Was Verbrecher mit Schnürsenkeln zu tun haben? Manchmal eine ganze Menge.


Nein, ich bilde es mir leider nicht ein. Vadim steht tatsächlich vor mir. Das heißt, er steht nicht mehr, sondern macht einen Schritt auf mich zu und packt mich stinkwütend am Arm.

»Was soll das?«, schreit er mich an. »Ich denke, du wartest bei Bodos Bootssteg auf mich? Ich bin nur kurz zurückgekommen, weil ich mein Geld vergessen habe – ich wollte dich doch einladen. Also, was machst du hier?« Die Adern an Vadims Hals schwellen bedenklich an, was ihm einen furchterregenden Anblick verleiht.

»Ich, äh, also …« Da habe ich den Heringssalat! Mir fällt absolut nichts ein, womit ich meine Anwesenheit hier sinnvoll erklären könnte. Außer mit der Wahrheit natürlich – aber die würde ich Vadim ungern auf die Nase binden.

Das ist auch leider gar nicht nötig, denn in diesem Moment kommt Tom aus der Küche und stolpert fast über Vadim.

»Oh, Scheibenkleister!«

Vadim blickt zwischen Tom und mir hin und her, dann stürmt er an uns vorbei in die Küche und bleibt vor dem Loch im Boden stehen. Er bückt sich und hebt eine der Zigarettenstangen hoch. Ob der Hauch einer Chance besteht, dass er nicht gleich begreift, was er dort sieht?

»Ach, das habt ihr euch ja fein ausgedacht! Lasst mich raten, der Milchbubi hier ist Joe, richtig? Und jetzt wollt ihr bei den Bullen Alarm schlagen, was? Kira, Kira, das hätte ich dir echt nicht zugetraut!«

Schade. Doof ist Vadim leider nicht. Unseren Plan hat er jedenfalls sofort durchschaut. Über sein Gesicht breitet sich ein Grinsen aus.

»Es wird auch Alarm bei den Bullen geben, das schwöre ich euch. Aber nicht so, wie ihr euch das vorstellt!«

Er packt mich wieder am Arm und zerrt mich ins Schlafzimmer. Völlig verdattert bleibe ich dort stehen und sehe zu, wie er auch Tom und Pauli zu mir in den Raum schubst. Dann verpasst er Kira einen Tritt, sodass sie fauchend zu uns rennt, schmeißt die Tür zu und schließt sie von außen ab. Wir sitzen in der Falle!

»Jetzt hört mir mal gut zu, meine Lieben!«, brüllt Vadim durch die Tür. »Ich werde Anna anrufen und ihr von der kleinen Überraschung erzählen, die hier auf mich gewartet hat. Und dann werde ich ihr klarmachen, dass sie besser zur Polizei geht und endlich ein verdammtes Geständnis ablegt, das zu meiner Aussage passt. Und sie wird es noch ein bisschen ergänzen. Und zwar wird sie sagen, dass ich mit dem ganzen Schmuggel überhaupt nichts zu tun hatte. Dass sie es ganz allein war!«

»Das wird sie niemals tun!«, ruft Tom empört. Vadim grinst.

»Weißt du, ich glaube schon, dass sie das tun wird. Denn sonst sieht sie ihr braves Töchterlein nicht so hübsch wieder, wie sie es gewohnt ist.«

Oh nein, das ist ja eine Katastrophe! Nun haben wir alles viel schlimmer gemacht, als es ohnehin schon war. Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen, um Vadim von seinem Plan abzubringen.

»Also, wenn du das zu meiner Mutter sagst, kehrt sie garantiert nie wieder zu dir zurück. Und das ist es doch, was du eigentlich wolltest.«

»Tja, Kira, die Zeiten ändern sich. Inzwischen will ich nur noch, dass deine Mutter die ganze Schuld auf sich nimmt. Das erspart mir mindestens ein Jahr im Knast. Bestimmt Zeit genug, eine andere nette Frau kennenzulernen!« Er lacht laut und bösartig. »Ach, und bevor ihr auf dumme Gedanken kommt: Legt eure Handys auf die Türschwelle, damit ich sie einsammeln kann. Ich zähle bis drei, dann schließe ich noch mal auf. Und wenn ich dann keine Handys dort liegen sehe, werde ich wohl die Katze aus dem Fenster schmeißen müssen, damit ihr wisst, dass ich es ernst meine!«

Geschockt gucken wir uns an. Der ist ja total verrückt! Hektisch kramen wir unsere Handys aus den Taschen.

»So, jetzt noch der Schlüssel! Aber zack, zack!«

Schnell lege ich den Bund neben die Handys auf die Türschwelle. Vadim greift sich die Sachen, dann knallt er die Tür zu und schließt wieder ab. Wir hören seine Schritte im Flur und die Wohnungstür ins Schloss fallen. Er ist tatsächlich gegangen und lässt uns hier eingesperrt zurück.

Eine Weile sagt keiner von uns ein Wort. Schließlich räuspert sich Tom.

»Mann, Mann, Mann – das haben wir aber ganz schön vergeigt. Was machen wir denn jetzt?«

Ich zucke mit den Schultern.

»Weiß nicht.« Am liebsten würde ich auch heulen, füge ich in Gedanken hinzu.

»Sag mal«, fragt mich Pauli, »meinst du, deine Mutter lässt sich tatsächlich von Vadim erpressen?«

»Ich fürchte schon. Welche Mutter würde nicht aus Angst um ihr Kind alles machen, was man von ihr verlangt?«

»He, Winston, nicht aufgeben!«, will Kira mir Mut machen. »Uns wird schon etwas einfallen. Wir müssen auf alle Fälle verhindern, dass meine Mama zur Polizei geht!«

»Ja, aber wie?«, sage ich laut. Tom und Pauli schauen mich verwundert an.

»Redest du mit uns?«, will Pauli wissen.

»Äh, ich habe nur laut gedacht. Ich überlege, wie wir verhindern könnten, dass meine Mutter zur Polizei geht.«

»Ist doch klar: Wir müssen hier so schnell wie möglich raus!«, meint Pauli.

»Richtig. Aber wie sollen wir das machen? Vielleicht die Tür eintreten?«, schlage ich vor. Tom nickt und wirft sich sofort mit vollem Schwung gegen die Zimmertür. Es kracht heftig, sonst passiert nichts.

»Aua!« Tom reibt sich die Schulter. »Die Tür ist bombenfest. Ich glaube nicht, dass wir die aufbekommen. Aber was ist denn mit dem Fenster? Vielleicht können wir rausklettern?«

Wir öffnen es und gucken raus.

»Hm, ziemlich hoch. Eben dritter Stock. Wenn man es auf den Balkon der Nachbarn schafft, kann man sich vielleicht runterhangeln, aber einfach wird das nicht. Und wenn wir runterfallen, sind wir so platt wie Kartoffelbrei«, stellt Pauli trocken fest.

»Ich hab’s!« Mit einem Satz springt Kira auf das Fensterbrett und wirft einen Blick nach draußen. »Ich werde nach unten klettern! Bis zum Balkon von Familie Petkovic schaffe ich es locker und dann hüpfe ich von Balkon zu Balkon, bis ich unten bin.«

»Tja, schöne Idee«, denke ich diesmal leise, um Pauli und Tom nicht zu verwirren, »aber wie willst du Hilfe holen? Du kannst nicht sprechen, schon vergessen?«

»Natürlich nicht. Aber wie wäre es, wenn ihr mir eine Nachricht mitgebt? Zum Beispiel, indem ihr mir einen Zettel um den Hals bindet? Am besten laufe ich damit zu Werner.«

»Zu Werner? Aber der sollte doch von der ganzen Geschichte nichts mitbekommen!«

»Stimmt. Aber die Lage hat sich leider ziemlich verschlechtert und wir brauchen jetzt einen Erwachsenen, der einen kühlen Kopf bewahrt.«

»Na gut. Vielleicht ist die Idee wirklich nicht schlecht. Ich bespreche es mit Tom und Pauli.« Ich drehe mich zu den beiden um.

»Ich hab’s! Wir könnten Winston einen Zettel um den Hals binden und ihn aus dem Fenster lassen. Dann hangelt er sich zum Boden – das ist für ihn als Kater kein Problem. Wenn er unten angekommen ist, holt er Hilfe, und wir werden gerettet!«

Pauli und Tom gucken skeptisch.

»Aber woher wissen wir denn, dass Winston wirklich den nächsten Menschen ansteuert und der uns auch rettet?«

»Winston ist sehr schlau. Ich erkläre es ihm vorher genau. Ihr werdet schon sehen – das klappt!«

Tom legt den Kopf schief und denkt nach.

»Andererseits – zu verlieren haben wir schließlich nichts. Schlimmstenfalls haut der Kater einfach ab. Brauchen wir also nur noch einen Zettel, einen Stift und eine Schnur.«

Wir sehen uns in dem kleinen Zimmer um. Leider lässt die Büroausstattung zu wünschen übrig. Auf einem der Schränke finden wir immerhin einen alten Briefumschlag. Beim Stift hingegen Fehlanzeige.

»Wartet mal, ich habe immer einen Kajalstift dabei.« Pauli zieht einen Stummel aus ihrer Hose und zeigt ihn uns. »Der verschmiert zwar ein bisschen, aber besser als nichts.«

»Gute Idee. Und als Schnur opfere ich jetzt einen Schnürsenkel«, erklärt Tom und beginnt sofort, einen seiner Chucks auszuziehen.

Pauli gibt mir den Kajal. Ich überlege kurz und beginne dann zu schreiben:


Lieber Werner,

ich bin von Vadim entführt worden. Er hält mich in seiner Wohnung in der Sethmannstr. 12, 3. Stock rechts, gefangen und will Mama erpressen. Bitte hilf mir!

Kira


Tom schielt über meine Schulter.

»Lieber Werner? Woher willst du denn wissen, dass Winston jemanden zur Hilfe holt, der Werner heißt?«

»Werner ist der Professor, für den meine Mutter arbeitet. Wir wohnen bei ihm in der Hochallee und Winston ist sein Kater.«

»Aha. Aber von hier bis in die Hochallee ist es richtig weit. Das schafft dein Kater nie. Oder jedenfalls nicht schnell genug.«

»Mit der U-Bahn braucht er nur zwanzig oder dreißig Minuten.«

Pauli und Tom fangen an zu lachen.

»Mit der U-Bahn? Du glaubst doch nicht etwa, dass der Kater U-Bahn fährt! Er mag ein schlaues Kerlchen sein, aber damit überforderst du ihn doch etwas.«

»Lacht ihr nur«, erwidere ich eingeschnappt. »Ich weiß, dass Winston das kann. Katzen können alles.« Jawoll!

»Reg dich nicht auf!«, beruhigt mich Kira. »Ist doch logisch, dass sie dir nicht glauben. Ich schaffe das schon.«

»Bei meinem Fressnapf – ich hoffe, du hast recht! Aber bitte melde dich zwischendurch mal, damit ich weiß, dass alles in Ordnung ist!«

»Mach ich. Und jetzt los – wir haben keine Zeit zu verlieren. Wenn meine Mama erst bei der Polizei war, ist es zu spät!«

Ich nehme den Briefumschlag, ziehe den Schnürsenkel durch ein kleines Loch, das ich zuvor gebohrt habe, und binde das Ganze schließlich um Kiras Katzenhals. Dann nehme ich sie auf den Arm, öffne wieder das Fenster und setze sie vorsichtig auf das Fensterbrett. Kira zögert nur kurz, dann macht sie einen Satz und landet sicher auf dem Nachbarbalkon. Ruck, zuck hangelt sie sich nach unten und ist kurze Zeit später tatsächlich am Boden angekommen. Uff, das wäre schon mal geschafft.

Pauli und Tom blicken ihr hinterher.

»Also, wenn dein Kater das schafft, dann fress ich ’nen Besen.« Besonders zuversichtlich klingt Tom nicht. Ich bin es, offen gestanden, auch nicht. Was haben wir da bloß angezettelt!?

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