Echten Freunden kann man alles erzählen. Falsch – man kann nicht nur, man muss es auch!


Zum ersten Mal, seit ich im Körper eines Mädchens stecke, bin ich froh, als endlich wieder Montag ist und ich zur Schule gehen kann. Das ganze Wochenende haben Kira und ich uns das Hirn zermartert, wo wir einen starken Magneten herbekommen könnten, um unsere Rücktauschtheorie auszuprobieren. Uns wieder in das Baustellenhäuschen zu setzen und darauf zu warten, dass noch mal ein Blitz in die Kupferspule einschlägt, erschien uns wenig Erfolg versprechend. Etwas Besseres ist uns allerdings auch nicht eingefallen und deshalb überlege ich, ob ich nicht Pauli und Tom von meinem Problem erzählen sollte. Natürlich ohne zu erwähnen, dass ich ein Kater bin.

Bevor ich aber dazu komme, meine Freunde auf ihr physikalisches Expertenwissen zu testen, überrascht uns Herr Prätorius mit einer neuen Superlehrer-Idee.

»So, ich habe mir am Wochenende Gedanken gemacht, wie man eure Klassengemeinschaft verbessern könnte. Und ich glaube, ich habe eine Lösung gefunden: Gruppentische. Wir werden jetzt also Folgendes tun: Jeder von euch schreibt auf einen Zettel die beiden Leute, mit denen er am liebsten, und die beiden, mit denen er auf keinen Fall an einem solchen Tisch sitzen möchte. Dann sammle ich die Zettel ein, wir machen eine Viertelstunde Pause und danach verkünde ich die neue Sitzordnung.«

Ein Stöhnen geht durch die Klasse. Die anderen sind von dieser Idee offenbar nicht begeistert. Ich kann mir darunter gar nichts vorstellen, deswegen verzichte ich aufs Mitjammern. Stattdessen krame ich ein Blatt Papier aus meiner Tasche, kritzle »Am liebsten: Tom und Pauli. Gar nicht: Leonie und Emilia« darauf und falte es. Herr Prätorius läuft durch die Reihen und sammelt die Blätter ein. Als er wieder vorn am Lehrerpult steht, klatscht er in die Hände.

»Okay, dann jetzt fünfzehn Minuten Pause. Aber seid nicht so laut, die anderen Klassen haben Unterricht.«

Ich stehe auf und gehe zu Paulis Tisch.

»Hallo! Wie war dein Wochenende?«, will ich von ihr wissen.

»So weit okay. Meine Eltern waren natürlich aufgeregt wegen der Sache mit Vadim. Als sie mich von der Polizeiwache abgeholt haben, waren sie noch total geschockt, aber mittlerweile geht es.«

»War bei mir ähnlich.« Tom hat sich neben mich gestellt. »Zum Glück haben sich meine Alten wieder beruhigt. Wie sieht es denn bei deiner Mutter aus?«

»Och, eigentlich gut. Sie ist froh, dass sie Vadim endlich dingfest gemacht haben. Aber mal was ganz anderes: Kennt sich jemand von euch beiden mit Physik aus?«

Pauli zuckt mit den Schultern, Tom mustert mich erstaunt.

»Mit Physik? Wieso? Brauchst du da Nachhilfe?«

Ich schüttle den Kopf.

»Nicht direkt. Aber ich bin auf der Suche nach einem starken Magneten. Also, einem RICHTIG starken. Und ich habe keine Ahnung, wo ich so einen finden könnte.«

»Was willst du denn damit?«, fragt Pauli neugierig.

»Ich brauche ihn gewissermaßen für ein Experiment.«

»Meine Mutter hat im Büro Magnete, die sehr stark sind. Die sehen aus wie kurze Stifte – man kann aber einen ganzen Stapel Papier mit ihnen an eine Magnetwand pinnen.«

Hm. Ohne dass ich genau sage, wozu ich den Magneten brauche, wird es schwer werden, Pauli und Tom auf die richtige Spur zu bringen.

»Also, ich glaube, der Magnet müsste schon viel größer sein. In den Bereich, der magnetisch wird, müsste richtig viel reinpassen.«

Tom runzelt die Stirn.

»Du meinst, du brauchst ein großes Magnetfeld?«

Stimmt! Magnetfeld! So hat Werner das genannt! Ich nicke begeistert.

»Richtig. Ich brauche einen Magneten, der ein großes Magnetfeld erzeugt.«

»Wie groß denn? Wie ein Buch?«

»Nee, eher so ein Meter fünfzig auf ein Meter.«

Tom reißt die Augen auf.

»Was? Das ist ja riesig!«

Ich zucke mit den Schultern.

»Tom, Kira, setzt euch bitte wieder!« Prätorius scheint mit seiner neuen Sitzordnung schon fertig zu sein. »Ich habe insgesamt fünf Tische gebildet und lese jetzt die Tischnummern und die Namen der fünf oder sechs Schüler vor, die an diesen Tischen sitzen werden. Diese Schüler stellen sich bitte zu Gruppen zusammen. Danach werden wir gemeinsam Tische rücken. Also, Tisch 1: Luna, Ben, June, Smilla und Mats. Tisch 2: Victor, Nele, Finn, Torben, Marie und Nils. Tisch 3: Kira, Tom, Paula, Leonie und Emilia. Tisch 4 …«

Oh nein! Was soll das denn? Pauli und Tom sind natürlich toll, aber mit den beiden Oberzicken an einem Tisch? Ich habe doch deutlich geschrieben, dass ich mit denen AUF KEINEN FALL zusammensitzen will!

»So, Kinder, nicht lang quatschen, sondern Gruppen bilden. Und dann eure Tische zusammenstellen. Immer zwei gegenüber und einer am Kopfende. Hopp, hopp! Ein bisschen Tempo, wenn ich bitten darf!«

Ich stehe auf und trotte mit gesenktem Haupt zurück zu Pauli.

»Mann, das geht ja gar nicht! Ich will nicht mit den beiden Nervensägen zusammensitzen. Bei wem kann ich mich denn da mal beschweren?«

Pauli grinst.

»Gar nicht. Lehrers Wort ist Gesetz. He, wird schon nicht so schlimm werden.« Sie steht auf und rückt ihren Tisch in die Richtung, in der meiner steht. Tom tritt hinzu und schiebt beide zusammen. Dann hilft ihm ein Mitschüler, einen weiteren Tisch an das kurze Ende zu stellen. Fertig ist die Sitzinsel des Grauens.

Leonie kommt zu uns und lässt ihre Tasche haarscharf neben meine Füße fallen.

»Na, da werden meine Eltern ja begeistert sein, wenn sie erfahren, dass ich bei einer Kriminellen sitzen muss. Hoffentlich passiert mir da nichts.« Sie wirft mir einen spöttischen Blick zu.

»Wie meinst du denn das?«, erkundigt sich Pauli. Oh nein, jetzt liefert mich Leonie garantiert mit dieser T-Shirt-Geschichte ans Messer!

»Ach, wisst ihr noch gar nicht, was für ein schönes Hobby eure neue Freundin hat? Hat sie nicht von unserem kleinen Ausflug zu TK Moritz erzählt?« Leonie schnaubt die letzten Worte fast. Emilia steht neben ihr und grinst doof.

»Ich … äh …«, will ich mich stammelnd verteidigen, doch Leonie macht einfach weiter.

»Geklaut hat sie da. Und erwischt worden ist sie auch noch. Voll peinlich, die Nummer. Ich dachte, ich sehe nicht richtig, als sie einfach das T-Shirt eingesteckt hat.«

Tom und Pauli starren erst mich an, dann wandert ihr Blick zu Leonie.

»Tja, da seid ihr platt, was? Na ja, ich dachte, es sei wichtig, dass ihr mal davon erfahrt. Man will doch wissen, mit wem man es so zu tun hat, nicht wahr?«

Heiliger Kratzbaum, ich würde am liebsten vor Scham im Boden versinken. Oder mich in einer Ölsardinendose verkriechen, wenn ich denn eine zur Hand hätte. Blut schießt mir in die Wangen. Ich bin bestimmt schon ganz rot im Gesicht.

»Also, Leonie«, beginnt Tom ganz langsam und mir graut schon davor, was jetzt kommt, »ich weiß überhaupt nicht, was du hier für ein Fass aufmachst. Natürlich hat uns Kira davon erzählt. Schließlich sind wir Freunde!«

Hä? Ich traue meinen Ohren nicht! Und auch Leonie sieht völlig verdattert und außerdem ziemlich enttäuscht aus. Jetzt gähnt Tom sogar, als wäre die Geschichte von mir und dem T-Shirt so ziemlich das Langweiligste, was er jemals gehört hat. Nun mischt sich Pauli ein.

»Tom hat recht. Kira hat uns sofort alles erzählt. Gewundert hat es mich allerdings überhaupt nicht. Schließlich war sie mit euch da. Und was man so hört, lasst ihr ganz gern mal was mitgehen. Wahrscheinlich war das sowieso eure Idee. Kennt man ja von euch.«

Leonie macht den Mund erst auf, als wolle sie antworten, macht ihn dann aber ohne ein Wort wieder zu. Eine sprachlose Leonie: eigentlich ein ganz schöner Anblick.

In der Mittagspause sitzen wir endlich ohne Leonie und Emilia zusammen. Eine gute Gelegenheit, Pauli und Tom noch einmal auf die Sache mit dem T-Shirt anzusprechen – schließlich ist mir die Geschichte immer noch richtig peinlich!

»Also, wegen eben – das würde ich euch gern erklären. Es ist nämlich nicht so, als würde ich ständig klauen. Im Gegenteil. Aber …«

Weiter komme ich nicht, denn Tom legt seine Hand auf meine und schaut mich ernst an.

»Kira, du musst das nicht erklären. Jeder baut mal Mist. Ich, du und natürlich auch Pauli. Aber eine Sache ist unter Freunden wichtig: dass man sich vertraut. Und dass man dem anderen erzählt, wenn man was vergeigt hat oder wenn einen was bedrückt. Verstehst du? Wahrheit ist wichtig unter Freunden!«

Ich nickte langsam. Obwohl ich als Kater so gut wie keine Erfahrung mit Freundschaft habe, erscheint mir das einleuchtend. Es ist ja auch schwierig, eng befreundet zu sein, wenn man Geheimnisse vor dem anderen hat. Leider ist es für mich unmöglich, hier gleich alle Geheimnisse auf den Tisch zu packen. Ich seufze schwer.

»Gibt’s noch etwas, das du gern erzählen würdest?« Pauli ist wirklich schlau und hat sofort gemerkt, dass mir noch etwas auf der Seele liegt. Aber ich kann den beiden unmöglich erzählen, dass ich in Wirklichkeit Winston bin. Die würden mich für komplett durchgeknallt halten! Ich schüttle also den Kopf und murmele etwas, das wie nein, nein klingt. Tom mustert mich.

»Kira, irgendetwas hast du! Was ist los? Nun sag schon!«

Miau, es ist doch zum Schnurrbarthaareausreißen! Was soll ich bloß machen? Soll ich vielleicht doch …? Ich gebe mir einen Ruck und beschließe, Tom und Pauli einzuweihen.

»Ich habe tatsächlich etwas auf dem Herzen. Allerdings ist die Geschichte ziemlich unglaublich und ihr müsst mir versprechen, dass ihr mich nicht für verrückt erklärt.«

Tom und Pauli heben gleichzeitig eine Hand in die Luft, was ziemlich lustig aussieht. Dann rufen sie mit feierlicher Stimme wie im Chor:

»Großes Indianerehrenwort!«

Dann mal los!

»Ähm, was würdet ihr sagen, wenn ich euch erzähle, dass ich in Wirklichkeit gar nicht ich bin? Sondern jemand anderes?«

Die beiden gucken ratlos. Tom räuspert sich.

»Du meinst, du bist gar nicht Kira Kovalenko?«

»Ja. Äh, ich meine, nein. Also, doch, schon irgendwie. Aber andererseits auch nicht.« Himmel, das ist ja völlig wirr! So kriege ich das nie vernünftig erklärt. Ich setze noch mal zu einem Versuch an. »Was ich meine, ist Folgendes: Äußerlich bin ich schon Kira Kovalenko. Aber innerlich, innerlich bin ich kein Mädchen, sondern …«

»Ein Junge?«, fragt Pauli. »Von solchen Fällen habe ich schon mal gelesen. Männer, die im Körper einer Frau geboren werden, oder umgekehrt. Die nennt man dann … äh … warte mal, das sind … äh … Trans… äh … gleich hab ich’s …«

Ich schüttle den Kopf.

»Nein, das meine ich nicht. Ich bin kein Junge.« Ich hole tief Luft, dann bringe ich es raus: »Ich bin ein Kater.«

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