Ganz so, wie der Steuermann vorausgesagt hatte, begann sich das Wetter bald nach Mitternacht schnell zu verschlechtern. Der Wind nahm an Stärke zu, blieb aber heiß und feucht, und als Mond und Sterne hinter tiefhängenden, schnell vor dem Wind treibenden Wolken verschwanden, bereitete sich die Tempest auf ihren Kampf mit dem Sturm vor.
Selbst Bolitho fand das Erlebnis gespenstisch. Nach Hitze und gleißender Sonne, nach langsamem und geduldigem Kreuzen gegen wenig Wind, wirkten nun diese gewaltsamen Bewegungen und das überlaute Dröhnen von Sturm und Wellen unnatürlich. Ihre Welt war wieder geschrumpft, beschränkte sich auf vertraute Gegenstände und Haltepunkte an Deck, während das Wasser jenseits des Schanzkleides brodelte wie in einem riesigen Kessel, ehe es in der alles einhüllenden Dunkelheit verschwand. Bolitho fand reichlich Zeit, die Männer zu bedauern, die hoch oben auf den bebenden Rahen und in den Wanten arbeiteten. Gelegentlich, bei einem kurzen Nachlassen des schauerlich stöhnenden Windes, hörte er die Männer sich schreiend und mit verzerrten Geisterstimmen verständigen. Herrick taumelte auf dem schrägliegenden Achterdeck heran und rief:»Alles dicht, Sir!«Er winkte mit einem Arm, was im fliegenden Gischt aber kaum zu erkennen war.»Wenn alles hält, sollten wir das Wetter gut überstehen. «Er duckte sich fluchend, als eine schäumende See sich in Luv über den Finknetzen brach und alles in Reichweite durchnäßte.»Bei allem Respekt vor dem toten Captain Cook, Sir, aber ich finde, es war ein Irrtum von ihm, diesen Archipel >freundlich< zu nennen. Gott verdamme diese Inseln, würde ich sagen.»
Bolitho kämpfte sich nach achtern zu Lakey, seinen Maaten und den drei Rudergängern, die sich an das Rad gebunden hatten und in einer dichten, keuchenden Gruppe auf und nieder schwankten. Er blickte auf den Kompaß, der im Licht seiner kleinen Lampe unnatürlich hell erschien, und versuchte, nicht daran zu denken, was diese Verzögerung bedeuten konnte. Er hielt sich sein stampfendes und rollendes Schiff vor Augen, dessen Spieren und Tauwerk stärkstem Druck ausgesetzt waren. Er hätte vor dem Sturm herlaufen und damit selbst jetzt noch dem Schlimmsten ausweichen können. Doch wenn der Wind weiter an Stärke zunahm, konnte die Tempest viele Meilen nach Norden verschlagen werden; dann bestand nur noch wenig Hoffnung, die Insel rechtzeitig wieder zu erreichen. Auf diese heftigen Tropenstürme folgten häufig anhaltende Windstillen, und dann hatten sie keine Aussicht auf eine schnelle Rückkehr. Im Augenblick lag das Schiff jedenfalls so gut am Wind, wie erwartet werden durfte: nur unter dem gerefften und ständig beobachteten Großsegel beigedreht, trieb sie wie ein schwankender, glänzender Wal im Wasser.
Er hörte das gelegentliche Rasseln der Pumpen, wußte aber, daß sie nur übergenommenes Spritzwasser lenzten, das in Luv über Deck fegte und wie Brandung das Batteriedeck entlangdonnerte, ehe ein Teil davon seinen Weg unter Deck fand. Jede andere Fregatte, die Bolitho kannte, hätte bei dieser See schwer zu kämpfen gehabt, und ihre Pumpen wären doppelt bemannt und während jeder knochenzermürbenden Minute in Betrieb gewesen. Die Tempest aber war bei all ihrer Schwerfälligkeit so dicht wie ein Pulverfaß, und ihre starken Teakholzplanken ließen kaum einen Tropfen durchsickern.
Bolitho beobachtete, wie das Wasser nach Lee davongurgelte, sich an jedem festgezurrten Geschütz brach, bereit, jeden spuckenden, halbblinden Seemann zu packen und bewußtlos in die Speigatten zu schleudern. Er packte das Netzwerk und versuchte nachzudenken, obwohl er von Seegang und Wind halb benommen war. Die Eurotas mußte sicher an ihrem geschützten Ankerplatz liegen. Nur wenn ihr Anker nicht hielt, konnte sie abtreiben und selbst dort zerschellen.
Aber angenommen, daß er sich doch irrte? Daß Keen Viola mißverstanden hatte, oder daß er es erfunden hatte, nur um ihm eine Freude zu machen? Vielleicht hatte sie ihre Nachricht sarkastisch gemeint, was nur er verstehen konnte, damit er sich bei einer Wiederbegegnung zurückhalten und ihr nicht nähertreten sollte.
Oder vielleicht wollte sie ihn auch nur sehen und glaubte, eine solche Botschaft würde ihn zu ihr zurückbringen? Er schob sich das Haar aus den Augen, in die der sprühende Gischt wie Pfeile durch die Webeleinen der Besanwanten schoß.
Nur wenn er sich in Viola nicht täuschte, war auch sein
Urteil über die Eurotas richtig.
Er bemerkte, daß Herrick neben ihm auftauchte.
«Mr. Lakey verpfändet sein Wort, daß es bis Mittag so bleiben wird, Sir!«Herrick wartete und blinzelte in die
Dunkelheit.»Aber wenigstens können wir dann sehen, wo wir sind. Ich habe den Ausguck verdreifacht, denn wir treiben weiter ab, als hier ratsam ist. «Er war heiser vom
Schreien der Befehle.»Vielleicht hätten wir an die Eurotas herangehen und sie entern sollen, und zum Teufel mit dem Wetter!«Er dachte nur laut, aber es klang nach Kritik.»Jetzt erscheint mir nichts mehr sicher.»
Bolitho entgegnete:»Wenn ich recht habe, Thomas, dann wären beide Schiffe in Gefahr gewesen. Die Passagiere, die Deportierten, und wer weiß, wer noch — sie wären bei dem Angriff getötet worden.»
Herrick wischte sich mit dem Ärmel über den Mund.»Ja, das stimmt wohl. Ich vermute, daß die Deportierten jede Beherrschung verloren, als das Schiff auflief, und dann die Macht an sich rissen. «Er drehte sich um und wartete auf Bolithos Meinung.
«Falls das Schiff überhaupt auflief. An dem allen stimmt etwas nicht, Thomas.»
Starling, einer der Steuermannsmaaten am Kompaß, rief:»Oben ist was weggeflogen, Sir!»
Als Bestätigung für seine Warnung polterten zwei Blöcke und etwa fünfzig Fuß Tauwerk wie eine zweiköpfige Schlange auf das Achterdeck herab. Starling rief schon nach zusätzlichen Leuten, um in die trügerischen Wanten zu klettern und den Schaden zu beheben. Er war zwar geringfügig, aber wenn er unbeachtet blieb, konnte daraus Schlimmeres entstehen. Bolitho hörte dem Steuermannsmaat anerkennend zu. Starling war mit seinem Kutter im letztmöglichen Augenblick an Bord genommen worden, damit sein Lotgast dem Schiff half, so schnell wie möglich von den Riffen klarzukommen. Ein Fehlgriff oder einer, der die Nerven verlor, und der Kutter wäre vielleicht zurückgeblieben. Und diesen Seegang hätte er unmöglich abwettern können. Dennoch hatte Starling, der als Trommeljunge bei einem Infantrieregiment angefangen hatte, ehe er dort davonlief, weil er lieber auf einem Schiff des Königs dienen wollte, wenig Aufregung verraten, als er auf dem Achterdeck seine Meldung machte.
«Gerade noch rechtzeitig, Sir«, war alles, was er gesagt hatte. Und jetzt war er dabei, die Wache auf dem Achterdeck einzuweisen, als ob nichts Ungewöhnliches geschehen wäre.
Bolitho sah die Beine und die ausgefranste Hose eines Seemannes hastig auf entern. Seine nackten Füße bewegten sich schnell wie Paddel. Er erkannte in dem Mann Jenner, ehe er im Gewirr der Takelage verschwand. Ein weiteres Beispiel für menschliches Treibgut: Jenner war Amerikaner, der in der revolutionären Marine gegen die Briten gekämpft hatte. Ein guter Seemann, wenn auch ein Träumer, der sich seinen alten Feinden angeschlossen hatte, als langweile ihn bereits die Unabhängigkeit, die zu erringen er mitgeholfen hatte.
Unmittelbar vor dem Achterdeck war ein weiteres Rätsel: ein riesiger Neger, der sich vor den Seen duckte oder geschickt beiseite sprang, wenn sie die Zwölfpfünder überfluteten. Man hatte ihn halbtot in einem treibenden Langboot aufgefunden, kurz nachdem Bolitho das Kommando übernommen hatte. Er war nackt und von Sonne und Durst böse zugerichtet. Schlimmer noch: als man ihn nach unten zum Schiffsarzt gebracht hatte, hatte Gwyther in seiner präzisen Art gemeldet:»Der Mann hat keine Zunge. Sie ist ihm abgeschnitten worden.»
In dem Langboot hatte man sonst nur noch eine Metallscheibe gefunden, mit dem eingraviertan Namen >Orlando<. Der Name eines Schiffes, eines Menschen, eines Stücks der Ladung? Niemand wußte es. Bolitho hatte den Verdacht, daß das Boot von einem Sklavenschiff stammte und der große Neger entweder zu fliehen versucht hatte oder als Warnung für andere ausgesetzt worden war.
Doch als die Tempest Land erreichte, wollte der Schiffbrüchige nicht von Bord, trotz allem, was ihm in jeder denkbaren Sprache gesagt wurde. So war er unter seinem neuen Namen Orlando in die Musterrolle eingetragen und unter die Besatzung aufgenommen worden. Da der Amerikaner Jenner besser als die meisten anderen mit Orlando zurechtkam, hatte Herrick die beiden der Achterwache zugeteilt. Der Besanmast war mit seiner Takelage der bei weitem unkomplizierteste auf einem Rahsegler, und Orlandos Stummheit und Jenners
Verträumtheit, die selbst die Berührung mit dem Tampen des Bootsmanns nicht hatte heilen können, richteten dort noch am wenigsten Schaden an.
Auch das war wieder typisch für Herrick. Er war stets um seine Leute besorgt, und seine Ideale, das eigensinnige Festhalten an seinem Rechtsgefühl, hatten ihn mehr als einmal in wirkliche Gefahr gebracht. Bolitho wünschte Herrick schon lange die Beförderung, die er in so hohem Maß verdiente. Doch der Friede, die vielen arbeitslosen Seeleute, hatten für ihn jede Chance blockiert. Herrick hatte Glück, daß er überhaupt wieder eingesetzt worden war. Im Gegensatz zu Bolitho stammte er aus einer armen Familie. Für das, was er heute besaß, hatte er schwer gearbeitet. Daß er die See liebte, war ein mühsam erworbener Bonus.
«Sir! Das Fockbramsegel reißt sich los!»
Bolitho wischte sich das Salz aus den Augen und versuchte,
in die Takelage hinaufzublicken. Dann hörte er es, das unregelmäßige Knattern und Schlagen von Segeltuch, das sich von der Rah löste, sich mit Wind füllte und die
Trimmung des Schiffes zu gefährden drohte.
Herrick legte die Hände als Trichter um den Mund.»Mr.
Bor- lase! Schicken Sie Ihre Leute hinauf! Mr. Jury, klar zum Stagsegel setzen!»
Keuchend drehte er sich um.»Wenn das Bramsegel nicht in Fetzen davonfliegt, sondern sich füllt, brauchen wir das Stagsegel, um die Balance zu behalten. «Er grinste.»Mein Gott, wie schnell man denken kann, wenn es drauf ankommt.»
Bolitho nickte. Herrick hatte prompt und richtig reagiert, ohne erst auf einen Befehl zu warten. Wenn das Segel völlig lose kam, was immer noch geschehen konnte, ehe sich die Matrosen zum Vortopp hinaufgekämpft hatten, würde der Bug herumgezogen werden, und damit konnte sich ihre Lage in dem noch zunehmenden Sturm dramatisch verschlechtern.
Er sah, wie der Bootsmann seine Leute unter dem Großmast versammelte und wie andere durch hüfttiefes Wasser auf ihre Stationen wateten. Strenge Ausbildung und eine scharfe, manchmal brutale Disziplin hatten es sie gelehrt. Noch bei totaler Finsternis und tobendem Sturm fanden sie sich zurecht wie Blinde in der vertrauten Enge ihrer Hütte. Auch Borlase war aktiv. Seine Stimme übertönte das Brausen des Windes, als er seine Männer am Vormast zur Eile trieb. Wenn er die Stimme hob, klang sie schrill und durchdringend, und Bolitho wußte, daß die Midshipmen hinter seinem Rücken darüber wenig schmeichelhafte Bemerkungen machten. Merkwürdig, wie wenige je an das Skylight auf dem Achterdeck dachten. Die Stimmen der wachhabenden Offiziere waren für den Kapitän leicht zu verstehen. Bolitho hatte seine Lektion als Midshipman frühzeitig gelernt, als ihm sein damaliger Kapitän durch das Skylight zurief:»Noch mal! Ich habe nicht genau verstanden. Wo, sagten Sie, hätten Sie dieses Mädchen kennengelernt?»
Dies alles und vieles mehr hatte er versucht, Viola Raymond zu schildern, als sie Passagier auf seinem Schiff gewesen war. Vielleicht rührte daher seine quälende Sorge um sie, die mit jeder Stunde, die verstrich, stärker wurde.»Anscheinend gibt es Probleme, Sir. «Herrick beugte sich über die Reling. Über seinen Rücken und an seinen Beinen lief das Wasser hinunter. Er schrie:»Was ist los?«Borlase kam nach achtern. Mühsam hielt er sich trotz der starken Schräglage aufrecht.
«Es geht um Mr. Romney, Sir! Er ist oben auf der Bramrah. «Noch im Tosen des Windes klang seine Stimme gereizt.»Die Lage ist auch ohne ihn schon riskant genug… «Bolitho schnitt ihm das Wort ab.»Schicken Sie einen zuverlässigen Mann hinauf, dem er vertraut!«Er sah Herrick an, sein Ton war bitter.»Midshipman Romney wird es wohl nie zum Leutnant bringen, aber er gibt sich Mühe für zehn. Ich will nicht, daß er abstürzt, nur weil Mr. Borlase nicht fähig war, die Gefahr vorauszusehen. «Er wandte sich abrupt um und versuchte, sich ein Bild von der Insel zu machen, ihrer Position und der Entfernung, die noch vor ihnen lag. Was er tun und was er vermeiden sollte, wenn es soweit war. Doch er hatte nur den Jungen vor Augen, der sich mehr als dreißig Meter über Deck verzweifelt an die Rah klammerte, die riesige Masse des vom Wind steifen Segels vor sich, das ihn hinunter in den sicheren Tod zu schleudern drohte. Ein schnelles Ende, wenn er auf Deck aufschlug; etwas langsamer, wenn er in die See fallen sollte. Dann mochte er noch lange genug leben, um das Schiff in der Finsternis verschwinden zu sehen. Denn jetzt konnte kein Boot zu Wasser gelassen werden, und die Geschwindigkeit der Tempest war zu hoch für jeden Schwimmer.
Und Bolitho dachte auch an den Hai, der sie an jedem neu anbrechenden Tag begrüßte.
Midshipman Swift platzte heraus:»Lassen Sie mich nach oben, Sir. «Er wurde unsicher, als sich Bolitho und Herrick ihm zuwandten.»Mir wird er vertrauen. Und außerdem. «Er zögerte.»Ich habe ihm versprochen, ich würde auf ihn aufpassen.»
Sie alle blickten nach vorn, als jemand schrie:»Jetzt fällt er!»
Ein fahler Schatten stürzte durch das Tauwerk und schlug an der Leeseite dicht neben einem Geschütz mit einem Übelkeit erregenden Klatschen auf. Bolitho sah, wie der Körper von einer übers Vorschiff brechenden See nach achtern geschwemmt wurde.
Ein paar Sekunden sagte niemand ein Wort. Nur das Brausen des Sturmes fegte wie eine brutale Fanfare des Triumphs über sie hinweg.
Midshipman Swift sagte mit belegter Stimme:»Es… Es tut mir leid, Sir. Ich hätte…«Dann deutete er erregt nach vorn. Wie eine Marionette schwankend, wurde Midshipman Romney an einer Gording schnell vom Vormast abgefiert. Mehrere Matrosen liefen herbei, um ihn aufzufangen, und legten ihn aufs Deck. Schultz, der Bootsmann, der hinaufgeschickt worden war, um ihm oben auf der Rah zu helfen, kam nach achtern geeilt und blieb mit aufwärts gewandtem Gesicht unter dem Achterdeck stehen. Mit seiner rauhen, gutturalen Stimme meldete er:»Mr. Romney ist in Sicherheit, Sir. «Wie von Schmerz gepeinigt, bleckte er die Zähne, als wieder eine See über die Netze hereinbrach und ihn von Kopf bis Fuß durchnäßte.»Er hatte versucht, einen Mann vor dem Abstürzen zu bewahren. «Benommen schüttelte er den großen Kopf.»Er war zu schwer für ihn. Beinahe wären beide von oben gekommen.«»Die Morgendämmerung, Sir!«Lakey streifte Wasser von seinem Wettermantel.»Der junge Mr. Romney hat Glück, daß er sie miterlebt.»
Bolitho nickte.»Wer war der Abgestürzte?»
«Tait, Sir«, antwortete der Bootsmann. Er hob die Schultern.
«Ein guter Mann.»
Bis die Matrosen oben auf dem Mast schließlich Herr des zerfetzten Segels geworden und wieder an Deck waren, konnte man die See zu beiden Seiten des Schiffes als wild tobendes Panorama brechender Wellenkämme und dunkler Täler erkennen.
Herrick seufzte.»Und man hofft immer, daß man durchkommt, ohne einen Mann zu verlieren«, sagte er. Bolitho sah Allday durch den Niedergang heraufkommen.»Nur zu wahr«, stimmte er zu.
«Ich bringe Ihnen etwas zur Aufmunterung«, sagte Allday. Es war Brandy, und Bolitho spürte, wie dessen Feuer in ihm brannte.
Ein Matrose bemerkte:»Der Hai ist immer noch hinter uns her, dieses verfluchte Biest.»
Ein anderer antwortete:»Der alte Jini Tait war ein fetter Brok-ken für ihn.»
Bolitho blickte zu Herrick hinüber. Es bedurfte keiner Worte. Das Leben auf See war hart, zu hart vielleicht, um Zeichen der Schwäche zuzulassen, selbst wenn ein guter Freund umgekommen war.
Lakey schob sein Teleskop mit einem Schnappen zusammen.
«Ich weiß jetzt, wo wir sind, Sir. «Es klang zufrieden, unberührt von dem Drama, das sie gerade erlebt hatten.»Bald kann ich Ihnen unsere Position angeben. «Er zog seine Uhr, die neben der Bolithos wie ein unförmiger Chronometer ausgesehen hätte.»Ja, das ist zu schaffen. «Bolitho wandte sich ab und suchte nach der winzigen Insel, die Lakey als Landmarke bezeichnet hatte. Dann sah er Romney nach achtern kommen; blaß und benommen, begriff er anscheinend nicht, warum die durchnäßten und unrasierten Männer ihm grinsend zunickten. Bolitho blickte zu ihm hinunter.»Das haben Sie gut gemacht, Mr. Romney.»
Der Midshipman wäre gefallen, wenn Orlandos hochragende Gestalt, vor Nässe wie Kohle glänzend, ihn nicht aufgefangen und unter Deck getragen hätte. Sobald er sich erholt hatte, überlegte Bolitho, mochte sich der Junge an seinem verzweifelten Rettungsversuch innerlich aufrichten. Er konnte für ihn von entscheidender Bedeutung sein.
Herrick beobachtete Bolitho verstohlen. Jeder an Bord hatte seine Aufgabe zu erfüllen, je nach Rang oder Station mehr oder minder beschwerlich, doch alles wurde auf dem Achterdeck entschieden, von dem einen Mann, der jetzt, einen verbeulten Becher in der Hand, mit der anderen an den Finknetzen Halt suchte. Bolithos schwarzes Haar war vom Salzwasser durchnäßt und klebrig, sein Hemd mit Teer- und Ölflecken übersät, dennoch stand er dort, als trüge er seine Paradeuniform.
Unvermittelt sagte Bolitho:»Der Koch wird Stunden brauchen, bis er das Feuer in Gang bringt, Mr. Herrick. «Er mußte die Stimme heben, denn das Brausen des Windes war mit zunehmender Helligkeit lauter geworden.»Veranlassen Sie Mr. Bynoe, eine Portion Rum oder Gin an die Leute auszugeben. «Er begegnete Herricks Blick, und seine grauen Augen leuchteten plötzlich.»Dann werden wir entscheiden, was zu tun ist.»
Die Hitze in der Kajüte war überwältigend, und Bolitho brauchte seine ganze Kraft, um die aufsteigende Übelkeit zu beherrschen.
Den ganzen Tag über, während die Tempest langsam und behutsam gegen Wind und Wellen ankreuzte und sich ihren Weg zwischen Inseln, Riffen und Untiefen suchte, hatte er seine Überlegungen und Pläne wieder und wieder überprüft. Gegen Mittag hatte er erkannt, daß sie den Kampf gegen das Wetter gewannen, und den Gesichtern und Stimmen seiner Leute entnommen, daß sie stolz auf ihre Leistung waren. Merkwürdig, wie schnell Menschen sich wandeln konnten.
Monatelang, manchmal jahrelang zusammengepfercht, belauerten sie sich gegenseitig, prangerten ihre Mängel und Versager unbarmherzig an. Diese Auseinandersetzungen konnten bis zu Blutvergießen ausarten und harte Strafen nach sich ziehen. Doch wenn sie ein gemeinsames Ziel vor Augen hatten, konnten sie auch so geschlossen wie ein einziger Organismus handeln.
Noch während der Wind Gischt von den brechenden Wellenkämmen fegte, brach die Sonne wieder durch und strahlte mit vertrauter Intensität auf sie herab. Es hatte den Anschein, als sei das Schiff in Brand geraten und wolle für sie alle zum Scheiterhaufen werden. Denn aus jeder Planke und Bohle, jeder Spiere und Rah stieg Dampf in großen Schwaden auf, selbst von den nackten Oberkörpern der Matrosen, die sich abmühten, die Sturmschäden zu beheben. Dann wurde es wieder Nacht, aber diese war ganz anders. Der Mond breitete vor den großen Kajütfenstern eine Bahn aus Licht auf das Meer, das sich unter dem schwachen Wind nur noch leicht kräuselte. Überall sonst schimmerte die See dunkel wie schwarzes, flüssiges Glas. Aber es war heiß, und in der überfüllten Kajüte konnte man nur schwer den Gedanken an kühles frisches Wasser unterdrücken, den Wunsch, Krug um Krug in sich hineinzuschütten.
Bolitho behielt die Flasche mit dem schalen Wein im Auge, als sie die Runde machte. Herrick, Keen, Lakey und Captain Prideaux füllten ihre Gläser, blickten auf die ausgebreitete Karte nieder, stellten sich im stillen Fragen, sagten wenig. Ein schwerer Sturm zehrte an den Kräften wie ein körperlicher Kampf, dachte Bolitho. Wenn er vorbei war, wollte man nur noch in eine Ecke kriechen und seine Ruhe haben. Er sagte:»Wir stehen jetzt vor der Nordwestküste der Insel. Ich wollte keine frühere Annäherung, weil ich Beobachter auf den Bergen befürchte. Die Insel ist an dieser Stelle nur eine Meile breit. Unsere Annäherung wäre leicht zu beobachten. «Er machte eine Pause und lauschte den Schritten Borlases oben an Deck, der so dicht an das Skylight herankam, wie er nur wagte. Bolitho wußte, daß Herrick ihn beobachtete, wußte sogar,
was er dachte, was er sagen wollte.
Gelassen fuhr er fort:»Mr. Lakey ist sicher, daß wir ohne große Schwierigkeiten eine kleine Bucht erreichen können. Der Mond wird uns dabei helfen, und sobald wir dicht unter Land sind, wird es uns einen gewissen Schutz vor dem Wind bieten. «Er sah sich am Tisch um.»Ich beabsichtige, eine kleine, aber gut bewaffnete Gruppe an Land zu setzen. Es ist bereits alles angeordnet. «Er sah Herrick nicken.»Das Wichtigste kommt danach.»
Prideaux sagte schroff:»Ich halte es für besser, alle Seesoldaten überzusetzen, Sir. Eine Demonstration der Stärke bewirkt gewöhnlich Wunder. «Bolitho sah ihn an. Prideaux war sehr entspannt und genoß die Situation. Offenkundig hielt er diese ganze Diskussion für überflüssig und unsinnig, schien zu meinen, daß der Kommandant weder seinen Plan noch dessen Ausführung überblickte.
Bolitho erwiderte, ohne sich gezielt an jemanden zu wenden:»Wir nehmen dreißig Mann, und die ausgesuchten Marineinfanteristen sollten Ihre besten Scharfschützen sein, Captain Prideaux. Einer davon wird der Sergeant sein, der sechs weitere bestimmt. Ich will unsere Stärke nicht demonstrieren. Wenn meine Befürchtungen zutreffen, werden wir schnell handeln müssen — und verstohlen. «Es klopfte, und der Midshipman der Wache trat ins Lampenlicht.
«Mr. Borlase meldet mit Respekt, Sir, daß die Boote bereit sind, zu Wasser gelassen zu werden. «Seine Augen wanderten über die Versammelten, während er sprach. Midshipman Pyper war siebzehn und sah sich vermutlich schon als Kapitän.
«Ist gut. «Bolitho beugte sich über die Karte, wohl wissend, daß der Kreis jede seiner Bewegungen beobachtete.»Sobald das Landekommando abgesetzt ist, kehren die Boote zum Schiff zurück. Hier sind mehr Späher zu erwarten, als mir lieb sind, und ich möchte keine Hinweise auf unser Vorhaben geben. Die Tempest segelt dann nach Süden und um die südliche Hauptinsel herum. Mr. Herrick weiß, was dort von Ihnen erwartet wird, und wird zur gegebenen Zeit seine Befehle erteilen. Der Landetrupp teilt sich; die eine Hälfte untersteht Mr. Keen, die andere folgt mir. Wir werden die Insel in Richtung der Bucht überqueren. «Er zog seine Uhr und klappte den Deckel auf: zwei Uhr morgens. Die Dämmerung brach in diesen Gewässern früh und schnell herein. Jetzt blieb ihm keine Zeit mehr für Zweifel.»Danach, meine Herren, werden wir die weiteren Schritte bedenken.»
Alle erhoben sich, und Bolitho fügte hinzu:»Und erklären Sie den Leuten genau, was wir unternehmen. Schärfen Sie ihnen ein, daß der Schutz von Menschenleben ebensosehr Aufgabe der Marine ist, wie in der Schlacht zu töten!«Sie gingen zur Tür, in Gedanken schon bei ihren eigenen Aufgaben in dem Unternehmen. Nur Herrick blieb zurück und ergriff das Wort, wie Bolitho es von ihm erwartet hatte.»Meiner Ansicht nach sollte ich das Kommando an Land übernehmen, Sir. «Es klang sehr ruhig, aber auch entschlossen.»Es ist mein Recht, und überdies… «»Überdies halten Sie es für tollkühn, daß ich selbst gehe, Thomas, wie?«Bolitho lächelte ernst, als Allday aus dem Schatten trat und den alten Degen von dem Balken über der Tür herunternahm.»Es ist aber meine Entscheidung. Viele von Ihnen halten sie wahrscheinlich für falsch, bei manchem habe selbst ich meine Zweifel. «Er wartete, bis Allday ihm den Degen umgegürtet hatte.»Aber ich werde ruhiger sein, wenn ich selbst in dem von mir angeordneten Chaos stehe, als mich hier an Bord zu sorgen, daß Sie durch meine Schuld fallen könnten. «Er hob die Hand.»Es ist entschieden, Thomas. Ich weiß, daß Sie leidenschaftlich gern diskutieren, aber warten wir damit, bis ich zurückkomme. «Er klopfte Herrick auf die Schulter.»Und jetzt verabschieden wir uns.»
An Deck war die Luft etwas frischer. Bolitho ging zur Steuerbordreling und sah auf die Leute nieder, die unten eingeteilt wurden und deren Bewaffnung und magere Verpflegung Bootsmann Jury überprüfte. Bolitho bemühte sich um Gelassenheit, versuchte, jeden einzelnen dieser schweigsamen Männer zu erkennen. Sobald die Boote vom Strand abgelegt hatten, waren sie völlig sich selbst überlassen. Auf der Insel gab es kein Wasser, wie Lakey bereits festgestellt hatte. Und sie waren nur eine Handvoll bescheiden ausgerüsteter Männer, die einem unbekannten Feind gegenüberstanden. Er hörte ein Flüstern:»Donnerwetter, der Käpt'n geht selbst mit. Da muß es wichtig sein!»
Ein anderer entgegnete rauh:»Wird sich nur mal die Beine vertreten wollen.»
«Ruhe an Deck!«Das war Jury.
Borlase griff grüßend an seinen Hut, im Mondlicht wirkte er riesig.»Alles klar, Sir.»
Bolitho blickte Herrick an.»Lassen Sie beidrehen. Und dann die Boote zu Wasser. «Er berührte den Degen an seiner Seite.
Mit laut schlagenden Segeln glitt die Tempest über den Silberpfad aus Mondlicht, während die drei Boote gefiert wurden und die Seeleute und Marineinfanteristen an Bord kletterten.
Unter normalen Umständen hätten zwei Boote genügt, aber da zusätzliche Leute erforderlich waren, um sie zum Schiff zurückzurudern, hätten zwei überbesetzte Boote eine volle Stunde länger gebraucht.
Bolitho ging in Gedanken alles noch ein letztes Mal durch. Leutnant Keen, zweiundzwanzig Jahre alt, war nach ihm der Ranghöchste. Steuermannsmaat James Ross, ein kräftig gebauter, untersetzter Schotte mit dunkelrotem Haar, brachte für das Unternehmen nicht nur seine gewichtige Gestalt, sondern auch viel Erfahrung mit. Sergeant Quare von den Seesoldaten und seine sechs Scharfschützen, die alle ohne ihre roten Uniformröcke merkwürdig fremd wirkten, preßten ihre langen Musketen wie Hinterwäldler fest an sich. Mid-shipmen Swift und Miller und ein Bootmannsmaat waren die weiteren führenden Kräfte der Truppe. Bolitho atmete tief ein.»Lassen Sie ablegen, Mr. Ross. «Der Steuermannsmaat hob die Faust, und der Kutter begann, sich langsam vom Schiff zu entfernen. Von Deck aus wirkte er überladen. Danach folgte die Barkasse, das größte Langboot, das sich langsam vom Rumpf löste, bis die Strömung es aus dem Sog des Schiffes trieb. Bolitho sah
Keen hochaufgerichtet im Heck stehen, sein Hemd reflektierte das Mondlicht. Allday befand sich bereits in der Kommandantengig, wie auch Midshipman Swift und der Rest der letzten Gruppe.
Bolitho griff nach Herricks Arm.»Wenn wir das hinter uns haben, bringen Sie vielleicht mehr Verständnis für Kapitän Cooks Bezeichnung der Inseln auf. «Er lächelte grimmig.»Seien Sie auf der Hut, Thomas. «Dann ließ er sich an der Bordwand hinunter und sprang in die Gig. Allday befahl:»Ablegen! Riemen bei! Rudert an!«Die Gig stampfte heftig in der Dünung, und sobald sie sich vom Schiff entfernt hatten, konnte Bolitho das Brausen der Brandung hören.
Er blickte nach vorn und beobachtete das regelmäßige Heben und Senken der Riemen. Bei dem Gewirr von Armen und Beinen fiel gleichmäßiges Rudern nicht leicht. Er bemerkte, daß seine Besatzung ihre karierten Hemden trug, wie normalerweise bei seinen Dienstfahrten. Aber dies hier war keineswegs normal, und er fühlte sich gedrängt, ihnen zu danken. Doch niemand sprach. Das einzige Geräusch neben der See war das stetige Knarren der Riemen.
Als er zurückblickte, war die Tempest nur mehr ein hoher Schatten, dessen killende Marssegel im Silberlicht glänzten. Sobald die Boote wieder sicher an Bord waren, würde das Schiff jeden Fetzen Segel setzen, um sich so schnell wie möglich von der Küste zu entfernen. Eine abgeblendete Laterne blinkte von dem führenden Boot herüber: Ross hatte die ersten Felsen ausgemacht. Sie mußten ihm durch diese Durchfahrt folgen und dann noch durch eine zweite. Von da an war es hoffentlich nur noch eine Kabellänge bis zum Strand.
«Bleiben Sie genau auf Kurs, Allday. Jetzt kommt das schlimmste Stück. «Bolitho spürte, wie Bewegung die Leute im Boot durchlief. Aber es war am besten, wenn jeder das ganze Risiko kannte, und nicht nur ein paar ausgesuchte Leute.
Die Geräusche der See änderten sich wieder. Die starke Brandung am äußeren Riff rauschte etwas gedämpfter, als die drei Boote sich ihren Weg zwischen den hoch aufragenden, vor Nässe glänzenden Felszacken suchten. Kleine Wasserfälle wuchsen zu reißenden Kaskaden an, wenn das ablaufende Wasser durch die Barriere zurückflutete, Tümpel und Teiche bildete und sie ebenso schnell wieder leerte.
Der Buggast meldete:»Strand direkt voraus. «Und nach einer Pause:»Der Kutter ist bereits dort. «Als Allday die Gig durch die letzten verstreuten Felsblöcke manövriert hatte und das schmale Stück Strand vor ihnen ansteuerte, hatte der Kutter schon wieder abgelegt und passierte sie auf seiner Rückfahrt.
Der Bugmann sprang ins Wasser und lenkte das Boot über die seichte Strecke vor dem Strand, dann sprangen weitere Leute über Bord und bremsten watend die Fahrt, um zu verhindern, daß das Boot auf dem Strand querschlug. Bolitho fühlte, wie Allday ihn stützte, als er über den nassen Sand schritt und dann über verstreute Felsbrocken weiter das Ufer hinaufkletterte. Jetzt waren sie von allem abgeschnitten. Und er hatte die Leute hierhergebracht.»Ich übernehme mit meiner Gruppe die Spitze, Mr. Keen. Sie marschieren erst mit uns nach Süden und wenden sich dann nach Westen, sobald wir den Strand hinter uns haben. Viel Glück.»
Mit Allday und Midshipman Swift marschbereit hinter sich, drehte er sich um und blickte den steilen, von der Sonne ausgedörrten Abhang hinauf. Wenn er jemals auf sein Selbstvertrauen angewiesen war, dann jetzt.