«Hier rasten wir. «Bolitho ließ sich auf ein Knie nieder und streifte den Riemen des Fernrohrs von seiner Schulter.»Sergeant Quares Kundschafter müssen gleich zurückkehren.»
Die keuchenden, schwitzenden Seeleute kletterten über den Rand der engen Schlucht und suchten so gut wie möglich Deckung zwischen dem dichten, dornigen Gestrüpp. Die Sonne stand jetzt höher, und die Hitze, die von Hang und
Felsen zurückgestrahlt wurde, war stärker als je zuvor. Bolitho richtete sein Teleskop auf den nächstgelegenen Gipfel der fünf Hügel. Er war abgerundeter als die anderen, so daß er wie ein riesiger Buckel wirkte, der sich von ihm abwandte, der jenseitigen Bucht zu. Bolitho sah ein kurzes Aufblitzen, wahrscheinlich die Reflektion von der Waffe eines Kundschafters, der eine der engen Schluchten durchsuchte.
Sonst regte sich nichts. Alles war wie ausgestorben. Es fiel schwer, zu glauben, daß die Eurotas hinter dem großen Hügel ankerte. Daß sie je dort gewesen war. Midshipman Swift kroch über loses Geröll in seine Nähe, das sonnengebräunte Gesicht glänzend vor Schweiß. Er mochte Swift. Besonders, seit er sich bereiterklärt hatte, im Sturm aufzuentern, um Romney zu helfen. Er hatte angenehme, regelmäßige Gesichtszüge, und sein Haar war von Sonne und Salz so gebleicht, daß seine Mutter ihn bestimmt nicht wiedererkannt hätte. Swift war kaum fünfzehn gewesen, als sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Beim nächstenmal würde er mit einigem Glück Leutnant sein.
Bolitho sagte:»Geben Sie durch nach hinten: jeder soll nur einen Schluck Wasser trinken. Achten Sie darauf, daß sie nicht ihre ganze Ration auf einmal verbrauchen. «Unter dem windzerzausten Haar richtete er sein Glas auf die See hinaus. Kaum zu glauben, daß sie gerade einen Sturm hinter sich gebracht hatten. Wie blau das Wasser leuchtete, auf dem nur Reihen weißer Schaumköpfe den Wind ahnen ließen, der die Tempest jetzt unter Vollzeug nach Süden entführte. Leer erstreckte sich das Meer bis zu den größeren Inseln und schäumte über die langen Barrieren der Riffe, den Tidenstand und einen weiteren Wechsel der Windrichtung anzeigend.
Sergeant Quare drängte sich durch die staubigen Büsche, die Stiefel salz- und sandbedeckt. Der große, kraftvolle Mann war immens stolz auf seine Seesoldaten und das, was sie leisten konnten.
Bolitho nickte ihm zu.»Alles scheint ruhig.»
Quare setzte seine Muskete ab und kniff in der grellen
Sonne die Augen zusammen.
«Noch zwei Stunden, Sir, dann sollten wir etwas sehen. «Er sprach den weichen Dialekt von Devonshire, für Bolitho ein heimatlicher Klang. Quare zögerte.»Natürlich könnte das Schiff auch schon Anker gelichtet haben, Sir.«»Ja.»
Bolitho nahm die Flasche von Allday entgegen und ließ etwas Wasser über seine Zunge rinnen. Abgestanden, wie es aus den Fässern des Schiffes kam, schmeckte es jetzt doch köstlicher als der beste Wein von St. James. Quare richtete sich auf, den Blick auf den gegenüberliegenden Abhang gerichtet.»Dort kommt Blissett, Sir. «Der Kundschafter rannte in Sprüngen den Abhang herunter, scheinbar mühelos. Seine Muskete hatte er hoch erhoben, um zu vermeiden, daß sie irgendwo anstieß. Bolitho wußte einiges über Blissetts Vergangenheit und auch, weshalb Quare ihn zum Kundschafter bestimmt hatte. Der Seesoldat hatte früher auf einem großen Gut in Norfolk als Wildhüter und Meisterschütze ein recht behagliches Leben geführt. Bis er ein Auge auf eine Nichte seines Herrn geworfen hatte. Bolitho vermutete, daß die Angelegenheit wahrscheinlich verwickelter lag, als Quare wußte, aber als Endergebnis war Blissett davongejagt worden und in die Stadt gegangen, um seinen Kummer in Alkohol zu ertränken. Ein Preßkommando saß ebenfalls in dem Gasthaus, und alles weitere geschah mit verzweifelter Zwangsläufigkeit, war aber jetzt Vergangenheit.
Blissett erreichte sie.»Es geht ganz gut weiter, sobald wir erst diesen Hang hinter ans haben, Sir. Die See liegt gleich dahinter, und die Bucht unterhalb dieser Felskuppe. «Dankbar nahm er eine Wasserflasche entgegen. Quare nickte.»Mr. Keens Gruppe wird etwa eine Stunde später eintreffen als wir. Die andere Route ist länger. Trotzdem sollten wir gegen drei Uhr zu ihm stoßen. Was meinst du, Tom?»
Blissett hob die Schultern.»Anzunehmen, Sergeant. In den Schluchten bin ich auf ein paar Feuerstellen gestoßen, aber es waren keine neuen dabei. «Die letzten Worte fügte er hastig hinzu, weil sich einige Matrosen in Hörweite plötzlich beunruhigt aufrichteten.»Hier waren seit langem keine Eingeborenen mehr.»
Bolitho hängte sein Fernrohr wieder um und winkte Swift.»Setzen Sie die Leute in Marsch, gleicher Abstand wie bisher. Sie übernehmen mit zwei Mann die Nachhut und vergewissern sich, daß wir nicht verfolgt werden. «Auf dem von der Sonne ausgedörrten Abhang gab es keine Deckung. Für einen Hinterhalt war diese Stelle ideal. Er spürte die Blicke der Männer auf seinem Rücken. Atemlos und von dem ungewohnten, rauhen Gelände schon müde, würden sie ihn nie wieder respektieren, wenn sich herausstellte, daß er sie zu einer sinnlosen Jagd führte. Er schnallte seinen Gürtel enger. Doch lieber er als Herrick; Herrick hatte um seinetwillen schon genug einstecken müssen.
Bolitho konzentrierte sich auf das Gelände vor ihm. Er ging stetig vor und versuchte dabei, sich die andere Seite des Berges vorzustellen.
Morgen würde die Tempest, wenn der Wind günstig war, wieder die südlichste Landzunge umrunden. Falls dort Wachtposten standen, mußten sie das Schiff sofort sehen. Wichtiger war, daß Bolithos Kundschafter diese Posten entdeckten. Alles sollte ganz natürlich erscheinen. Schließlich verstand sich nicht nur der Anführer der Meuterer aufs Täuschen.
Nach einem so schweren Sturm mochte von einem Schiff des Königs erwartet werden, daß es in die Bucht zurückkehrte, und sei es nur, um sich zu vergewissern, daß die Eurotas unbeschädigt geblieben war. Allday unterbrach seine Gedanken.»Ein Kundschafter gibt Signal, Captain. Ich glaube, er hat die andere Gruppe entdeckt. «Er grinste ungerührt.»Mein Gott, Mr. Keens Leute werden fluchen, wenn sie den Berg sehen, den sie noch erklettern müssen.»
Sergeant Quare verschwand schnell über den Rand einer weiteren Schlucht. Gleich darauf tauchte er an einem geröllbedeckten Abhang wieder auf, während über ihm ein Seesoldat wie ein Taubstummer gestikulierte. Heftig atmend kehrte Quare zurück.»Wir sollen warten, Sir.
Ein Mann von Mr. Keen stößt gleich zu uns. «Er wischte sich über Gesicht und Nacken.»In dem Gelände wird er seine Zeit brauchen.»
Bolithos Gruppe kauerte sich dankbar wieder zwischen das Gestrüpp und wartete auf den Melder. Es dauerte eine ganze Stunde, bis er schließlich aus einer Schlucht auftauchte, offenbar am Rande der Erschöpfung. Es war Bootsmannsmaat Miller, der zwar gewandt bei Sturm an Deck arbeitete oder mit seinen Leuten auf die schwankenden Rahen hinauskletterte, aber den Anforderungen dieser Insel kaum gewachsen war.»Lassen Sie sich Zeit. «Bolitho unterdrückte seine Ungeduld, fragte sich aber besorgt, weshalb Keen ihn geschickt hatte und sie damit auf der schwersten Etappe aufhielt.
Miller schnaufte laut.»Mr. Keens Empfehlung, Sir, und er…«Er schnappte nach Luft wie ein gestrandeter Fisch.»Wir haben Leichen gefunden. «Er deutete in die Richtung.»In einer kleinen Höhle, mit durchschnittenen Kehlen. «Plötzlich sah er aus, als würde ihm bei der Erinnerung übel.»Ich glaube, es waren Offiziere.»
Bolitho beobachtete ihn. Er wollte ihn nicht unterbrechen. Aber Quare fragte schroff:»Du glaubst?«Miller blickte an ihm vorbei.»Ja, George. So was sieht man immer noch. «Ein Schauder überlief ihn.»Mr. Ross meint, daß sie schon seit Tagen tot sind. Sie waren voller Fliegen. Sind es noch.»
Bolitho nickte. Trotz ihres Entsetzens hatten entweder Keen oder Ross klaren Kopf behalten und nicht getan, wozu es jeden gesitteten Menschen trieb: die unbekannten Toten zu bestatten. Aber es waren gar keine Unbekannten. Vermutlich handelte es sich um die Offiziere der Eurotas, die ermordet worden waren, nachdem man sie in die abgelegene Höhle verschleppt hatte. Bolitho fragte sich, ob Keen der gleiche Gedanke gekommen war. Als er dem Mann, den er für den Kapitän des Schiffes gehalten hatte, die Hand schüttelte, war er einem Mörder in der Uniform seines Opfers gegen-übergestanden.
Die Erkenntnis überfiel ihn mit Macht: Viola hatte versucht, ihn zu warnen, sie konnte deswegen ebenso grauenhaft ums Leben gekommen sein.
«Gehen Sie zu Mr. Keen zurück«, befahl er,»so schnell Sie können. Wir treffen uns wie vereinbart, müssen aber doppelt vorsichtig sein. «Er beobachtete, wie Miller seine Worte aufnahm.»Niemand darf uns bemerken. Wenn wir entdeckt werden, ehe wir losschlagen können, Miller, lichtet das Schiff Anker, dann hat Mr. Herrick keine Chance mehr, es aufzuhalten.»
Er fügte nicht hinzu, daß das Kommando an Land vorher noch ermordet werden würde; doch Millers Gesicht verriet, daß er diese Überlegung bereits selbst angestellt hatte. Bolitho sah Quare und die anderen an.»Auf! Es geht weiter. «Wieder stieg er den steilen Abhang hinauf, und jetzt waren Hitze und Strapazen vergessen.»Bleiben Sie in Deckung, Sir. «Quare flüsterte es, als Bolitho neben ihm zwischen zwei Felsblöcke kroch. Der Stein war glühend heiß, und Bolitho wurde sich schmerzhaft der Schrammen und Prellungen bewußt, die er sich während der letzten Etappe zugezogen hatte. Das Terrain unterschied sich stark von dem auf der anderen Seite und war auch ganz anders, als es sich von See aus gezeigt hatte. Auf halber Höhe befand sich eine breite Kluft, und danach folgte ein Abhang, der sich bis zur Bucht hinunter erstreckte.
Und dort, flimmernd im Sonnenglast, lag die Eurotas immer noch vor Anker; mehrere Boote waren längsseits gegangen, und zwei weitere lagen oberhalb der Brandung auf dem Strand.
Auf dem Achterdeck und mittschiffs waren ein paar
Gestalten wahrzunehmen, aber nichts deutete darauf hin,
daß am Rumpf oder sonstwo gearbeitet wurde.
Bolitho hätte gern sein Fernrohr benutzt und das Schiff genauer inspiziert. Aber die Sonne stand in einem solchen
Winkel, daß er es nicht wagte, einen plötzlichen Reflex zu riskieren und sich damit zu verraten.
Quare hatte schon Blissett und einen anderen Kundschafter ausgesandt, aber was an Bord vorging, konnte Bolitho nur erraten.
Quare zischte:»Dort, Sir!»
Mehrere Männer erschienen am Fuß des Abhangs. Sie bewegten sich nur langsam und schienen unbesorgt. Aber alle waren bis an die Zähne bewaffnet. Einer trank öfter aus einer Flasche, und ihm mußte über das Dollbord eines kleinen Bootes geholfen werden, ehe es in tieferes Wasser geschoben werden konnte und auf das Schiff zuhielt. Danach blieb nur noch ein Boot am Strand. Doch wie viele Männer?
Swift kam von hinten herangekrochen.»Mr. Keens Gruppe kommt, Sir.»
Bolitho sah sich um.»Sie soll sich verteilen. Und keinen Laut. Vergewissern Sie sich, daß alle Waffen entladen sind. Ich will nicht, daß aus Versehen eine Muskete losgeht. «Er blickte zu dem ankernden Schiff hinunter und überlegte, was er tun sollte. Die Eurotas lag eine Kabellänge vom Ufer entfernt, und das Boot hatte kaum den halben Weg zurückgelegt. Es war ungeschützt.
Doch wo waren die Kanonen, die angeblich an Land geschafft worden waren, um das Schiff zu erleichtern? Zweifellos standen keine hinter den leeren Geschützpforten auf der dem Land zugekehrten Seite, noch befanden sich welche am Strand. Ganz gewiß waren sie auch nicht über Bord geworfen worden.
Es sei denn… Bolitho blickte zu der südlichen Landzunge hinüber, die sich beinahe schwarz von der funkelnden See abhob. Vielleicht war da noch ein Schiff, das Kanonen von der Eurotas übernommen hatte? Er schloß die Augen. Das alles ergab keinen Sinn.
Blissett erschien lautlos hinter einem großen Felsblock.»Was gibt es, Tom?«fragte Quare.
Der Kundschafter wischte sich den Mund und starrte zum Schiff hinunter.»Wir haben dort unten eine tote Frau gefunden. Sie muß sich bis zuletzt gewehrt haben, das arme Ding. Aber sie wurde trotzdem umgebracht, nachdem die ihren Spaß mit ihr gehabt hatten.»
Bolitho sah zu ihm auf, seine Gedanken rasten.»Was für eine Frau?«Kaum erkannte er seine eigene Stimme wieder. Blissett runzelte die Stirn.»Noch jung. Engländerin, würde ich sagen. Wahrscheinlich sollte sie nach Botany Bay deportiert werden, Sir. «Weiter sagte er nichts, aber seine Augen verrieten Erbitterung und Zorn.»Schon gut, Tom. «Quare wandte sich an Bolitho.»Sie hatten also recht, Sir.»
«Ich wünschte bei Gott, ich hätte mich geirrt. Das Schiff ist also gekapert worden, aber nicht von den Sträflingen. «Und in Beantwortung der stummen Fragen auf Quares Gesicht:»Die würden sich weder die Zeit noch die Mühe nehmen, große Geschütze von Bord zu schaffen. Sie wären schwach und verängstigt nach allem, was sie durchgemacht haben. Ich glaube, unser Feind ist viel gefährlicher und ohne jedes Erbarmen.»
Er wälzte sich auf den Rücken und zog seine Uhr. Fast verachtete er sich wegen der Erleichterung, die er empfand. Aber er hatte gefürchtet, es könne Viola sein, die dort unten lag.
Erst in einigen Stunden würde es dunkel sein. Er sagte:»Stellen Sie zuverlässige Wachen auf, Sergeant. Danach kommen Sie zu mir.»
Eilig kroch er den Abhang hinunter und in das Gewirr dürrer Büsche hinein. Die ganze Umgebung schien von der Sonne ausgedörrt zu sein und war vom Kot zahlloser Seevögel bedeckt.
Keen und andere drängten sich um ihn.
Er sagte:»Ich glaube, daß sich eine ganze Bootsladung
Männer an Land befindet, wahrscheinlich drüben im
Zentrum der Insel. Es ist zu gefährlich, im Boot zwischen diesen Klippen hindurchzufahren. Deshalb sind sie auch von den Kanus überrascht worden. Ich vermute, daß sie dort
Wachen postiert haben, die auf fremde Schiffe und
Eingeborenen-kanus achten.»
Keen nickte.»Und ihr Boot ist unbewacht.»
Ross fuhr sich mit dicken Fingern durch sein rotes Haar.
«Einstweilen noch, Mr. Keen. Bei Dunkelheit kann sich das aber schnell ändern.»
«Wir bleiben in Deckung«, ordnete Bolitho an.»Sobald es dunkel wird, gehen wir zum Strand hinunter. «Er sah Keen an.»Als Sie auf der Eurotas waren, haben Sie da viele Leute der Besatzung gesehen?»
Keen blickte überrascht auf.»Eigentlich nicht, Sir. Ich nahm an, daß sie unter Deck bei der Arbeit waren. «Während ein Kriegsschiff in die Bucht einlief und schreiende Wilde in Kanus angriffen, würde bestimmt kein Matrose unter Deck bei seiner Arbeit bleiben. Merkwürdig, daß ihm das nicht früher aufgefallen war. Es mußte also ein zweites Schiff, vielleicht sogar ein drittes geben. Er drehte sich um, kroch ein Stück zurück und drängte sich zwischen die beobachtenden Seesoldaten. Mehrere Minuten lang musterte er aufmerksam das Schiff. Ohne Zweifel hatte die Eurotas ein höheres Freibord als normal. Kein Wunder, daß so wenige Leute an Deck zu bemerken waren. Gerade genug, um das Schiff und die unten eingekerkerten Sträflinge zu bewachen. Bolitho versuchte, nicht an die ermordete Frau zu denken.
«Es wird ein riskantes Unternehmen«, sagte Bolitho und bemerkte, daß Alldays Hand nach dem Entermesser griff.»Trotzdem will ich das Schiff angreifen, sobald es dunkel ist. Wenn wir es genommen haben, können wir es besetzt halten, bis die Tempest eintrifft.»
Ross sagte nüchtern:»Der Wind hilft Mr. Herrick nicht gerade, Sir. Er ist ganz schön umgesprungen, seit wir an Land sind. «Er blickte zu dem klaren Himmel auf.»Ja, wir werden wohl lange auf die Tempest warten müssen, fürchte ich.»
Keen fragte:»Warum gönnen Sie sich nicht eine Ruhepause,
Sir? Ich übernehme die erste Wache.»
Aber Bolitho schüttelte den Kopf.»Ich muß noch einmal hinauf, um mir das Schiff anzusehen.»
Keen sah ihm nach, während er wieder zu den Felsen hinaufkroch.»Er sollte sich ausruhen, Mr. Ross. Heute nacht werden wir seine ganze Kraft brauchen.»
Allday hörte ihn und starrte zu den Felsen hinauf. Bolitho würde weder ruhen noch ein Auge schließen, ehe er es geschafft hatte. Nicht, ehe er es zuverlässig wußte. Allday zog sein Entermesser und scharrte mit der schweren Klinge im Sand. Er empfand für Viola Raymond eine tiefe
Zuneigung. Sie war seinem Kapitän eine Hilfe gewesen, als er sie am dringendsten gebraucht hatte. Aber im stillen hatte er es erleichtert begrüßt, als sie nach England abreiste. Sie brachte Gefahr mit sich, war eine Bedrohung für die Zukunft seines Kommandanten.
Das Schicksal oder die Dame Fortuna, wie Leutnant Herrick es genannt hatte, wollte es anders. Gleichgültig, wie alles begonnen hatte, jetzt sah es so aus, als ob es ein blutiges Ende nehmen würde, noch ehe der nächste Tag anbrach.
Bolitho leckte sich über die Lippen und spürte den Sand zwischen seinen Zähnen knirschen. Das Warten auf die Dunkelheit hatte sie alle auf eine harte Probe gestellt. Von der Sonne verbrannt, von fliegenden und kriechenden Insekten gepeinigt, war es für alle eine Qual gewesen. Er hörte das Klatschen von Riemen im fast undurchdringlichen Dämmerlicht und erkannte, daß sich ein Boot dem Strand näherte. Den ganzen Nachmittag und sinkenden Abend über, während seine Leute ihre mageren Rationen an Wasser und Schiffszwieback so langsam wie möglich verzehrten, hatte Bolitho das gelegentliche Hin und Her zwischen Schiff und Ufer beobachtet. Das Boot war mehrmals zum Schiff und wieder zurückgefahren, aber nicht ein einziges Mal war es voll besetzt gewesen. Dem Anschein nach hielten sich im Zentrum der Insel ständig Beobachter auf, und für das Boot standen nur wenige Leute zur Verfügung. Die Fahrten erfolgten offenbar nach keinem bestimmten Plan, jedenfalls ließ sich keinerlei Routine erkennen. Eines stand allerdings fest: nach Einbruch der Dunkelheit wurde das Boot jedesmal wachsam aufgefordert, sich zu erkennen zu geben.
An Bord des Schiffes selbst war kaum eine Bewegung wahrzunehmen. Doch das wenige erregte den Zorn und den
Unwillen der beobachtenden Seeleute.
Nachmittags hatten sie eine Frau an Deck gesehen, mit dunklem, offenem Haar und bloßen Schultern; ihre Schreie schrillten über das Wasser, als sie erst gehetzt und dann gepackt und in einen Niedergang gezerrt wurde.
Später wurde die Leiche eines Mannes zur Reling geschleppt und ins Wasser geworfen. Reglos trieb sie ab.
Anscheinend war es an Bord zu einem weiteren Mord gekommen.
Das Boot stieß knirschend ans Ufer, die Besatzung holte die Riemen ein, und dann wurde ein kleiner Anker im harten Sand ausgebracht. Aus dem Lärmen der Männer und dem Klirren von Flaschen ließ sich schließen, daß alle ziemlich betrunken waren. Einer stolperte im nassen Sand und stützte sich auf das Dollbord des Bootes, während seine Gefährten davontrotteten.
Bolitho packte Keens Arm. Es war soweit. Die Männer mochten innerhalb einer Stunde zurückkommen, um sich mehr zu trinken zu holen oder um die Plätze mit ihren Spießgesellen an Bord der Eurotas zu tauschen.»Geben Sie Sergeant Quare das Zeichen zum Einsatz»,
befahl Bolitho.
Er blickte zum Himmel: bewölkt, aber nicht genug, um den Mond zu verbergen. Ein frischer Wind wehte, und das Zischen der Brandung und das Rauschen der Brecher am fernen Riff ermöglichten es ihnen, sich ungehört dem Schiff zu nähern.
Bolitho spähte in die Dunkelheit, aber die vielfältigen Schatten täuschten sein Wahrnehmungsvermögen. Er hörte seine Leute schwer atmen, als sie sich durch eine Rinne den Abhang hinuntertasteten. Blissett kroch schon auf das Boot zu, zur Tarnung ganz mit Sand bedeckt, den sie ihm mit kostbarem Wasser an den Körper geklebt hatten. Nur die unendliche Reihe schäumender Wellen trennte das Land vom Meer, vor dem sich das Langboot wie ein gestrandeter Walkadaver abhob.
Bolitho starrte zu dem Schiff hinüber. Es hatte keine Ankerlichter gesetzt, aber er nahm einen schwachen Schimmer hinter einigen Stückpforten wahr und wußte, daß dort die noch vorhandenen Geschütze standen. Mit Schrapnell geladen, würden sie mit jedem unvorsichtigen Angreifer kurzen Prozeß machen. Aber es waren keine Enternetze ausgespannt. Wenn sie erst längsseit waren, mochten ihre Chancen besser stehen. Er erstarrte, als er etwas wie ein trockenes Husten hörte. Dann sagte Quare heiser:»Geschafft, Sir. «Es klang befriedigt.
Bolitho zog seinen Degen und stand auf. Die zweihundert Schritte das letzte Stück Abhang hinunter würden sie unsichtbar sein. Er führte seine Gruppe auf den Strand zu, unter seinen Schuhen knirschten lose Steine. Die Seeleute bildeten eine offene Linie hinter ihm, die meisten hielten sich geduckt, als ob sie mit einer plötzlichen Musketensalve rechneten.
Das war bisher der schlimmste Teil. Bolitho versuchte, nicht an die Musketen und Pistolen zu denken, die jetzt alle geladen und gespannt waren, nicht an das Klirren von Äxten und Entermessern.
Überrascht drehte er sich um, als er hinter sich einen Mann gelassen vor sich hinsummen hörte. Es war der Amerikaner Jenner, der in seinem gewohnten ausgreifenden Schritt vorging und dem das Haar in die Augen hing. Er bemerkte Bolithos Blicke und nickte zuversichtlich.»Eine Nacht wie für uns geschaffen, Sir.»
Hinter Jenner folgte der Neger Orlando; das Enterbeil auf seiner Schulter nahm sich wie ein Kinderspielzeug aus. Plötzlich stand Bolitho neben dem Boot, während die Matrosen sich eng um ihn scharten, wie es ihnen befohlen worden war.
Blissett, der Kundschafter, nahm von Quare seine Muskete entgegen und sah Bolitho an.»ich habe ihn liegen lassen, Sir. «Er stieß den im Sand liegenden Toten mit dem Fuß an.»Er hatte nichts bei sich außer seinen Waffen. Nicht zu erkennen, wer er ist.»
Bolitho sah auf den Toten hinab. Neben Kopf und Schultern war der Sand schwarz, wo das Blut versickert war. Er zwang sich, neben dem Toten niederzuknien, um ihn zu durchsuchen. Der Mond trat kurz hinter den Wolken hervor, und in seinem Licht funkelten die Augen des Mannes, als ob sie ihn zurückweisen wollten. Seine Kleidung war dürftig und abgetragen, aber der Gürtel mit Pistole und Entermesser war in gutem Zustand.
Bolitho tastete Handgelenk und Arm ab. Die Haut war noch warm, der Arm muskulös, ohne überflüssiges Fett. Also ein Matrose. Langsam stand Bolitho auf. Keen flüsterte atemlos:
«Ich habe meine Gruppe um das Boot versammelt.«»Bringt es zu Wasser.»
Bolitho trat zurück und blickte zu dem Schiff hinüber, während zwei Gruppen seiner Leute das Boot ins seichte Wasser schoben. Vorher waren meistens fünf Mann in dem Boot gewesen, nie mehr als sechs. Er beobachtete, wie die ausgewählten Matrosen über die Bordwand kletterten und die Riemen auslegten, die sie mit alten Verpflegungssäcken und Stoffetzen umwickelten, um den Lärm zu dämpfen. Er sah, wie Miller dem Getöteten das Hemd herunterriß, wobei er sich mit einem Fuß gegen die Leiche stemmte, um besseren Halt zu finden.
Miller war wahrscheinlich mehr als jeder andere in seinem Element. Er hatte den Krieg und gefährliche Nahkampfunternehmen, Geschützfeuer und manchen riskanten Einsatz überstanden, ohne auch nur einen Kratzer davonzutragen. Als Bootsmannsmaat überragte er den Durchschnitt weit. Doch im Kampf von Mann zu Mann zeigte er sich von einer anderen Seite: als Killer.
Allday sagte:»Ich übernehme die Ruderpinne. «Er sah Bolitho an.»Sind Sie bereit, Captain?«Seine Stimme klang so unbeteiligt, als ginge es zu einer Spazierfahrt. Bolitho kannte ihn gut genug, um zu wissen, was sich hinter der Gelassenheit verbarg. Wie bei ihm selbst waren Alldays Nerven scharf angespannt. Erst wenn es um die endgültige Entscheidung ging, würde er seine wahre Natur zeigen. Das Boot hob und senkte sich auf den Wellen, die Männer schoben es in tieferes Wasser, während weitere Leute hineinkletterten und sich flach auf dem Boden ausstreckten.»Genug«, befahl Bolitho und sah sich nach Quare und Midshipman Swift um.»Bleiben Sie mit den übrigen Männern außer Sicht, wenn Sie können. Falls noch weitere Piraten von Land her auftauchen, dann wissen Sie, was Sie zu tun haben.»
Er nickte dem Sergeanten zu. Die Arbeit der Marinesoldaten war getan, und wenn der Angriff fehlschlug, sollten Quare und seine kleine Gruppe sich versteckt halten und warten, bis Herrick sie abholte.
Als letzter kletterte er selbst in das Boot, den blanken Degen gegen die Brust gepreßt.
Allday beugte sich vor.»Ablegen«, befahl er.»Nicht so laut, ihr Mistkerle!»
Die Wolkendecke war inzwischen dichter geworden. Das mochte einen tropischen Regenguß ankündigen, aber bis dahin würde noch einige Zeit vergehen. Bolitho verdrängte seine Zweifel. Wenn er auf Regen warten wollte, um ihre Annäherung besser zu tarnen, konnte es womöglich ewig dauern. Er musterte die keuchenden Männer an den Riemen. Das Boot hatte erst wenige Meter zurückgelegt, und schon fanden sie es mühsam, die reglose Last ihrer Passagiere zu befördern. Wenn er den Angriff jetzt abgebrochen hätte, wären sie nicht wieder für den Kampf zu begeistern gewesen.
Keen fragte flüsternd:»Soll ich die Schwimmer jetzt losschicken, Sir?»
Bolitho nickte; zwei Gestalten, deren nackte Körper in dem stark gedämpften Mondlicht nur schwach schimmerten, erhoben sich und glitten über die Bordwand, fast ohne ein Plätschern zu verursachen.
Bei der Lagebesprechung auf der Insel hatte alles gefährlich und schwer ausführbar geklungen. Aber jetzt schien es unmöglich zu sein. Bolitho riß seinen Blick von den Schwimmern los und konzentrierte sich auf das Schiff. Nun wirkte es massig und schien schon dicht vor ihnen zu liegen. Ganz bestimmt würde sie bald jemand anrufen. Vielleicht waren sie auch schon gesehen und erkannt worden, und die Geschütze wurden in aller Stille auf sie gerichtet. Bolitho hörte einen der Ruderer fluchen und gleich darauf erschreckt keuchen, als sich im Wasser etwas zwischen Bootswand und seinen Riemen wälzte. Es war eine Leiche, die sich auf den Rücken drehte, wie es ein Schläfer im Bett tun mochte: der Tote, der über Bord geworfen worden war und den die Strömung dem Ufer zutrieb, statt aus der Bucht hinaus.
«Langsamer, Allday.»
Bolitho griff nach der Pistole in seinem Gürtel. Sie mußten den Schwimmern Zeit lassen, das Ankertau zu erreichen und unentdeckt an Bord zu klettern. Es ging alles viel zu glatt.
Aber warum auch nicht? Die Piraten — oder was sie sonst waren — hatten ein ganzes Kriegsschiff geblufft und sogar einen britischen Offizier, der zu ihnen an Bord gekommen war, von ihrer Legalität überzeugen können. Nun lagen sie sicher in einer Bucht verankert, mit ausgestellten Wachtposten an Land — warum sollten sie sich nicht unangreifbar fühlen?
Als der Anruf kam, war er laut und überraschend.»Boot ahoi?«Eine englische Stimme. Allday nahm die zwei leeren Flaschen zwischen seinen Füßen und zerschmetterte sie in der Bilge, warf den Kopf zurück und brach in ein dröhnendes Gelächter aus. Bolitho vernahm mehr Stimmen auf dem Schiff, aber keinen weiteren Anruf. Das Flaschengeklirr war überzeugender gewesen als jede Parole.
«Ich habe einen von uns im Vorschiff gesehen, Sir. «Miller hatte den Kopf vorsichtig über die Bordwand des Bootes gehoben.»Bei Gott, sie sind oben. Sie haben es geschafft!«Das Boot war jetzt fast längsseit, und Bolitho erkannte die Schanzkleidpforte und daneben zwei dunkle Gestalten, die ihre Annäherung beobachteten. Er konnte das Schiff auch riechen, diese vertraute Mischung aus Teer und Hanf. Einer der beiden Beobachter wandte sich dem Vorschiff zu, als dort in einem kurzen Aufleuchten des Mondes eine Gestalt sichtbar wurde; sie schwankte nach beiden Seiten und griff haltsuchend in die Wanten.
Allday flüsterte:»Das ist Haggard, Captain. Als Schauspieler besser als auf dem Mast, wie es scheint. «Haggard zog jetzt die Aufmerksamkeit der Wache voll auf sich. Würdevoll richtete er sich plötzlich auf und stürzte dann mit einem lauten Klatschen ins Wasser. Zweierlei ereignete sich jetzt fast gleichzeitig: Die Wachtposten verließen die Pforte und verschwanden in Richtung Vorschiff — in der Annahme, daß da einer der Ihren über Bord gegangen war. Und dann scholl aus der Dunkelheit heftiges Spritzen, als ob etwas mit großer Geschwindigkeit durchs Wasser geschleppt würde. Alle hörten Haggards Aufschrei: «Mein Bein!«Sein nächster Schrei brach unvermittelt ab, als er unter Wasser gerissen wurde.
Bolitho nahm dies alles wahr, als er in den Bug des Bootes stürmte, wo schon Enterhaken über die Reling der Eurotas geworfen wurden. An Haie hatte er nicht gedacht und nie geglaubt, daß sie in die Bucht eindringen würden. Doch die treibende Leiche mochte einen angelockt haben, der Haggard jetzt zwischen diesen gräßlichen Kiefern zermalmte.
Er hörte sich selbst brüllen:»Vorwärts, Leute! Drauf!«Das brach den Bann. Die eben noch schreckstarren Matrosen sprangen alle gleichzeitig auf und kämpften wie die Wilden, um die Sprossen des Seefallreeps zu erreichen. Auf der Gangway ging eine Pistole los, und eine Kugel fuhr singend an Bolithos Gesicht vorbei, als er sich an Deck schwang. Die beiden Wachtposten standen erstarrt im gedämpften Mondlicht, einer blickte Bolitho entgegen, und der andere stierte immer noch zum Vorschiff, als erwarte er, daß der gräßliche Hilfeschrei sich wiederholte. Matrosen drängten an Deck, stießen sich gegenseitig beiseite in ihrer Gier, die beiden Posten zu erreichen. Entermesser zischten durch die Luft, und die beiden fielen ohne einen Laut.
Von der Kampanje her ertönten weitere Schreie; mehr Piraten schienen durch die Vorderluke aufs Vorschiff zu klettern.
Aber Keen und seine Leute stürmten schon auf den Laufgängen nach vorn, feuerten auf die Luke und den Steuerbord-Kranbalken, wo ein Mann kauerte, sei es, um nach dem Hai auszuspähen oder um sich zu verbergen. Bolitho stürmte blindlings zur Kampanje, stürzte beinahe über eine Gestalt, die hinter einem Niedergang hervor ihm in den Weg trat. Er duckte ab und stieß mit dem Degen zu, spürte, wie er gegen Metall traf, als der Mann seinen Angriff parierte. Degengriff an Degengriff, drängten sie auf das Ruder zu. Matrosen stürmten an ihnen vorbei, während andere innehielten, um hastig nachzuladen. Aus der Ferne vernahm Bolitho Musketenfeuer und wußte, daß Quare mit den Wachtposten an Land zusammengestoßen war. Doch er fühlte nur eines: kalten Haß gegen den
Mann, der ihm den Weg versperrte. Der Atem des Mannes, sein Schnapsgestank, die Wärme seines Körpers, das alles schien unwirklich.
Bolitho spürte den heftigen Druck seines Gegners und wich aus; der andere kam aus dem Gleichgewicht und fiel gegen das Schanzkleid. Etwas flirrte an Bolithos Augen vorbei, und er hörte das widerliche Knirschen von Stahl auf Knochen. Dann stieß Allday den Toten eine Leiter hinunter. Sofort fuhr er wieder herum und holte mit dem Entermesser aus, als eine Gestalt von der Kampanje fortrannte. Allday traf den Mann an der Schulter, und als dieser aufschreiend stürzte, erledigte er ihn mit einem harten Schlag in den Nacken.
Ein anderer lag schluchzend auf den Knien und flehte in einer fremden Sprache, aber der Sinn seiner Worte war nur zu klar. Miller packte ihn am Haar und stieß ihn über die Reling. Der wilde Aufruhr im Wasser verriet, daß weitere Haie sich auf ihre unerwartete Beute stürzten. Licht strömte aus der Kampanje, und Bolitho sah in der Tür einen Mann kauern und in den Höllenlärm hinausspähen. Bolitho riß seine Pistole aus dem Gürtel und drückte ab. Da nichts geschah, schleuderte er sie gegen die Tür und rannte hinterher. Die Wucht seines Angriffs riß ihm beinahe den Degengriff aus der Hand, als er dem Aufspringenden die Klinge in den Leib stieß.
Seitlich hörte er Schreie und Schüsse, die anscheinend vom Wasser her kamen. Jemand versuchte wohl, in einem Boot zu entkommen. Doch das konnte er Keen überlassen. Mit dem Fuß stieß er die Tür ganz auf, schob den Sterbenden vom Süll und drang in die Hütte der Eurotas ein. Ihm bot sich ein schauerliches Bild. Die Türen der Kajüten waren aus den Angeln gerissen oder eingeschlagen. Kleidungsstücke, Waffen und anderer Privatbesitz lagen überall verstreut.
Auf dem Hüttendeck über sich hörte er eine vor Entsetzen schrille Stimme, und dann Miller laut drohend:»Bleib stehen, du elender Schuft!«Es endete damit, daß etwas über die Decksplanken geschleift wurde, dann folgte ein letztes Röcheln.
Langsam ging Bolitho weiter nach achtern, den Degen stoßbereit. Vorsichtig setzte er die Füße, um nicht in dem Chaos auf dem Boden zu stolpern.»Vorsicht, Capt'n!«Das war Jenners Stimme. Geduckt huschte er an Bolitho vorbei, ein Schatten, dem zwei Matrosen folgten. Jenners Gesicht leuchtete kurz auf, als in der Kajüte nebenan eine Pistole abgefeuert wurde; der Mann neben ihm stürzte und preßte dabei die Hände vor den Leib, während ihm bereits Blut aus dem Mund strömte. Jenner riß den rechten Arm hoch, und ein kleiner Dolch schwirrte wie ein blitzender Pfeil in die offene Tür. Als Bolitho sie erreichte, hatte Jenner die Klinge bereits aus der Brust seines Opfers gezogen und wischte sie an dessen Hosenbein ab.
Wieder stampften Schritte über das Hauptdeck; Keen drang in die Kampanje ein, einen Krummsäbel in der einen Hand, in der anderen eine leergeschossene Pistole wie eine Keule haltend.
«Vorschiff und Oberdeck sind unser, Sir. «Er atmete sehr schnell; im Licht der Laterne funkelten seine Augen noch vor Kampfeslust.»Einige sind im Boot entkommen«, fügte er hinzu.»Aber Quares Scharfschützen werden sie wohl erledigen. «Er blickte auf die Toten nieder.»Es ist uns gelungen, zwei Gefangene zu machen. «Bolitho nickte kurz.»Öffnet die Achterluke, macht euch aber auf Überraschungen gefaßt. Mr. Ross übernimmt den Befehl auf dem Oberdeck. Paßt auf, daß keiner das Ankertau kappt.»
Er ging an der letzten Offizierkammer vorbei auf die große Achterkajüte zu. Wieder das wilde Durcheinander von Kleidungsstücken und ausgeleerten Seekisten. Auf dem Tisch des Kapitäns standen die Reste einer nicht beendeten Mahlzeit. Daneben lag das Kleid einer Frau: blutbefleckt. Plötzlich war es sehr still, als ob das ganze Schiff vor Entsetzen lausche.
«Weiter!«Er verließ die Kajüte. Allday blieb ihm auf den Fersen, wandte den Kopf nach rechts und links, als wolle er Bolitho vor einem plötzlichen Angriff schützen. Als die Luke nicht ohne Schwierigkeiten geöffnet worden war, denn sie war wie auf einem Sklavenschiff mit Balken verkeilt und mit Ketten gesichert, wurde es Bolitho fast übel von dem Gestank nach Exkrementen und Angst, der ihm entgegenschlug.
Doch kein Laut war zu vernehmen, nur das gewohnte Knarren der Takelage. Hatten die Meuterer alle Menschen an Bord der Eurotas umgebracht?
Allday flüsterte:»Wenn jemand dort unten ist, Captain, muß er glauben, auf dem Schiff sei die Hölle ausgebrochen. «Bolitho starrte ihn betroffen an. Warum hatte er selbst nicht daran gedacht? Erst das Grauen, der brutale Terror der vergangenen Wochen, und jetzt der ohrenbetäubende Kampfeslärm. Kein Wunder, daß sie sich still verhielten. Er verharrte am Lukensüll, Alldays plötzliche Befürchtungen und die Tatsache ignorierend, daß er sich vor dem Mondlicht deutlich abhob.
«Ahoi da unten!«Er wartete, hörte aber nur den Widerhall seiner Stimme.»Wir sind von Ihrer Majestät Schiff
Tempest!»
Es schien endlos lange zu dauern und seine schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen, bis ihm dann endlich aus dem Bauch des Schiffes ein wachsender Chor von Schreien und Schluchzern antwortete.»Schnell hinunter, Leute!»
Bolitho wartete, bis weitere Matrosen mit Laternen zur Luke geeilt waren, und kletterte dann mit ihnen in das nächste Deck hinunter. Neben einer weiteren verschlossenen Luke stand ein Stuhl aus der Offiziersmesse, mit einem Trinkgefäß in Reichweite, und kennzeichnete die Stelle, wo bis zum Augenblick ihres Angriffs ein Wachtposten gesessen hatte.
Wieder schoben sie schwere Balken beiseite und hoben den Lukendeckel: ein kleiner Laderaum, wohl für Vorräte des Kapitäns und der Offiziere des Schiffes benutzt. Unbeleuchtet und schlecht belüftet, war er von Wand zu Wand mit Menschen vollgepfercht. Bolitho schien auf einen dichten Teppich menschlicher Gesichter zu blicken, die sich entsetzt und verstört nach oben wandten: Männer und Frauen, verdreckt und heruntergekommen, im letzten
Stadium des Vegetierens.
Bolitho sprach so gelassen er konnte:»Fürchten Sie sich nicht. Meine Leute werden für Sie sorgen. «Sein kleines Kommando? Er wußte nicht, wie viele gefallen oder verwundet waren. Bewaffnet oder nicht, wenn diese Menschenmasse sie angriff, hatten sie nur wenig Chancen. Dort unten mußten annähernd zweihundert Personen sein. Miller trat an die Luke, schien sich wieder gefaßt zu haben. Seine Stimme klang fest, als er einige Leute anwies, in den Laderaum hinunterzusteigen. Gedämpft sagte er:»Mr. Ross hat drei Drehbassen mit Schrapnell laden und auf die Luke richten lassen. Bei der geringsten Aufsässigkeit werden sie von Deck gefegt, ehe sie wissen, was sie trifft. «Er hatte seinen Kampfrausch also noch nicht überwunden. Die Menschen, die aus dem vollgepferchten Laderaum langsam auftauchten, boten jedoch einen schrecklichen Anblick. Manche stützten sich gegenseitig aus Schwäche oder Furcht. Einer von ihnen, mit einer Schnittwunde über dem Auge und einem Gesicht, das vor Prellungen fast schwarz war, trug eine Matrosenjacke.»Wer sind Sie?«fragte Bolitho.
Der Mann starrte ihn verständnislos an. Allday führte ihn am Arm beiseite, fort von dem Zug langsam auftauchender Jammergestalten.
Dann antwortete der Mann endlich:»Archer, Sir. Böttcher auf der Eurotas.»
Bolitho fragte leise:»Und die Passagiere? Wo befinden sie sich?»
«Passagiere?«Das Nachdenken schien ihm schwer zu fallen.»Ich — ich glaube, sie sind noch im Orlop, Sir. «Er deutete hinter sich.»Die meisten hier sind Deportierte. Wir stecken seit Tagen da unten. «Er starrte wild um sich.»Wasser! Ich muß Wasser haben.»
Bolitho befahl:»Öffnen Sie jedes Wasserfaß, das Sie finden, Miller, und teilen Sie Rationen aus. Sie wissen, was Sie zu tun haben. «Er schob seinen Degen in die Scheide.»Mr. Ross soll ein Boot zu Sergeant Quare und seinen Leuten schicken. «Sein Verstand weigerte sich noch, an die notwendigen Details zu denken. Zu Allday gewandt, fügte er hinzu:»Zum Orlop! Schnell.»
Eine weitere Luke, eine weitere Leiter, führten unter die Wasserlinie. Selbst auf einem so großen Schiff wie der Eurotas war nicht Platz genug, um unter Deck aufrecht zu stehen.
Laternen schwankten wie zum Gruß, als vorn weitere Matrosen durch eine andere Luke das Orlopdeck erreichten. Winzige Kabinen, eigentlich nur Löcher, säumten den Mittelgang, fast wie jene auf einem Kriegsschiff, in denen die Funktionäre ohne Tageslicht hausten: Segelmacher und Böttcher wie dieser Archer, Zimmerleute und Proviantmeister.»Öffnet die Türen!»
Er hörte eine Frau hysterisch schluchzen; ein Mann weiter vorn sprach ihr tröstend zu.
Allday rief:»Hier, Captain!«, und hob seine Laterne, um Bolitho zu leuchten.
Sie saß auf einer umgestürzten Kiste, den Arm um ein Mädchen mit langem, schwarzem Haar gelegt, wahrscheinlich das Mädchen, das oben an Deck gehetzt worden war.
Das Mädchen stöhnte, das Gesicht gegen Viola Raymonds Schulter gepreßt, und ihre Finger krallten sich wie kleine, gierige Krallen in das mattweiße Kleid. Bolitho konnte nicht sprechen. Hinter sich hörte er ein wildes Durcheinander von Weinen und Schluchzen: Menschen, die wieder vereint waren, und andere, die erfolglos nach Verwandten oder Freunden suchten. Doch das alles geschah wie auf einem anderen Stern. Viola erhob sich langsam, zog das Mädchen mit hoch.»Geh mit ihm. «Sie drückte es fester an sich, als das Mädchen vor Furcht zitterte.»Allday ist ein guter Mann und wird dir nichts tun.»
Das Mädchen löste sich von ihr, eine Hand noch nach ihr ausgestreckt. Als ob sie ausgestoßen würde, dachte Bolitho. Allday stellte die Laterne ab und schloß die Tür hinter sich. Bolitho streckte die Arme aus und umfaßte Violas Schultern, spürte, wie die Fassung sie verließ, als sie seinen Nacken umschlang und die Lippen fest an seine Wange preßte.
«Endlich!«Sie umklammerte ihn noch fester.»Oh, mein Geliebter, endlich bist du zurückgekommen, um uns zu retten.»
«Ich bringe dich zur Kajüte«, sagte er.
«Nein! Nicht dorthin. «Sie blickte zu ihm auf, immer noch ungläubig staunend.»Bring mich an Deck.»
Sie tasteten sich durch das Gewimmel von Männern und
Frauen, Matrosen und neu angekommenen Marinesoldaten,
bis sie das hohe Achterdeck erreichten. Dann stand sie im frischen Wind, strich sich wiederholt mit den Fingern durch das Haar und holte so tief Luft, als ob jeder Atemzug ihr letzter wäre.
Bolitho konnte sie nur ansehen. Er fürchtete um sie, hätte ihr gern geholfen. Er zwang sich zu der Frage:»Und dein Mann? Ist er in Sicherheit?»
Sie nickte langsam und wandte sich ihm zu.»Aber wo ist dein Schiff?»
«Das Risiko war zu groß«, erklärte er.»Sie hätten euch alle umgebracht, ehe die Tempest in die Bucht eingelaufen wäre.»
Sie kam quer über das Deck auf ihn zu, der Saum ihres Kleides schleifte über die ausgetretenen Planken. Sie sprach nicht, aber ihr Blick blieb auf ihn gerichtet, bis sich ihre Körper berührten.
Dann erst brach sie zusammen, schluchzte an seiner Brust und vergaß das Schiff und alles um sie herum. Keen blieb mit einem Fuß auf der obersten Sprosse zum Achterdeck stehen. Er hatte ein Dutzend Fragen an seinen Kommandanten. Doch als er die beiden sah, verzichtete er darauf und kehrte zum Hauptdeck zurück. Seine Stimme klang plötzlich wieder fest.
«Bleiben Sie auf Station, Mr. Ross. Mr. Swift, kümmern Sie sich um die Verletzten, und berichten Sie mir dann. «Allday beobachtete ihn und erinnerte sich an den jungen Midshipman, den er einst vor einem qualvollen Tod bewahrt hatte. Jetzt war Keen ein Mann, ein Offizier des Königs. Dann wandte Allday sich um und blickte zum Achterdeck. Nun, Keen sollte eigentlich ein guter Offizier werden, dachte er. Schließlich hatte er das beste Vorbild.