Mein Leben als Mädchen.


Oder: Aller Anfang ist schwer …


»Guten Morgen, mein Schatz! Draußen ist zwar scheußliches Wetter, aber ich fürchte, du musst trotzdem aufstehen! Dafür habe ich dir etwas besonders Leckeres zum Frühstück gemacht.«

Nein. Es war leider kein böser Traum. Vor mir im Halbdunkeln steht Anna und rüttelt sanft an meiner Bettdecke. Ich murmle etwas, das hoffentlich wie »Guten Morgen, Mama« klingt, setze mich auf und reibe mir die Augen. Da haben wir den Heringssalat! Ich bin immer noch ein Mensch!

Anna setzt sich auf die Bettkante neben mich.

»Na, wollen wir uns nicht wieder vertragen?«

Ich nicke stumm. Vertragen ist eine gute Idee. Vor allem für jemanden wie mich, der sich noch nie mit seiner Mutter gestritten hat.

»Dann also wieder Frieden, okay?« Anna zieht mich zu sich und drückt mir einen Kuss auf die Wange – ein wirklich komisches Gefühl, ihre Lippen direkt auf meiner Haut zu spüren. Zum einen hat mich noch nie ein Mensch geküsst und zum anderen trage ich normalerweise schließlich ein Fell!

Anna steht auf und geht aus dem Zimmer. Als sie aus der Tür ist, kommt Kira hineingeschlichen.

»Morgen, Winston. Ich hatte so gehofft, dass alles nur ein böser Traum war. Aber wie es aussieht, bin ich tatsächlich noch ein Kater.« Sie springt zu mir aufs Bett und legt ihren Kopf auf meinen Schoß.

»Tja, geht mir genauso. Meine Begeisterung, heute noch ein Mädchen zu sein, hält sich auch sehr in Grenzen.«

Kira schnurrt und in Gedanken höre ich sie kichern.

»Was ist denn daran so lustig?«, will ich von ihr wissen.

»Och, nichts.«

»Glaub ich dir nicht. Also was?«

»Na ja, du redest wie ein Erwachsener. So geschwollen. Hast du das als Kater auch schon gemacht?«

»Äh, weiß nicht. Ich habe als Kater ja gar nicht mit Menschen geredet. Aber – ja, was du jetzt hörst, ist eben die Art und Weise, wie ich sonst denke.«

Kira dreht sich auf den Rücken und mustert mich.

»Klingt auf alle Fälle ziemlich uncool. Also, pass bloß auf, dass du in der Schule meinen Ruf nicht völlig ruinierst. Der ist eh schon nicht der beste.«

»Moment mal: wieso Schule

»Na, du glaubst doch nicht etwa, dass Mama dich zu Hause bleiben lässt?«

»Äh, aber ich will da nicht hin!« Jetzt kichert Kira nicht, sondern lacht. Eindeutig.

»Tja, Pech gehabt. Ob man in die Schule geht, kann man sich leider nicht aussuchen. Man muss, sonst gibt’s Ärger. Und zwar zuallererst mit meiner Mama. Die nimmt das Thema nämlich sehr ernst. Also, wenn du nicht gerade Schüttelfrost und Fieber hast oder deinen Kopf unter dem Arm spazieren trägst, hast du keine Chance hierzubleiben.«

Oh nein. Das sind richtig schlechte Nachrichten. Ich in der Schule – mit lauter fremden Kindern! Ein echter Albtraum! Stöhnend lasse ich mich wieder ins Bett sinken.

»Kira, steh schon auf! Du kommst zu spät!«, tönt Annas Stimme über den Flur. Sie klingt tatsächlich sehr entschlossen. Und wenn ich einfach behaupte, krank zu sein?

»Äh, mir geht’s nicht so gut!«, krächze ich möglichst schwächlich und schließe die Augen. Sofort höre ich Annas Schritte auf dem Weg zu mir. Im Zimmer angekommen, legt sie ihre Hand auf meine Stirn.

»Fieber hast du eindeutig nicht. Komm, eine schöne Tasse Tee, dann bist du wieder fit! Vielleicht gehst du heute einfach mal früher ins Bett, dann bist du morgens auch wacher. Auf, auf, meine Dame! Ich möchte nicht, dass du in der neuen Schule einen schlechten Eindruck hinterlässt.«

Es ist genau, wie Kira gesagt hat: Wenn es um die Schule geht, scheint Anna keinen Spaß zu verstehen. Als sie wieder verschwunden ist, winde ich mich aus dem Bett und wanke zur Tür. Heilige Ölsardine – Laufen auf zwei Beinen ist wirklich schwierig!

»Ich kann nicht in deine Schule gehen. Das überleb ich nicht.«

»Quatsch. So schlimm ist es auch wieder nicht«, versucht mich Kira zu trösten.

»Aber dann musst du mitkommen. Ohne dich bin ich dort völlig aufgeschmissen«, flehe ich Kira an. Die schüttelt nur kurz den Kopf.

»Geht leider nicht. Hast du vergessen, welchen Ärger ich gestern deinetwegen bekommen hab? Wenn ich – äh, also du – jetzt noch mal mit einer Katze aufkreuzt, ist der Ofen endgültig aus.« Stimmt wahrscheinlich. Ich stöhne gequält.

»Was mache ich zuerst?«, denke ich laut nach.

»Na, du musst dich waschen und anziehen«, erklärt Kira. Stimmt. Gute Idee! Ich strecke meine Arme nach vorn, schlage die Nachthemdärmel zurück und beginne, meine Hände abzuschlecken.

»Miau! Doch nicht so! Du musst ins Badezimmer gehen und Wasser benutzen!«

Igitt! Wasser? Zum Waschen? Eine grauenhafte Vorstellung! Aber stimmt … wo ich so darüber nachdenke: Werner macht das auch immer. Grundgütiger Katzenschnurrbart: Ich habe noch nicht einmal gefrühstückt und schon zwei sehr unangenehme Dinge über das Menschsein gelernt: Kinder müssen zur Schule gehen und gewaschen wird der Mensch mit Wasser. Wenn das so weitergeht, bin ich lange vor dem Mittagessen erledigt!

Ich taumle ins Badezimmer, Kira folgt mir.

»So, jetzt als Erstes Zähneputzen! Mit der Zahnbürste!«, erklärt sie.

Ratlos schaue ich mich im Badezimmer um. Wie könnte wohl eine Zahnbürste aussehen? Ich greife nach etwas, das mich stark an meine Fellbürste erinnert – ungefähr gleich groß und mit Metallborsten. Ob ich mir damit die Zähne putzen kann?

»Falsch!«, kommt es sofort von Kira. »Das ist eine Haarbürste. Meine Zahnbürste steht da drüben in dem Becher. Sie ist lila.« Lila. Aha. Wie mag lila aussehen? Als Katze bin ich kein Fachmann, wenn es um das Unterscheiden von Farben geht. Ich seufze und greife nach einer der kleinen Minibürsten mit dem langen Stil, die sich in dem Becher auf der Ablage befinden. Es scheint die richtige zu sein, jedenfalls protestiert Kira nicht. Dann stecke ich mir das Teil in den Mund und kaue darauf herum. So mache ich es auch immer mit den Zahnpflege-Leckerlis, die Olga extra für mich gekauft hat. Leider ist die Bürste steinhart und schmeckt überhaupt nicht. Ich lege sie wieder ins Waschbecken.

»Nee, Winston! Du musst natürlich erst mal Zahncreme auf die Bürste tun und dann die Zähne damit abschrubben. Sonst bringt das nichts.« Mit einem Satz landet Kira auf der Ablage neben dem Waschbecken und schlägt mit der Pfote nach etwas, das wohl die Zahncreme sein muss. Ich nehme die Tube, schraube sie auf und drücke den Inhalt auf die Bürste.

»Kira! Gib mal Gas!« Anna steht vor der Badezimmertür und wundert sich anscheinend schon, warum das heute so lange dauert. Ich merke, wie es auf meiner Stirn plötzlich nass wird. Ihhhh … was ist das? Etwa Schweiß? Dieses Phänomen habe ich schon mal bei Werner beobachtet. Letztes Jahr im Hochsommer. Aber jetzt ist es eigentlich gar nicht heiß … Ob der Schweiß mit dem ganzen Stress hier zusammenhängt? Wahrscheinlich! Warum haben es die Zweibeiner auch immer so verflucht eilig?

»Ich komme gleich!«, wiegle ich ab. Dann schnappe ich mir die Zahnbürste und schrubbe drauflos, was das Zeug hält. Uah, was für ein komisches Gefühl! Es schmeckt äußerst gewöhnungsbedürftig und nun bildet sich auch noch Schaum vor meinem Mund.

Ich betrachte mich im Spiegel. An diesen Anblick werde ich mich bestimmt nicht gewöhnen: Winston als Mensch. Allerdings scheinen Kira und ich die gleiche Augenfarbe zu haben. Zumindest kommt mir das Grün, was mir hier aus dem Spiegel entgegenblickt, sehr vertraut vor. Es ist immerhin eine Farbe, die ich auch als Kater ganz gut erkennen konnte. Irgendwie beruhigt mich das ein bisschen.

»He, Kira, du hast ja auch grüne Augen. Das war mir bisher gar nicht so klar. Aber anscheinend kann ich als Mensch Farben deutlich besser voneinander unterscheiden.«

Kira miaut erstaunt.

»Grüne Augen? Das gibt’s ja gar nicht!«

»Wieso?«

»Na, ich habe eigentlich gar keine grünen Augen. Sondern blaue.« Kira hüpft auf meine Schulter und starrt in den Spiegel. In diesem Moment sehe ich es auch: Kater Winston hat auf einmal blaue Augen. Und ich als Kira grüne. Wir haben also nicht nur unser Wesen, sondern auch unsere Augenfarbe getauscht!

»Auweia!«, maunzt Kira. »Wenn das meine Mutter sieht – die flippt garantiert völlig aus und denkt, das hätte ich extra gemacht. Mit Kontaktlinsen oder so. Und dabei ist sie schon echt sauer, wenn ich mich mal schminken will. Also, das darf sie nicht mitkriegen, sonst gibt’s Ärger, verstanden?«

Äh, ich hab’s gehört. Verstanden habe ich es allerdings nicht. Wie soll ich denn verhindern, dass mir Anna in die Augen schaut? Kira scheint mir meine Zweifel anzumerken.

»Da musst du dir eben etwas einfallen lassen. Wir hatten gestern sowieso ziemlich Stress. Wenn du also so tust, als wärst du immer noch beleidigt, und ihr aus dem Weg gehst, wird sie das nicht wundern. Mach ich meistens so. Ist ja nur für kurze Zeit. Bestimmt tauschen wir bald zurück.«

Kiras Optimismus in allen Ehren – aber das mit dem Zurücktauschen scheint mir noch keine klare Sache zu sein.

»Wieso bist du dir da so sicher? Ich habe nicht die geringste Idee, wie wir das bewerkstelligen könnten.«

Kira seufzt.

»Uns wird schon irgendetwas einfallen. Vorher müssen wir nur verhindern, dass Mama davon Wind bekommt und Stress macht. Es wird nämlich garantiert schwieriger, eine Lösung zu finden, wenn sie uns erst mal auf Schritt und Tritt folgt. Das siehst du doch auch so, oder?«

Ich nicke langsam. Gut, das leuchtet natürlich ein. Trotzdem: Anna aus dem Weg zu gehen, wird nicht so einfach werden. Wenn ich das in den letzten Wochen richtig beobachtet habe, passt sie immer ziemlich gut auf ihre Tochter auf.

Es klopft wieder an die Badezimmertür.

»Kira, was ist denn heute los mit dir?«

»Ich komm sofort!« Bei meinem Fressnapf, ich werde noch irre hier! »Also gut, ich geh da gleich raus. Aber ich garantiere für nichts! Ich weiß nicht, was es heißt, ein Mensch zu sein. Trotzdem werde ich mir Mühe geben!« Noch mal tief durchatmen, dann öffne ich die Tür und verlasse das Bad. Anna steht im Flur und guckt vorwurfsvoll.

»Da bin ich schon!«, murmle ich und blicke dabei zu Boden.

»Schon ist gut! Los, zieh dich schnell an, sonst schaffst du es nicht mehr!«

Zehn Minuten später sitze ich mit Anna am Frühstückstisch und versuche, so lässig wie möglich mein Brötchen zu essen. Erschwert wird das Ganze dadurch, dass mich Anna unablässig anstarrt. Ich räuspere mich schließlich.

»Stimmt was nicht, Mama?« Also, an meiner Kleidung kann es eindeutig nicht liegen. Die Auswahl hat Kira getroffen, indem sie in meinem – oder besser: ihrem – Kleiderschrank herumgesprungen ist und die passenden Teile auf den Boden geworfen hat. Dabei ist ihr sogar eine richtig gute Idee wegen der falschen Augenfarbe gekommen.

Anna mustert mich weiterhin durchdringend.

»Nein, es ist alles in Ordnung. Ich frage mich nur, warum in aller Welt du hier in der Wohnung morgens um halb acht eine Sonnenbrille zum Frühstück trägst.«

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