Neue Mitbewohner? Lieber nicht.


Oder lieber doch?


Wer hätte gedacht, dass es so kuschelig ist, mit einem Menschen zusammen im Bett zu schlafen? Ich habe das mit Werner noch nie ausprobiert. Sein Schlafzimmer ist für mich sowieso verboten. Aber hier, so dicht neben Kira, fühlt es sich doch ziemlich gut an. Ihr Atem geht regelmäßig und anders als ihre Mutter schnarcht sie auch nicht.

Bis eben habe ich noch tief und fest geschlafen, aber nun fällt langsam Morgenlicht durch das Zimmerfenster und kündigt den neuen Tag an. Vorsichtig, um Kira nicht zu wecken, krieche ich zum Kopfende des Bettes hoch und betrachte sie. Ihr Gesicht sieht friedlich und entspannt aus. Schön! Ich lege mein Gesicht ganz nah neben ihres, rolle mich ein Stück unter die Bettdecke und schließe wieder die Augen. Das ist genau die richtige Position, um vor dem Frühstück noch eine Mütze Schlaf zu bekommen.

Ich bin gerade erneut eingenickt, als mit einem Ruck die Decke weggerissen wird und ein kalter Luftzug mich sehr unsanft ins Hier und Jetzt befördert. He, was soll das denn? Vorsichtig öffne ich ein Auge, nur um es gleich wieder zu schließen. Über dem Bett baumelt nämlich eine Lampe, die geradezu eklig helles Licht in mein Gesicht strahlt. Okay, irgendjemand will uns mit Gewalt aus dem Bett schmeißen. Die Frage ist nur: wer und warum?

»Kira, aufwachen! Du musst aufstehen! Sonst kommst du zu spät zur Schule!« Anna steht neben uns und ist erschreckend wach.

Kira rappelt sich hoch.

»Mann, Mama, ich bin noch total müde!«

»Ja, ich weiß. Tut mir auch leid, aber von der Hochallee bis zu deiner Schule brauchst du bestimmt fast eine Stunde. Da musst du gleich los, wenn du es bis acht Uhr schaffen willst.«

Brrr, ich weiß nicht genau, wann acht Uhr ist. Aber es ist mit Sicherheit eine Uhrzeit, zu der Werner normalerweise noch im Bett liegt. Oder gerade den ersten Kaffee trinkt. Wir beide starten nämlich gern gemütlich in den Tag. Das scheint aber unmöglich zu sein, wenn man zur Schule geht. Ob das wohl bedeutet, dass alle Kinder zur selben Zeit dort sein müssen? Und falls ja: Wer hatte denn diese blöde Idee? Es wäre doch viel entspannter für alle, wenn jeder kommen könnte, wann er wollte!

Gut, dass Kira und Anna nur ausnahmsweise hier geschlafen haben. Ich hätte wirklich keine Lust, jeden Morgen so früh geweckt zu werden!

»Was müssen Sie bloß von mir denken! Es ist mir so unangenehm!« Anna und Werner sitzen auf dem großen Sofa im Wohnzimmer, ich liege auf dem Fensterbrett. Seit einer Viertelstunde redet Anna ununterbrochen und erzählt Werner dieselbe Geschichte, die ich heute Nacht von Kira gehört habe. Nur die Sache mit der Polizei lässt sie weg. Stattdessen behauptet sie, dass dieser blöde Vadim sie einfach mit Kira vor die Tür gesetzt hätte. Komisch … ob Werner vielleicht nichts von der Polizei wissen soll?

Beim Reden fuchtelt Anna so wild mit den Armen, dass ich mich ab und zu wegducken muss, um nicht eins auf die Nase zu kriegen. Also, das unterscheidet sie definitiv von Olga: Während Olga immer ziemlich ruhig war, scheint Anna ein echtes Energiebündel zu sein – sie ist eigentlich immer in Bewegung. Für jemanden wie mich, der den ganzen Tag am liebsten auf dem Sofa herumliegt, ist das schwer zu verstehen. Wozu so viel Stress?

Allerdings muss auch ich zugeben, dass die letzte Nacht so aufregend war, dass Anna jetzt völlig zu Recht Nervenflattern hat. Auch Kira war vorhin noch ganz aufgescheucht, als sie zur Schule aufgebrochen ist. Ich bin immer noch ganz entsetzt, wie früh das arme Kind losgegangen ist. Allein bei dem Gedanken daran muss ich gähnen und strecke mich ein wenig. Wenn Anna mit ihrer Fuchtelei fertig ist, würde ich gern noch ein bisschen schlafen. So ein Nickerchen vor dem Mittagessen wird mir bestimmt guttun. Dann noch eines nach dem Essen und der Tag ist mein Freund!

Also: Anna soll mit ihrer Geschichte mal zum Ende kommen! Schließlich sitzt sie auf meinem Sofa und blockiert dort meinen Platz. Werner benutzt es so gut wie nie, wenn wir allein sind, und so hat es sich eingebürgert, dass vor allem ich darauf liege. Wenn die Sonne ab dem frühen Nachmittag auf die Polster scheint, gibt es keinen Platz in der Wohnung, der gemütlicher ist als dieses Fleckchen. Ich hoffe stark, Anna macht ihn mir in Zukunft nicht streitig – aber die soll hier schließlich arbeiten und nicht auf dem Sofa sitzen.

Es klingelt. Das ist bei uns tagsüber ungewöhnlich. Da bekommen wir eigentlich nie Besuch – genauso wenig wie mitten in der Nacht. Werner seufzt und steht von der Couch auf.

»Das ist bestimmt die Post. Moment, ich bin gleich wieder da.« Richtig. Ab und zu gibt die Postbotin ein Päckchen für uns ab. Langweilig. Da bleibe ich lieber auf dem Fensterbrett liegen und hoffe, dass Werner doch nicht wiederkommt und sein Platz frei wird.

Aus dem Flur hört man Stimmen. Werner, klar. Die zweite Stimme ist aber nicht die der Postbotin. Sondern die von Kira. Nanu – ist die Schule etwa schon vorbei? Das ist dann ja echt eine kurze Veranstaltung. Wenn Werner zur Uni geht, ist er immer ein paar Stunden verschwunden. Dass Kira nun schon vor dem Mittagessen zurückkommt, hätte ich nicht gedacht. Sei’s drum, mir wird sie schon nichts wegfressen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich an meinem Napf vergreift.

Ich hüpfe vom Fensterbrett, um Kira zu begrüßen. Das Kuscheln heute Nacht war nicht so schlecht. Vielleicht kann ich noch ein paar Streicheleinheiten bei ihr abstauben.

Bevor ich aber bei der Tür zum Flur angekommen bin, stehen Werner und Kira schon im Wohnzimmer. Und auf den ersten Blick aus meinen grünen Augen kann ich sehen, dass hier etwas nicht stimmt. Und zwar überhaupt nicht stimmt! Kira sieht noch aufgelöster aus als gestern Nacht vor unserer Tür. Ihr Gesicht ist ganz nass und übersät mit Flecken. Sie hat offenbar heftig geweint. Nein, eigentlich weint sie immer noch. Ihre langen Haare, die Anna ihr heute Morgen sorgfältig geflochten hat, sind wirr und zerzaust, und ihre Jeans hat ein großes Loch auf dem Knie, wo vorher definitiv keines war. Ich merke, wie sich die Haare an meiner Schwanzspitze langsam aufrichten: ein untrügliches Zeichen für Gefahr!

Anna springt vom Sofa auf.

»Mein Gott, Kira! Was ist passiert?«

Weinend fällt Kira ihrer Mutter in die Arme.

»Mama! Ich hatte solche Angst! Vadim – er war bei meiner Schule! Er wollte wissen, wo du jetzt bist, und als ich es ihm nicht gesagt habe, ist er völlig ausgerastet.« Kira schluchzt so sehr, dass sie nicht weitersprechen kann. Anna streichelt ihr über den Kopf und murmelt etwas, das wie Schhhh, Schhhhh klingt. Kira beruhigt sich etwas.

»Er hat rumgeschrien und gesagt, dass er so lange vor der Schule wartet, bis ich ihm verrate, wo wir geschlafen haben.«

»Hat er dich geschlagen?«, will Anna wissen. »Du siehst furchtbar aus!« Kira schüttelt den Kopf.

»Nein. Aber ich hatte natürlich Angst, dass er mir etwas tut. Deswegen bin ich schnell weggerannt und dabei hingefallen. Mein Knie hat etwas abgekriegt, aber sonst ist nichts passiert.«

Werner räuspert sich.

»Dieser Vadim, kennen Sie ihn?« Anna nickt.

»Ja, das ist mein Freund, von dem ich Ihnen erzählt habe.«

»Sie müssen die Polizei rufen, sofort!«

Anna schüttelt heftig den Kopf.

»Nein! Keine Polizei! Auf keinen Fall!«

»Aber warum denn nicht? Der Mann ist doch offenbar gefährlich! Er hat Ihre Tochter bedroht!«

»Ich weiß, aber wenn die Polizei kommt, wird alles nur noch schlimmer.«

Aha? Alles wird schlimmer, wenn die Polizei kommt? Bei den Gräten im Hering – dann sollten wir sie besser nicht rufen! Hier ist es gerade schon aufregend genug, zumindest für einen braven Kater wie mich. Werner legt den Kopf schief und mustert Anna und Kira nachdenklich.

»Okay, Ihre Entscheidung. Aber Sie gehen unter keinen Umständen zurück in Ihre Wohnung. Und Kira kann auch nicht wieder an ihre Schule zurück. Das ist viel zu gefährlich!«

Anna zuckt mit den Schultern.

»Ja, wahrscheinlich haben Sie recht. Aber was sollen wir machen? Kira muss doch zur Schule gehen.«

»Hm.« Werner denkt nach. Und wenn er nachdenkt, wird er immer etwas einsilbig. Wir anderen warten gespannt, ob ihm etwas einfällt.

Werner macht noch einmal »Hm«, dann holt er Luft.

»Sag mal, Kira, bist du eine gute Schülerin?«

Bevor Kira antworten kann, kommt es wie aus der Pistole geschossen von Anna: »Ja, natürlich! Kira ist eine sehr gute Schülerin! Immer nur Einsen und Zweien – ich muss mir nie Sorgen machen!«

Ein klarer Fall: Mutterstolz pur. Anna klingt jetzt fast so wie ein Züchter, der von den Erfolgen seines Nachwuchses auf der Katzenausstellung berichtet. Ich weiß, wovon ich rede. Ich selbst stamme aus einer sehr edlen Zucht von Britisch Kurzhaarkatzen. Und wenn ich mich recht entsinne, bogen sich die Regale im Wohnzimmer meines Züchters unter den Pokalen seiner Katzenchampions. Die bekannteste Britisch-Kurzhaar-Zucht der Welt. Na gut, vielleicht nur Deutschlands – auf jeden Fall war unser Züchter stolz auf seine Katzen. Kira scheint dieser Ausbruch ihrer Mutter aber ziemlich peinlich zu sein. Verlegen schaut sie auf ihre Schuhspitzen und knetet ihre Hände.

»Ach, Mama, gib bitte nicht so mit mir an. Sooo toll bin ich nun auch wieder nicht. Ich bin doch keine Streberin!«

Werner lächelt.

»Natürlich keine Streberin! Ich wollte nur wissen, ob du in der Schule ganz gut mitkommst. Aber das scheint ja der Fall zu sein. Das ist klasse. Ich habe da nämlich eine Idee: Nicht weit von der Universität gibt es ein Gymnasium, dessen Direktorin ich kenne. Ich lade ihre Klassen manchmal in meine Vorlesung ein, damit sich die Schüler das Fach Physik besser vorstellen können. Sie schuldet mir also einen Gefallen. Ich könnte sie fragen, ob Kira erst mal ihre Schule besuchen kann – zumindest, bis sich die Wogen geglättet haben und dieser Vadim Ruhe gibt. Allerdings soll die Schule ziemlich anspruchsvoll sein, deswegen meine Frage.«

Anna reckt das Kinn nach oben.

»Eine schwere Schule ist für meine Tochter kein Problem.« Kira seufzt, sagt aber nichts.

»Bestens. Dann ist das mein Angebot: Ihr wohnt erst mal hier und Kira besucht das Wilhelminen Gymnasium. Ich kümmere mich darum.« Er streckt Anna die Hand entgegen. Die zögert erst, schlägt aber schließlich ein.

»Danke. Ich versteh nur nicht, warum Sie uns so nett helfen.«

Werner grinst.

»Erstens: weil ich eben nett bin. Zweitens: weil ich noch nie mit einer Familie zusammengelebt habe. Diese Erfahrung ist völlig neu für mich und vielleicht spannend. Auf jeden Fall habe ich hier den Platz und die Möglichkeit zu helfen – also warum nicht?«

»Na gut. Dann auf ein schönes Zusammenleben!«

»Genau. Willkommen, neue Mitbewohner!« Jetzt lachen die beiden und sogar Kira ringt sich ein Lächeln ab. Sie scheint die Idee auch nicht schlecht zu finden.

Was ich allerdings darüber denke, interessiert wieder mal keinen der Zweibeiner. Typisch. Dabei wohne ich hier genauso. Und im Gegensatz zu Werner finde ich nicht, dass uns beiden die Familienerfahrung fehlt. Es war doch alles wunderbar, so wie es war!

Andererseits: Ob mich Kira noch einmal in ihrem Bett schlafen lässt? Das war nicht so schlecht. Bis auf das elendig frühe Aufstehen. So etwas brauche ich wirklich nicht noch einmal! Ich beschließe, die ganze Angelegenheit mal ein paar Tage zu beobachten und mir dann eine Meinung zu bilden. Hinterher ist man ja bekanntlich immer schlauer. Und das gilt ausnahmsweise nicht nur für Menschen, sondern auch für Katzen.

Загрузка...