VII Die Narval

Leutnant Thomas Herrick schlürfte siedend heißen, bitteren Kaffee und sah Bolitho zu, der sich neben einer Seekarte Notizen machte.

Vor einer Woche waren sie wieder ausgelaufen, und Herrick war froh, wieder auf See zu sein und etwas zu tun, worauf er sich verstand. Sechs Tage lang hatten sie vor Anker gelegen, und es war schmerzlich gewesen zu beobachten, wie Bolitho sich bemühte, seine Sorgen zu verbergen, seinen Kummer für sich zu behalten, wenn er zu der verankerten Eurotas und der dahinterliegenden Stadt hinüberblickte. Selbst jetzt war Herrick nicht sicher, was Bolitho wirklich dachte. Für jeden, der ihn nicht so gut kannte, schien der Kommandant wie immer der aufmerksame, an seiner Umwelt interessierte Offizier zu sein. Sorgfältig studierte er die Karte, verglich seine Aufzeichnungen mit denen von Lakey, dem Steuermann.

Herrick wußte nicht viel von den Levu-Inseln, nur daß sie etwa zweihundert Meilen im Norden des Archipels lagen, wo sie die Eurotas zurückerobert hatten. Jetzt schleppten sie sich vorwärts, behindert durch das langsamere Handelsschiff, das die Tempest in Luv aufmerksam überwachte.

Bolitho blickte auf.»Erinnern Sie sich an den alten Mudge, Thomas?»

«Gewiß. «Herrick schmunzelte. Mudge war Steuermann auf der Undine gewesen.»Er muß der älteste Mann im Dienst des Königs gewesen sein, vielleicht überhaupt der älteste auf See. Sechzig Jahre hat er zugegeben, aber er ist nie darüber hinausgegangen. Schade, daß er nie Mr. Lakey kennengelernt hat. Wenn die beiden sich eines Tages im Himmel treffen, haben sie einander viel zu erzählen. «Bolitho war nachdenklich.»Er wußte eine Menge über diese Gewässer. Wie er mich zurechtwies, wenn ich befahl, alle Segel zu setzen… Aber auch wie er knurrte, wenn wir so wie jetzt dahinkrochen!»

Herrick blickte auf, als er Keens Schritte über sich auf dem Achterdeck hörte. Borlase hatte das Kommando über die Eurotas erhalten. In gewisser Weise war das bedauerlich, dachte Herrick, denn Borlase mochte Raymond zuviel anvertrauen. Andererseits war Herrick froh, hier bei Bolitho zu sein. An Borlases Stelle wäre er vielleicht gegenüber diesem Lump Raymond zu deutlich geworden. Er fragte:»Was erwarten Sie, auf den Levu-Inseln vorzufinden, Sir?»

Bolitho ging zu den Heckfenstern und starrte zum schwankenden, dunstigen Horizont hinaus; die glitzernde See sah aus wie ein riesiger, siedender Kessel.

«Einen Flaggenmast, Thomas, und ein paar angestrengt arbeitende britische Beamte. Weitgehend das, was wir schon kennen.»

Noddall tappte in die Kajüte, eine Kaffeekanne in seinen Pfötchen.»Hier ist noch ein Rest drin, Sir.«»Gut. «Bolitho hielt ihm seinen Becher hin.»Ich komme zwar davon ins Schwitzen, aber Kaffee ist wenigstens etwas, das nicht schimmelig oder ranzig schmeckt. «Ein neuer Tag, die gleiche leere See. Er hatte sich angewöhnt, jedesmal, wenn er an Deck den Kompaß und ihren Standort überprüfte, die Sekunden zu zählen. Die Sekunden, ehe er sich gestattete, zu dem bauchigen Rumpf der Eurotas hinüberzublicken. Sie schien stets in der gleichen Position zu bleiben, in den Wanten der Tempest wie in einem riesigen Netz gefangen. In Wirklichkeit hielt sie sich ein ganzes Stück in Lee, zu weit entfernt, um sie ohne Glas zu überprüfen. Und auch diese Gelegenheiten mußten bemessen, rationiert werden. Er hörte einige gedämpfte Schüsse und wußte, daß die Marineinfanteristen wieder übten, aus den Masten auf bewegliche Ziele schossen, die Sergeant Quare warf. Plötzlich sagte Herrick:»Es hat keinen Zweck, Sir. Ich muß darüber sprechen.»

«Gut. «Bolitho wandte sich ihm zu.»Ich habe so etwas erwartet. Bringen wir es also hinter uns. «Herrick stellte seinen Kaffeebecher vorsichtig auf den Tisch.»Das alles ist Ihnen nicht neu, aber ich bin deshalb nicht weniger besorgt. Ich… Auf mich kommt es nicht an. Ich werde nie über die Offiziersmesse hinauskommen und bin darüber auch ganz froh, seit ich gesehen habe, wie sehr ein Kommando einen Mann aushöhlen kann. Aber Sie haben eine Familientradition zu wahren, Sir. Als ich Ihr Haus in Falmouth mit all diesen Porträts sah, wußte ich, daß es mein Glück war, unter Ihnen dienen zu können. Ich weiß, was dazu gehört, Kommandant zu sein. Es ist nicht gerecht, daß Sie wegen dieser Affäre in Gefahr kommen. «Bolitho lächelte ernst, obwohl ihm das Herz wehtat.»Mit >dieser Affäre< meinen Sie wohl meine Unvorsichtigkeit, ebenso der Liebe zu verfallen wie jeder andere?»

Er schüttelte den Kopf.»Nein, Thomas. Ich werde niemandem erlauben, dieser Frau zu nahe zu treten, nur um mich zu treffen. Eher schicke ich Raymond zur Hölle!«Er wandte sich ab.»Jetzt haben Sie es geschafft, daß ich die Beherrschung verloren habe.»

Herrick entgegnete mühsam:»Auf die Gefahr hin, Sie noch mehr zu verletzen: Ich glaube auch, daß Kommodore Sayer richtig gehandelt hat, als — «, er hob verlegen die Schultern,»als er Sie hier an Bord hielt.»

«Vielleicht. «Bolitho setzte sich wieder und rieb sich mit den Handballen die Augen.»Wenn nur…«Er blickte scharf auf.»Was war das?»

«Ein Ruf vom Ausguck, Sir. «Auch Herrick war bereits auf den Beinen, als der Ruf noch einmal herunterschallte.»An Deck! Segel in Lee voraus.»

Sie eilten beide aus der Kajüte und stießen mit Midshipman Romney zusammen, der auf dem Weg nach unten war.»Sir, eine Empfehlung von Mr. Keen und. «Herrick stürmte an ihm vorbei.»Ja, wir wissen schon. «Bolitho ging am Ruder vorbei, wobei er die Sonne auf seinen Schultern spürte, als ob sie nackt wären. Ein Blick auf Kompaß und Segel verriet ihm alles, was er wissen mußte: Die Eurotas lag nach wie vor auf ihrer Position, Fock, Groß- und Besansegel fielen immer wieder ein und beraubten sie jeder Schönheit.»Liegt noch mehr vor?«»Noch nicht, Sir. «Keen hob sein Teleskop.»Hm. «Bolitho zog seine Uhr.»Schicken Sie einen weiteren Mann in den Ausguck. «Er blickte sich nach Midshipman Swift um.»Und Sie geben ein Signal an die Eurotas: >Segel in Nordost<. «Er sah Herrick an.»Obwohl sie das bei Gott inzwischen selbst entdeckt haben sollten. «Herrick blieb gelassen. Handelsschiffe hatten nur selten einen guten Mann im Ausguck, besonders dann nicht, wenn sie unter dem Schutz eines Kriegsschiffes segelten. Aber es hatte keinen Sinn, Bolitho darauf hinzuweisen. Er wußte, daß dieser seine Befürchtungen nur mühsam unter Kontrolle hielt. Ein Funke, und…

«Herrgott, sind die da oben blind geworden?«schnauzte

Bolitho.

«An Deck!«Das war der neue Mann im Ausguck.»Es ist ein Kriegsschiff, Sir.»

Bolitho wandte sich wieder an Herrick.»Was kann das vorhaben, Thomas?»

«Vielleicht ist es eines von unseren.»

«Gott segne Sie, Thomas!«Er klopfte ihm auf die Schulter.

«Wir sind das einzige britische Kriegsschiff auf dem ganzen weiten Ozean. Sogar der Gouverneur von Neusüdwales muß

um Schiffe betteln.»

Herrick war fasziniert. Die Aussicht auf Aktivität wirkte auf Bolitho belebend, ganz gleich, was er privat durchmachte.»Wir haben nicht die geringste Ahnung, Sir, was in der Welt geschieht«, sagte er.»Wir können im Krieg mit Spanien sein, mit Frankreich oder sonst jemandem. «Bolitho ging zum Ruder zurück und prüfte den Kompaß. Kurs Ost-Nordost, und nach wie vor beruhigender rauher Wind von Steuerbord. Der Kurs des Fremden verlief konvergierend zu ihrem eigenen, aber es würden Stunden vergehen, ehe sie sich trafen. Was sollte er tun, wenn der Neuankömmling abdrehte und vor ihnen floh? Er konnte die Eurotas nicht sich selbst überlassen. Doch nach einer Stunde verrieten die Meldungen aus dem Mast, daß das andere Schiff keine Vorkehrungen für ein Ausweichmanöver traf.

«Setzen Sie die Fock, Mr. Herrick. «Bolitho überquerte das Achterdeck und kletterte in die Besanwanten.»Mir ist wohler, wenn wir näher bei unserem Schützling liegen. «Die Matrosen eilten auf Stationen, und wenige Minuten später füllte sich das große Focksegel mit Wind und sandte ein Vibrieren durch die Wanten und die gesamte Takelage. Bolitho wartete mit dem Glas vor Augen, daß die lange Dünung das andere Schiff hob, damit er es genau betrachten konnte. Als dank einer Laune des Ozeans gleichzeitig auch die Tempest höher lag, hatte er es einige Augenblicke scharf im Blickfeld, dann verwischten es Dunst und Entfernung, und er ließ sich wieder an Deck hinab.»Eine Fregatte. Den Linien nach französisch. «Er blickte zum Wimpel im Masttopp auf.»Wenn der Wind bleibt, sind wir in zwei Stunden bei ihr. In Schußweite kommen wir entsprechend früher.»

Lakey erinnerte sachlich:»Wir sind nicht im Krieg mit Frankreich.»

«Wahrscheinlich nicht, Mr. Lakey. Aber wir wollen trotzdem nichts riskieren. «Vor seinem geistigen Auge hüllte sich sein Schiff in Kugelhagel und Pulverqualm. Doch diesmal würde es nicht dazu kommen. Der Franzose ließ sich Zeit und kreuzte nicht auf, um den Windvorteil zu bekommen.

«Schicken Sie die Mannschaft rechtzeitig auf Gefechtsstationen, und sorgen Sie dafür, daß erfahrene Leute im Ausguck beobachten, ob der Franzose das gleiche tut. «Wieder griff er nach dem Glas und richtete es diesmal auf die Eurotas. Er sah ihr Kleid aufleuchten, als sie über das Achterdeck ging, mit einer Hand den Hut im Wind festhaltend. Mein Gott… Momentan überwältigt, senkte er das Glas, und Viola verschwand in der Ferne; nur das Schiff blieb zurück.

«An Deck! Sie hissen die Flagge!«Eine Pause.»Tatsächlich ein Franzmann, Sir.»

Auch mit bloßem Auge konnte Bolitho den winzigen Flecken Weiß erkennen, welcher plötzlich vom Masttopp des anderen auswehte, der nun scharf an den Wind ging, die Rahen so gebraßt, daß sie fast mitschiffs standen. Ein seltsames Gefühl. Wie viele an Bord war Bolitho einem französischen Schiff selten anders begegnet als mit schußbereiten, ausgerannten Geschützen. Mit Bedauern dachte er an Le Chaumareys und sein vergeudetes Leben. An Bord war der Kommandant König, doch für die Macht, die ihn einsetzte und benutzte, blieb er der entbehrliche Bauer im Spiel.

Bolitho zwang sich, das Deck zu verlassen, fast geblendet vom Starren über das schimmernde blaue Wasser. Allday kam in die Kajüte.»Ich sage Noddall, er soll Ihren Rock und Hut bereitlegen, Captain. «Und grinsend:»Die Breeches sind für einen Franzmann noch gut genug. «Bolitho nickte. Wenn der französische Kommandant ein Neuling in diesen Gewässern war, würde er jeden Kontakt suchen. Würde er auf die Tempest kommen oder Bolitho zu sich bitten?

Noddall huschte aus der Schlafkabine, über dem Arm Bolithos Rock. Der hatte sich gerade umgezogen, als er die Pfeifen hörte:»Alle Mann auf Stationen! Klarschiff zum Gefecht!»

Trommeln wirbelten, und er spürte den Rumpf unter dem hastigen Getrappel der Besatzung beben. Als er das Achterdeck betrat, war der Befehl ausgeführt, selbst die Planken rund um die Geschütze waren schon mit Sand bestreut. Sie würden ihn nicht brauchen, dessen war er völlig sicher. Aber Sand war reichlich vorhanden, und die Mannschaft gewann mit jeder Übung mehr Erfahrung.»Laden und ausrennen, Sir?»

«Nein, Mr. Herrick. «Er sprach ebenso formell. Über die schwarzen Kanonen und nackten Rücken der Männer blickte er nach vorn und wünschte sich, es wäre der Pirat Tuke, der ihm dort entgegensegelte.

Midshipman Fitzmaurice kam zum Achterdeck gerannt und rief hinauf:»Verzeihung, Sir, aber Mr. Jury meldet mit Respekt, es ist die Fregatte Narval, sechsunddreißig Geschütze, und er hat sie schon in Bombay gesehen. «Bolitho lächelte.»Meinen Dank an den Bootsmann. «Er sah Herrick an. Immer war es das Gleiche; immer war einer da, der auf dem anderen Schiff gedient oder es schon einmal gesehen hatte. Zweifellos erhielt der Kommandant der Narval die gleiche Meldung über die Tempest: sechsunddreißig Kanonen, die gleiche Bewaffnung wie seine.

Mit Sachkunde beobachtete er, wie das andere Schiff Segel kürzte: ein schlankerer Rumpf als die Tempest und wettergegerbt, als wäre es schon lange Zeit im Einsatz. Die Segelmanöver klappten ausgezeichnet, ein weiteres Zeichen für lange Dienstzeit.

Bolitho beschattete die Augen und blickte zum eigenen Masttopp auf. Hier draußen segelte die Tempest unter der weißen Nationalflagge, und er fragte sich, ob der französische Kommandant ebenfalls erinnerungsschwer zu ihr hinaufsah.

«Sie hat beigedreht!«Keen spähte auf dem Batteriedeck über einen Zwölfpfünder.»Und sie setzt ein Boot zu Wasser.»

Herrick grinste.»Nur ein Leutnant, Sir. Wahrscheinlich will er von uns den richtigen Kurs nach Paris wissen.»

Doch als der junge Leutnant schließlich an Bord geklettert war, schien er keineswegs ratlos zu sein. Er salutierte zum

Achterdeck und stellte sich Bolitho vor.

«Ich überbringe die Empfehlungen meines capitaine, m'sieu,

und seine Einladung, ihn an Bord zu besuchen. «Die dunklen Augen wanderten schnell über die bemannten

Geschütze, die lange Linie der angetretenen Seesoldaten.

«Gewiß.»

Bolitho trat zur Pforte und sah auf das französische

Langboot hinunter. Die Matrosen waren sauber in gestreifte

Hemden und weiße Hosen gekleidet. Aber es war kein

Leben in ihnen; sie wirkten verschreckt.

«Und wer ist Ihr Kapitän?»

Der Leutnant schien um einen Zoll zu wachsen.

«Es ist Jean Michel Comte de Barras, m'sieu.»

Bolitho hatte noch nie von ihm gehört.

«Danke.»

Leise sagte er zu Herrick:»Gehen Sie in Luv-Position und sorgen Sie dafür, daß sich die Eurotas in Deckung hält, bis ich zurückkomme.»

Dann folgte er mit einem Nicken für die salutierende Seitenwache dem Leutnant ins Boot. Die Matrosen zogen die Riemen gleichmäßig durchs Wasser, nahmen und überwanden jeden Wellenkamm mit geübter Leichtigkeit. Bolitho spürte, wie ihm Gischt erfrischend ins Gesicht sprühte. Der Gischt des endlos weiten Ozeans, auf dem sich durch Zufall zwei Schiffe an einem Punkt trafen: das eines französischen Grafen und eines englischen Kapitäns.

Der Offizier bellte einen Befehl, und die Riemen hoben sich in zwei triefenden Reihen aus dem Wasser, während der Buggast das Boot mit einer schwungvollen Bewegung an der Hauptkette der Narval festhakte. Eine vorzügliche Leistung, aber Bolitho hatte das Gefühl, daß ebensoviel

Angst wie Übung dahintersteckte.

Er hielt seinen Degen fest und zog sich unter den beobachtenden Augen oben an Bord zur Schanzkleidpforte hinauf.

Die große Kajüte der Narval unterschied sich drastisch von Bolithos eigener. Bolitho war von dem französischen Kapitän mit kaum einem Wort an Bord empfangen worden; die Eile, mit der die Begrüßungszeremonie durch die Seitenwache erfolgte, grenzte schon an Unhöflichkeit. Jetzt saß Bolitho in einem prunkvollen, vergoldeten Sessel, die Augen vom grellen Sonnenlicht noch halb geblendet, und musterte seinen Gastgeber zum erstenmal genauer. Der Comte de Barras war sehr schlank und wirkte beinahe mädchenhaft. Sein Uniformrock war leicht ausgestellt und erstklassig geschnitten; jetzt wünschte Bolitho, er hätte sich von Allday nicht zu seinen Alltagsbreeches verleiten lassen. Der einzig weitere Anwesende war ein junger Inder oder Ma-laye, der geschäftig Gläser und ein schön geschnitztes Weinkabinett auf einem der beiden Tische bereitstellte. Die Kajüte war atemberaubend. Zwar hatten auch die Erbauer der Tempest ihr ganzes Können eingesetzt, um die Unterkunft des Kommandanten mit Schnitzarbeiten und den besten Hölzern auszustatten, doch die der Narval konnte man dagegen nur als luxuriös bezeichnen. Schwere Portieren verhüllten die Türen, und die Bodenplanken waren von mehreren großen Teppichen bedeckt, die ein Vermögen gekostet haben mußten.

Bolitho bemerkte, daß Barras auf seine Reaktion wartete. Er sagte:»Sie leben nicht schlecht, capitaine.«De Barras runzelte die Stirn. Vielleicht hatte es seinen Stolz verletzt, daß Bolitho ihn nicht mit seinem Adelsprädikat ansprach, sondern ihm eher wie einem Gleichrangigen gegenübertrat. Doch der Unmut wich schnell, und er setzte sich sehr behutsam in einen zweiten vergoldeten Sessel, ein Gegenstück zu dem, auf dem Bolitho saß.»Ich lebe so gut, wie es unter den frugalen Verhältnissen hier geht. «Er sprach perfekt englisch, nur mit leichtem Lispeln.»Aber nehmen Sie doch ein Glas Wein, äh, Captain. «Scharf beobachtete er den jungen Inder, ob er auch nur einen Tropfen auf den Teppich verschüttete. Das ließ Bolitho mehr Zeit, de Barras zu studieren, nachdem sich seine Augen an das Licht in der Kajüte gewöhnt hatten. Er mochte zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig sein. Mit der feingemeißelten Nase und dem schmalen Kinn sah er eher wie ein eleganter Höfling als wie ein Schiffsführer aus. Er trug eine Perücke, und auch das war ungewöhnlich und verstärkte den Eindruck des Unwirklichen.

Aber der Wein war gut. Mehr als das: ausgezeichnet. Das Kompliment schien de Barras zu behagen.»Mein Vater besitzt viele Weingärten. Dieser Jahrgang verträgt die Reise recht gut. «Wieder das kurze, gereizte Stirnrunzeln — wie Borlase, dachte Bolitho.»Und das muß er auch. Dieses Schiff ist jetzt seit drei Jahren ununterbrochen im Dienst, und seit zwei Jahren bin ich sein Kommandant.«»Verstehe. «Bolitho fragte sich, was dieser Mann in Wirklichkeit von ihm wollte. Er bemerkte, wie sich der junge Diener an de Barras' Seite bereithielt. Er war nicht nur aufmerksam, er war verängstigt.

De Barras fragte beiläufig:»Und was ist Ihr Bestimmungsort?»

Mit Geheimnistuerei war nichts zu gewinnen.»Die Levu-Inseln.»

«Rechnen Sie, äh, mit Schwierigkeiten?«Beiläufig deutete er mit spitzengesäumter Hand hinaus.»Weil Sie im Verband segeln?»

«Wir hatten Schwierigkeiten.»

Bolitho hätte gern gewußt, ob Raymond ein Fernglas auf die Narval gerichtet hielt. Hoffentlich. Hoffentlich kochte Raymond vor Zorn, weil er ausgeschlossen blieb.»Piraten?»

Bolitho lächelte leise.»Wie ich sehe, überrascht Sie das nicht.»

Darauf war der französische Kapitän nicht gefaßt gewesen.»Ich bin nur neugierig. «Er boxte den jungen Diener scharf gegen die Schulter.»Mehr Wein!»

«Und Sie sind auf dem Weg nach Neusüdwales?«fragte Bolitho.

«Ja. «De Barras stand auf, trat schnell ans Querschott und zog einen Vorhang zurecht.»Ungeschicktes Pack! Sie leben wie die Schweine und haben keinen Sinn für das Schöne. «Doch dann unterdrückte er seine plötzliche Gereiztheit und setzte sich wieder.»Ich möchte — Ihrem Gouverneur meine Aufwartung machen und dort Vorräte ergänzen. «Bolitho bewahrte ein Pokergesicht. Der Gouverneur würde bestimmt in die Luft gehen, wenn er eine französische Fregatte in seinem Hafen sah.

De Barras fuhr ruhig fort:»Ich bin auf der Suche nach einem gewissen Piraten, schon seit Monaten. Er ist Engländer, aber nichtsdestoweniger ein Pirat. Wir haben beide die gleiche Aufgabe: ihn zu vernichten, wie, m'sieu?«Das schien ihn zu amüsieren.»Er machte die Karibische See von La Guaira bis Martinique unsicher. Ich verfolgte ihn nach Port of Spain und verlor ihn aus den Augen, nachdem er dort in der Nähe ein Dorf überfallen und gebrandschatzt hatte. «Seine Brust hob sich erregt.

Wie ein verzogenes Kind, dachte Bolitho. Äußerlich mochte er gebrechlich scheinen, aber unter der Haut war er gefährlich wie eine Schlange.

«Für einen einzelnen ist das schwierige Arbeit«, antwortete Bolitho. Er suchte nach einem Hinweis auf den Grund für de Barras' Vertraulichkeit.

«Er zieht eben andere an. «De Barras schlürfte genüßlich Wein.»Er selbst ist ohne jede Loyalität, kann sie aber in anderen wecken. Ich wollte das dem Gouverneur von Neusüdwales erklären, aber offenbar ister besser informiert, als mir bewußt war. «Er kam zu einem Entschluß.»Dieser Pirat heißt Tuke. Und er hat einen Mann bei sich, der von Martinique nach Frankreich deportiert werden sollte. Das war eine meiner Aufgaben. «Er spie die Worte förmlich aus.»Dieser cochon Tuke verhalf ihm zur Flucht, und jetzt dient er in dessen übler Mannschaft.«»Darf ich fragen, wer dieser Mann ist?«»Spielt keine Rolle. «De Barras hob die Schultern.»Ein Verräter Frankreichs, ein Agitator. Er muß dingfest gemacht und bestraft werden, ehe er weiteres Unheil anrichten kann. «Als Bolitho dazu schwieg, fügte de Barras heftig hinzu:

«Das liegt auch im Interesse Englands. Dieser Verräter wird mit Tukes Hilfe den Aufruhr schüren und immer mehr Schiffe und Inseln überfallen und ausrauben, je größer seine Macht wird. «Er tupfte sich ein Schweißtröpfchen vom Kinn.»Es ist einfach Ihre Pflicht!»

Ein Schatten fiel in die Kajüte, und als Bolitho sich nach den Fenstern umdrehte, glaubte er, eine Geistererscheinung aus einem Alptraum vor sich zu sehen. Draußen hing ein Mann, oder vielmehr das, was von ihm übrig war. Er baumelte an seinen Handgelenken, die Füße waren mit einem Strick gefesselt, der zum Ruder hinunterführte. Der Körper war übersät mit blutigen Rissen und tiefen, klaffenden Wunden. Ein Auge war aus der Höhle gerissen, das andere starrte blicklos in die Fenster, während der Mund wie ein schwarzes Loch gähnte.

De Barras war nahezu außer sich vor Wut. »Mon Dieu!«Er stieß den verstörten Diener auf die Tür zu und schickte ihm wütende Drohungen nach.

Von oben erklangen Stimmen, und der verstümmelte Körper verschwand schnell aus dem Blickfeld. Bolitho saß erstarrt in seinem Sessel. Er wußte, was da vorgegangen war: der barbarische alte Brauch des Kielholens. Einen Mann auf diese Weise zu bestrafen, hieß, ihn zu einem gräßlichen Tode verdammen. Das Opfer wurde am Bug zu Wasser gelassen und unter Wasser den Kiel entlanggezogen. Jetzt, nach dreijährigem Einsatz, mußten Kiel und Unterwasserschiff der Narval, ob kupferbeschlagen oder nicht, mit messerscharfen Muscheln bewachsen sein, die einen Menschen zerfleischen konnten, falls er nicht den Mut besaß, sich selbst zu ertränken.

Bolitho stand auf.»Ich verlasse Sie jetzt, m'sieu le Comte«, sagte er.»Wie Sie soeben ausführten, habe ich Pflichten zu erfüllen. Wenn Sie mich also entschuldigen wollen?«Angeekelt und empört, wandte er sich zur Tür. De Barras starrte ihn an.»Der Mann war ein Unruhestifter. Unverschämtheiten dulde ich nicht. Ein dreckiges, primitives Schwein!»

Bolitho trat ins Sonnenlicht hinaus. Er dachte an Le Chaumareys, dessen unerschütterlicher Mut die Besatzung inspiriert und zusammengehalten hatte. Im Vergleich zu ihm war de Barras ein Ungeheuer, ein bösartiger Tyrann, der das Kommando über die Narval vermutlich nur erhalten hatte, damit er Frankreich fernblieb.

An der Pforte sagte de Barras scharf:»Sparen Sie Ihren Zorn für den Feind auf!«Und sowie Bolitho den ersten Schritt von Bord machte, drehte er sich auf dem Absatz um und stelzte zur Kampanje zurück.

Derselbe Leutnant begleitete Bolitho zurück. Als sie beinahe längsseit der Tempest waren, fragte Bolitho ihn:»Wird Ihr Schiff so befehligt — durch Terror?«Der junge Offizier starrte ihn nur an, aber sein Gesicht war unter der Sonnenbräune blaß.

Bolitho erhob sich, es drängte ihn, auf sein Schiff zurückzukommen. Doch er fügte noch hinzu:»Denn wenn dem so ist, dann sehen Sie sich vor, daß der Terror nicht auch Sie verschlingt.»

Nur Minuten nach seiner Rückkehr erhielt Bolitho ein Signal von Raymond: die Aufforderung, ihn unverzüglich aufzusuchen.

Obwohl Bolitho noch aufgewühlt war von den Ereignissen an Bord der französischen Fregatte, erfüllte ihn das dennoch mit einer gewissen Befriedigung. Wie er vorausgesehen hatte, bestand Raymond darauf, daß er an Bord des Frachters kam, auch wenn er dabei Viola begegnen konnte. Raymond mußte demonstrieren, daß er und nicht Bolitho die Befehlsgewalt in Händen hielt, und seine Neugier tat ein übriges.

Herrick beobachtete ihn besorgt, als er sich abermals für eine Überfahrt vorbereitete, diesmal in seiner eigenen Gig. Bolitho zog sich saubere Breeches an und schilderte dabei de Barras und die Tyrannei an Bord der Narval. Er nahm an, daß Herrick de Barras mit dem Kapitän der Phalarope verglich, auf der sie sich kennengelernt hatten. War das erst vor sieben Jahren gewesen? Es schien kaum möglich. Sie hatten so vieles zusammen gesehen und erlebt. Herrick sagte schließlich:»Abscheulich, auch nur davon zu hören. Ich jedenfalls werde mich sehr viel wohler fühlen, wenn seine Obersegel unter dem Horizont verschwinden.»

«Ich möchte wetten, daß Sie diesbezüglich enttäuscht werden, Thomas.»

Bolitho nahm von Noddall ein Glas Wein entgegen. Er wollte damit ebensosehr den Nachgeschmack des Franzosen herunterspülen wie das Salz, das ihm in der Kehle saß. Herrick sah ihn überrascht an.»Aber Sie sagten doch, die Narval wolle nach Neusüdwales segeln. «Bolitho schob sein Halstuch zurecht und lächelte grimmig.»Sie wollte. Ich vermute, daß de Barras auf glühenden Kohlen sitzt, bis er diesen geheimnisvollen Franzosen wieder eingefangen hat. Dafür sieht er in uns einen Bundesgenossen. Vielleicht hat er recht. «Er griff nach seinem Hut.»Nun?»

Herrick seufzte.»Schon gut, Sir. «Weitere Warnungen schienen keinen Sinn zu haben, denn Bolithos Augen leuchteten heller als seit langer Zeit. Er folgte Bolitho zur Einstiegspforte und stand neben ihm über der dümpelnden Gig. Ein schneller Blick nach achtern verriet Herrick, daß Keen und Lakey und selbst der junge Midshipman Swift auf der Lauer lagen und wie eingeweihte Verschwörer grinsten. Es deprimierte ihn. Sie verstanden nicht, daß es hier nicht nur um ein Wiedersehen ging, sondern auch um eine Karriere.

Borlase stand an der Pforte der Eurotas, um Bolitho zu begrüßen; seine kindlichen Gesichtszüge waren bemüht ausdruckslos.

Bolitho blickte sich auf dem Hauptdeck um und bemerkte dankbar, daß unter dem Ersatz für die Getöteten oder Verletzten eine ganze Anzahl fähiger und erfahrener Seeleute war. In jedem abgelegenen Hafen, selbst einem so jungen wie Sydney, schien es immer einige zurückgebliebene Matrosen zu geben, die bereit waren, es noch einmal mit einem unbekannten Schiff zu versuchen. Nur dieses eine Mal noch. Alle Seeleute sagten das.»Wie geht es den Gefangenen, Mr. Borlase?«»Ich habe sie entsprechend Ihrer Anregung in kleinen Gruppen zur Arbeit eingesetzt, Sir. «Da schwang Mißbilligung mit.»Gut.»

Vielleicht drückte Borlase die Verantwortung für die Sicherheit. Oder vielleicht meinte er, die Sträflinge sollten eingepfercht werden wie bisher. Doch sobald sie an Land kamen, benötigten sie ihre volle Gesundheit und Beweglichkeit, um am Leben zu bleiben. Sie traten in den Schatten des Hüttendecks und gingen nach achtern zur Kapitänskajüte.

Raymond wartete am Schreibtisch, seine Gestalt hob sich nur als Silhouette vor dem Sonnenglast ab, der durch die hohen Fenster hereinströmte.

Er sagte schroff:»Sie bleiben anwesend, Mr. Borlase. «Bolitho wartete unbewegt. Raymond hielt den Leutnant als Schutz oder als Zeugen zurück — oder als beides.»Nun, Captain?«Raymond lehnte sich zurück, die Fingerspitzen gegeneinander gepreßt.»Vielleicht sind Sie jetzt so freundlich, mich über Ihre Zusammenkunft mit dem Kapitän der Narval zu unterrichten.«»Ich hätte Ihnen einen schriftlichen Bericht vorgelegt.«»Davon bin ich überzeugt. «Es klang sarkastisch.»Aber schildern Sie mir jetzt schon das Wichtigste. «Borlase schien seinem Kommandanten einen Sessel bereitstellen zu wollen, aber nach einem Blick auf Raymond gab er diese Absicht auf.

Merkwürdigerweise fühlte Bolitho sich durch Raymonds Verhalten erleichtert. Da blieb kein Raum für Vorspiegelungen, für eine Änderung ihrer Beziehungen. Er lauschte seiner eigenen Stimme, als er kurz darlegte, was zwischen ihm und dem Franzosen vorgegangen war: nüchtern, ohne Emotion, wie eine Aussage vor dem Kriegsgericht.

Raymond schob das Kielholen beiseite als» eine Angelegenheit, über die jedes Land selbst entscheiden muß».

Bolitho sagte ruhig:»Frankreich hat darüber schon lange entschieden. Aber hier draußen verkörpert de Barras sein Land.»

«Das betrifft mich nicht. «Raymonds Fingerspitzen trommelten in einem lautlosen Wirbel gegeneinander.»Aber die Narval geht mich ganz gewiß etwas an.»

«Er wird es nicht wagen…«Bolitho kam nicht weiter, denn Raymond fuhr dazwischen.

«Also wirklich, ihr Seeoffiziere seid einer wie der andere. Wir befinden uns nicht mehr im Krieg mit Frankreich. Sie müssen sich an Ihre neue Rolle gewöhnen — oder sie gegen eine andere tauschen. «Seine Stimme wurde lauter und schärfer. Es war, als hätte er für einen solchen Augenblick geprobt.»Mit französischer Hilfe können wir alle Möglichkeiten für den Ostindienhandel und dessen gemeinsame Verteidigung sondieren. Die Beseitigung der Piraterie, zum Beispiel. Die Überwachung größerer Seegebiete im gemeinsamen Interesse. Wenn wir eines Tages gezwungen sein sollten, wieder gegen Frankreich zu kämpfen, dann sind wir aufgrund dieser Kooperation in einer besseren Situation. Man muß die Konkurrenz kennen, jeder Kaufmann weiß das. Ein Jammer, daß die Leute, die mit unserem Schutz betraut sind, sich nicht auch dazu verstehen können.»

In der plötzlich eintretenden Stille konnte Bolitho seinen Herzschlag spüren, aber er hielt sich zurück. An der Art, wie Borlase zwischen ihm und Raymond hin und her blickte, erkannte er, daß der Leutnant seinen Konterschlag erwartete. Das war eine bewußte Beleidigung gewesen, doppelt schwerwiegend, da Bolithos Leute mit nicht geringem Risiko Raymond das Leben gerettet und ihm seine Freiheit zurückgewonnen hatten.

Raymond runzelte die Stirn.»Haben Sie nichts zu erwidern?»

«Von Kaufleuten verstehe ich nur wenig, Sir. Aber ich kann einen Freund von einem Feind unterscheiden.»

Borlase wechselte hörbar seinen Stand.

Raymond sagte:»Jedenfalls haben Sie die Narval mit frischen Aversionen gegen uns weiterfahren lassen.»

«Ich erwarte, daß de Barras sich in unserer Nähe halten wird, Sir. Er ist entschlossen, seinen Gefangenen zurückzuholen, und falls wir auf den Piraten Tuke stoßen,

bekommt er eine gute Chance dafür.»

«Richtig. Wenn Tuke gehenkt und dieser Renegat wieder in

Ketten ist, mag dadurch einiges wieder gutgemacht werden. «Er legte eine Pause ein, um abzuwarten, ob Bolitho den Köder aufnehmen würde. Doch als Bolitho ungerührt schwieg, fragte Raymond schroff:»Wann erwarten Sie, Land zu sichten?»

«Wenn der Wind so bleibt, dauert es keine drei Wochen. Andernfalls kann es zwei Monate dauern. «Es war sinnlos, die unterschiedliche Geschwindigkeit der beiden Schiffe hervorzuheben. Aber er durfte auch nicht zu optimistisch sein. Raymond wartete nur auf eine schwache Stelle, einen Fehler.

Raymond zog seine Uhr und sagte zu Borlase:»Sagen Sie meinem Diener, er soll Wein bringen. «Und kühl zu Bolitho:»Ich bin sicher, daß meine Frau uns gern Gesellschaft leisten will. «Er sah sich in der Kajüte um.»Hier ganz bestimmt. «Bolitho wandte sich ab. Er hätte damit rechnen müssen: Raymonds Trumpfkarte war ausgespielt. Für Borlase mochte es wie eine selbstverständliche, formale Einladung geklungen haben, auf gutem Brauch oder Höflichkeit beruhend: der hohe Beamte, der den Kommandanten seiner Eskorte mit Wein bewirtete. Aber die Art, wie Raymond das Wort >hier< hervorgehoben hatte… Bolitho brauchte keinen weiteren Hinweis. Denn hier in der Kajüte war Bolitho mit Raymonds Frau zusammengekommen, hatte sie umarmt, um das Entsetzen und die Verzweiflung ihrer Gefangenschaft auf der Eurotas zu lindern; hatte die Brandnarbe auf ihrer Schulter geküßt. Es war der Ort, wo sie sich mit aller Leidenschaft und Einfalt geliebt hatten.

Die Tür ging auf, und Viola trat in die Kajüte. Trotz ihrer täglichen Spaziergänge an Deck war sie blaß und hatte Ringe unter den Augen, was Bolitho schmerzlich berührte.»Ein Gast, meine Liebe. «Raymond erhob sich halb, ließ sich aber gleich wieder zurücksinken. Auch ein rotröckiger Hauptmann der Miliz, der mit seinem Kommando die Sträflinge an Bord bewachte, folgte Borlase in die Kajüte. Ohne die geringste Ahnung von der dramatischen Situation strahlte er Bolitho und den Wein an: noch ein Zeuge.

Bolitho ging durch die Kajüte und ergriff Violas Hand. Als er sie an die Lippen hob, blickte er ihr ins Gesicht. Leise sagte sie:»Ich freue mich, Sie wiederzusehen, Captain. «Sie warf den Kopf zurück.»Es ist lange her.«»Auf das Wohl des Königs!«Borlases Stimme klang, als würge seine Halsbinde ihn. Er wenigstens erriet, was hier vorging.

«Auf den König!«Raymond nippte an seinem Glas.»Wenn ich meinen Auftrag hier erfüllt habe, wird man im Palast von St. James vielleicht bereit sein, mir eine angemessene Position in London anzubieten.»

Bolitho beobachtete ihn. Wieder ein Hinweis für Borlase und den Hauptmann, daß Raymond ein einflußreicher Mann war und keiner, den man gegen sich aufbringen sollte. Überraschenderweise dachte Bolitho plötzlich an seinen toten Bruder Hugh, der immer hastig in seinen Reaktionen gewesen war, immer vorprellte. In dieser Situation hätte er höchstwahrscheinlich nach einem» Ehrengrund «gesucht, der es ihm ermöglichte, Raymond zum Duell zu fordern. Er hätte sich nicht damit aufgehalten, die Konsequenzen zu bedenken.

Bolitho bemerkte, daß Viola quer durch den Raum gegangen war und Raymond absichtlich den Rücken kehrte. Sie fragte:»Kennen Sie diese Inseln, Captain?«Aber ihre Blicke erforschten sein Gesicht, seinen Ausdruck; verzehrten ihn.»Ein wenig. Mein Steuermann ist besser informiert. «Er senkte die Stimme.»Bitte schonen Sie sich, wenn Sie an Land sind. Das Klima ist grausam, selbst für jemanden wie Sie, der weite Reisen gewöhnt ist.»

«Pardon, das habe ich nicht verstanden. «Raymond stand auf und stieß gegen den Schreibtisch, als das Schiff krängte. Dann fügte er hinzu:»Ich glaube, der Wind frischt auf, Captain.»

Bolitho sah ihn kalt an.»Ja. Mr. Borlase, würden Sie bitte nach meiner Gig signalisieren?»

Unter der Tür zögerte er. Er wußte, daß er geschlagen war, noch ehe der Kampf richtig begonnen hatte. Raymond nickte kurz.»Ich hoffe, daß der Wind günstig bleibt. «Und dann lächelnd:»Warum begleitest du den tapferen Kapitän nicht zu seinem Boot, meine Liebe?»

An Deck herrschte drückende Hitze, und der Seegang war stärker geworden. Die Tempest stand in Luv, ihre Segel killten unordentlich, als sie beigedreht auf seine Rückkehr wartete. Das französische Schiff war bereits weit entfernt, mit prall gefüllten Segeln offensichtlich unterwegs zu seinem ursprünglichen Ziel.

Bolitho sah das alles und nahm doch nichts davon wahr. Er stand vor dem Schanzkleid, blickte ihr in die Augen und sah, wie sich ihr Haar löste und wie flüssige Bronze im Wind wehte.

«Ich ertrage es nicht, Viola. Ich komme mir vor wie ein Verräter. Ein Possenreißer.»

Sie legte ihm eine Hand auf den Arm.»Er reizt dich nur. Aber du bist so viel stärker. «Sie hob die Hand zu seinem Gesicht, ließ sie aber vorher sinken.»Mein geliebter Richard. Ich kann es nicht ertragen, dich so traurig zu sehen, so verzweifelt. Ich bin noch voller Glück über unser Wiedersehen. Nun können wir gewiß nicht wieder getrennt werden. Nie wieder. «Sie hob das Kinn.»Lieber wollte ich sterben.»

«Boot längsseit, Sir!»

Raymonds Schritte scharrten über Deck, und Bolitho sah, daß er sie von der Kampanje her beobachtete. Sie jetzt einfach in die Arme reißen zu können, und zur Hölle mit Raymond und allen anderen! Noch als er das dachte, versagte Bolitho sich diesen Traum. Raymond würde alle Macht einsetzen, um sie hier draußen festzuhalten. Wie eine schöne Gefangene, ein Stück Besitz. Bolitho lüftete den Hut, das Haar wurde ihm in die Stirn geweht.»Hab' Geduld, Liebste. Noch bin ich nicht soweit, daß ich zurückschlagen kann.»

Dann kletterte er mit einem Kopfnicken für Borlase in das schwankende Boot hinab.

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