragen, ob ich als Kind wirklich so schlau bin, wie Anna immer behauptet. Los, Winston! Denk nach! Bring diesen Satz irgendwie sinnvoll zu Ende!
»Also, wie gesagt, wir beschäftigen uns mit Blitzen und jeder soll drei verschiedene Stellen aufschreiben, an denen der Blitz einschlagen könnte. Und dann sollen wir auch beschreiben, was an diesen Stellen so passiert.« Puh. Das war knapp.
Werner lacht.
»Na, wenn dort der Blitz einschlägt, dann wird dem armen Winston bestimmt ganz schön warm im Pelz.«
Gut. Diese Antwort ist nicht wirklich ergiebig. Ich beschließe nachzuhaken.
»Und es macht gar keinen Unterschied, ob der Blitz in einen Baum einschlägt oder in dieses Trommeldings?«
»Hach, du willst es also wirklich genau wissen. Na gut, dann schauen wir uns die Trommel mal näher an.« Er stapft in den Unterstand und begutachtet die Kabeltrommel. »Hm, da hast du dir tatsächlich ein interessantes Objekt für einen Blitzschlag ausgesucht: Wenn ich das richtig sehe, dann ist das im Grunde genommen eine riesige Kupferspule.«
»Äh, was?« Ich sag’s ja – ich habe wirklich null Peilung und Werner wird glauben, Kira sei ein bisschen langsam im Kopf.
»Also: Das Besondere an dieser Kabeltrommel ist, dass sie nicht mit Kabel umwickelt ist, das durch Plastik geschützt ist, sondern dass es blankes Kupferkabel ist. Wir haben also eine Kupferspule. Und was passiert wohl, wenn ein Blitz in eine Kupferspule einschlägt?«
Ich zucke mit den Schultern.
»Keine Ahnung.«
Werner grinst.
»Für den Bruchteil einer Sekunde entsteht ein sehr starker Elektromagnet. Wenn nämlich Strom durch eine Metallspule fließt, wird die Spule zum Magneten. So ist es bestimmt auch hier: In dem Moment, in dem der Strom des Blitzes fließt, entsteht in der Kupferspule ein Magnetfeld. Also, wenn der arme Winston etwas Magnetisches an sich hat, dann wird das von dem entstandenen Elektromagneten angezogen. Und zwar ziemlich stark.«
Ich starre Werner mit aufgerissenen Augen an. Das ist es! Ein Magnet! Kann es sein, dass Kira und ich durch einen starken Magneten gewissermaßen aus uns selbst herausgezogen wurden? Sollte unser »Ich« also auf irgendeine Art und Weise magnetisch sein? Und sind wir auf dem Rückweg unglücklicherweise im falschen Körper gelandet? Durch unseren bescheuerten Wunsch oder was auch immer? Bedeutet das gleichzeitig, dass wir durch einen Magneten auch wieder zurücktauschen könnten? Und falls ja: Wo bekommen wir auf die Schnelle so einen starken Magneten her? Fragen über Fragen! Hoffentlich gibt’s dazu bald die passenden Antworten!