Kapitel 10

Frank folgte mir am nächsten Morgen ins GUM.

Nachdem ich, ohne mich einmal umzusehen, durch den Haupteingang gegangen war, blieb ich im Schatten stehen und wartete. Sehr bald tauchte er auf, ziemlich in Eile.

Beim Frühstück hatte ich auf Nataschas Drängen erklärt, daß ich mich mit weiteren Pferdeleuten treffen würde, aber vorher im GUM eine neue Pelzmütze kaufen wollte, da ich die andere verloren hätte. Frank hatte ganz leicht die Stirn gerunzelt und mich leicht forschend angesehen. Ich wußte noch, daß ich die Mütze getragen hatte, als er mir am Vorabend ins Hotel gefolgt war, nachdem ich mich ostentativ von Stephen verabschiedet hatte. Wie vorsichtig man auch mit den harmlosesten Bemerkungen sein mußte, dachte ich.

»Wo haben Sie denn Ihre Mütze verloren?« fragte er und zeigte dabei nur freundliches Interesse.

»Ich habe sie wohl in der Eingangshalle oder im Fahrstuhl fallen lassen«, sagte ich leichthin. »Ich weiß es wirklich nicht.«

Natascha schlug vor, am Empfang nachzufragen. Ich sagte ja und tat es auch. Man lernte. Vielleicht nicht schnell genug, aber irgendwann doch.

Als Frank ein Stück weg war, sah ich mich um und erblickte sofort eine rote Wollmütze mit weißem Pompon. Unter der Mütze waren zwei blaugraue Augen in einem reizenden Gesicht und glattes Haar, von dem sich einige Strähnen selbständig gemacht hatten. Für eine verheiratete Mutter wirkte sie zu jung und zu schmächtig, und ich begriff, warum eine Wohnung im neunten Stock ohne

Aufzug die schiere Katastrophe war.

»Jelena?« fragte ich zaghaft.

Sie nickte unmerklich, drehte sich um und ging zielstrebig voran. Ich folgte ihr in einiger Entfernung. Um mit einem Ausländer zu sprechen, mußte sie den richtigen Augenblick abwarten, und mir war es recht, wenn es nicht in Franks Sichtweite geschah.

Sie trug einen grauen Mantel, einen roten Schal, keck über die Schulter geworfen, und eine Einkaufstasche, in der ein eingewickeltes Paket lag. Ich verkürzte den Abstand zwischen uns und murmelte nur für sie hörbar: »Ich möchte eine Pelzmütze kaufen.« Sie ließ sich nichts anmerken, aber als sie stehenblieb, war es tatsächlich vor einem Laden, der Pelzmützen verkaufte.

Das GUM ist kein Kaufhaus im westlichen Sinn, sondern mehr wie ein orientalischer Bazar; eine große Anzahl kleiner Läden unter einem Dach. Ein überdachter Markt, zwei Stockwerke hoch, mit Zwischengängen und einem hohen Glasdach. Geschmolzener Schnee fiel in Tropfen durch Risse in der Decke und bildete kleine Pfützen auf dem Boden.

Ich kaufte eine Mütze. Jelena wartete draußen auf dem Gang, bekundete keinerlei Interesse an mir und ging weiter, als ich herauskam. Ich sah mich nach Frank um, aber zahlreiche Käufer versperrten die Sicht; und das galt für beide Seiten. Wenn ich ihn nicht sehen konnte, konnte er mich wahrscheinlich auch nicht sehen.

Jelena quetschte sich durch eine lange Schlange gleichmütig wartender Leute und blieb vor einem Laden mit Kunsthandwerk stehen. Ohne weitere Umstände und kaum wahrnehmbar drückte sie mir die Plastiktasche in die Hand. Ihr Blick ruhte auf den im Fenster ausgestellten Waren, nicht auf mir.

»Mischa sagen, dir das geben.« Ihr Akzent war reizend, aber aus der Mißbilligung in ihrer Stimme schloß ich, daß sie diesen Auftrag nur ihrem Bruder zuliebe ausführte, nicht meinetwegen.

Ich dankte ihr für ihr Kommen.

»Bitte, ihm keine Schwierigkeiten machen.«

»Bestimmt nicht, das verspreche ich«, sagte ich.

Sie nickte, warf mir einen raschen Blick zu und sah wieder weg.

»Jetzt bitte gehen«, sagte sie. »Ich anstellen.«

»Wonach stehen die Leute an?«

»Stiefel. Warme Stiefel, für Winter.«

Ich betrachtete die Schlange, die sich ein gutes Stück durch einen der Gänge im Erdgeschoß, eine Treppe hoch und über die Galerie im ersten Stock erstreckte. Ihr Ende war nicht zu sehen. Sie war seit fünf Minuten keinen Schritt vorwärts gekommen.

»Aber Sie werden den ganzen Tag brauchen«, sagte ich.

»Ja. Ich brauchen Stiefel. Wenn Stiefel kommen in Laden, alle kommen kaufen. Ist normal. In England Bauern haben keine Stiefel. In Sowjetunion wir haben Glück.«

Sie ging ebenso grußlos wie ihr Bruder in der Metro und stellte sich ans Ende der geduldigen Menschenschlange. Das einzige, wofür Englands barfüßige Bauernschaft meiner Ansicht nach den ganzen Tag geduldig Schlange stehen würde, waren Karten für das Pokalfinale.

Ein Blick in das Päckchen zeigte, daß es sich bei dem, was Mischa geschickt oder was Jelena gebracht hatte, um eine Holzpuppe handelte.

Irgendwo zwischen dem GUM und dem Fußgängertunnel unter dem Platz des Fünfzigsten Jahrestages et cetera holte Frank mich wieder ein. Ein rascher Blick über die Schulter zeigte mir seinen Lockenkopf und den gestreiften Schal in der Menge. Hätte ich mich nicht umgesehen, hätte ich ihn nicht bemerkt.

Es war schon nach zehn. Ich beschleunigte meinen Schritt, schaffte die Strecke ziemlich schnell, kam an der Nordseite des Platzes nach oben und bog nach links Richtung Hotel National ab. Gleich neben dem Eingang parkte ein kleiner, knallgelber Wagen, darin ein riesiger Russe in höchster Aufregung.

»Sieben Minuten zu spät«, begrüßte er mich. »Sieben Minuten ich sitze hier illegal. Einsteigen, einsteigen und kein Entschuldigen.«

Ich gehorchte, und mit krachendem Getriebe und in schöner Mißachtung der anderen Verkehrsteilnehmer schoß er davon.

»Sie waren im GUM«, sagte er vorwurfsvoll. »Deshalb Sie zu spät.«

Ich folgte seinem Blick, und seine Hellsichtigkeit überraschte mich nicht mehr: Er sah auf das Papier in der Einkaufstüte, die Jelena mir gegeben hatte. Wie umsichtig von ihr, dachte ich, Mischas Souvenir in ein zum Treffpunkt passendes Papier zu wickeln und sie in eine Tüte zu tun, die jeder Tourist bekommen konnte. Zudem eine, die Freund Frank nicht verdächtig vorkommen würde, dachte ich zufrieden. Das Geheimnis des Überlebens in Rußland hieß Unauffälligkeit.

Juri Iwanowitsch Chulitskij erwies sich in der Zeit, die ich mit ihm verbrachte, als ein hochintelligenter Mann mit einer schuldbewußten Neigung zum Luxus und einem unterdrückten Sinn für Humor. Der falsche Mann für das Regime, der sich bemühte, in seinem Rahmen ehrenhaft zu leben, fand ich. In einem Land, wo eine eigene Meinung, selbst unausgesprochen, Verrat bedeutete, war er ein unfreiwilliger geistiger Verräter. Nicht zu glauben, was man glaubt glauben zu müssen, ist eine Qual so alt wie die Doktrin, und Juri Chulitskij litt schrecklich darunter, wie ich feststellen konnte.

Ansonsten war er ungefähr vierzig, rundlich, untrainiert, und unter seinen Augen bildeten sich bereits Tränensäcke. Er hatte die Angewohnheit, die Oberlippe zu spitzen, so daß die Schneidezähne zu sehen waren. Er sprach mit Entschiedenheit, formte die Worte sorgfältig und präzis, was jedoch daran liegen mochte, daß er Englisch sprach, und erweckte, wie schon am Telefon, den Eindruck, daß jede Äußerung zweimal überlegt wurde, bevor sie entschlüpfen durfte.

»Zigarette?« Er bot mir eine Packung an.

»Nein, danke.«

»Ich rauche«, sagte er und ließ mit der Geschicklichkeit langjähriger Übung sein Feuerzeug aufschnappen. »Sie rauchen?«

»Zigarren, aber nicht oft.«

Er knurrte. Die Finger der linken Hand, die auf dem Steuer lagen und zwischen denen er die Zigarette hielt, waren gelblich verfärbt, ansonsten waren seine Finger weiß und geschmeidig, mit breiten Spitzen und kurzen, wohlgepflegten Nägeln.

»Ich gehe Olympiabau ansehen«, erklärte er. »Sie kommen?«

»Klar«, antwortete ich.

»In Chertanowo, für Reiterspiele. Ich Architekt. Ich entwerfen Bau in Chertanowo. Heute ich gehen Fortschritt sehen. Verstehen?« »Jedes Wort«, versicherte ich.

»Gut. Ich sehen, in England wie Reiterspiele gehen. Ich sehe Notwendigkeit für Art Gebäude ...« Er verstummte und schüttelte deprimiert den Kopf.

»Sie haben sich angesehen, was bei internationalen Reiterveranstaltungen abläuft, um zu erfahren, was für Gebäude man dafür braucht und wie man sie gestalten sollte, damit sie den Bedürfnissen und Teilnehmerzahlen der Olympiade gerecht werden.«

Er grinste schief. »Ist richtig. Ich auch gehen nach Montreal. Nicht gut. Olympiade Moskau - wir bauen sehr gut.«

Das gemütliche Einbahnstraßensystem im Stadtgebiet Moskaus lief für mich darauf hinaus, daß man kilometerlange Umwege fuhr, die einen schließlich, freilich aus der umgekehrten Richtung, wieder zum Ausgangspunkt zurückbrachten. Juri Chulitskij sauste mit seinem hellen kleinen Gefährt um die Kurven, ohne spürbar den Fuß vom Gas zu nehmen, und es wirkte fast so, als wäre die Karosserie des Wagens nicht viel mehr als ein Blechmantel um seinen massigen Körper.

Plötzlich, an einer Straßenkreuzung, wurden wir von einem Polizisten gestoppt. Juri Chulitskij zuckte die Schultern und stellte den Motor ab.

»Was ist los?« fragte ich.

Die Hauptstraße war vollkommen vom Verkehr geräumt worden. Nichts rührte sich darauf. Chulitskij sagte leise etwas, und so fragte ich noch einmal: »Was ist los? Hat es einen Unfall gegeben?«

»Nein«, sagte er. »Sehen Linien auf der Straße?«

»Sie meinen die weißen da?«

In der Straßenmitte waren im Abstand von etwa zwei

Metern zwei parallele weiße Linien aufgemalt. Sie waren mir schon auf vielen der breitesten Straßen aufgefallen, aber ich hatte sie bloß für eine Art Niemandsland zwischen den Verkehrsspuren gehalten.

»Weiße Linien führen zu Kreml«, erklärte Chulitskij. »Politbüroleute fahren in weiße Linien zu Kreml. Alle Leute müssen anhalten.«

Nach drei oder vier Minuten tauchte ein langer, schwarzer Wagen auf und fuhr in einsamer Pracht ziemlich schnell in der Mitte der Straße, zwischen den weißen Streifen.

»Chaika«, sagte Chulitskij, als die Limousine mit zugezogenen Vorhängen an den rückwärtigen Fenstern vorbeifuhr. »Ist offizieller Wagen. Chaika in Englisch ist Seemöwe.«

Er startete den Motor, und gleich darauf gab der Polizist den Verkehr wieder frei.

»War das der Vorsitzende?« wollte ich wissen.

»Nein. Viele Politbüroleute fahren in Chaika zwischen weißen Linien. Alle anderen Wagen halten immer an.«

Demokratisch, dachte ich.

Der kleine gelbe Wagen sauste südlich der Stadt auf einer Straße dahin, die, wie er sagte, nach Warschau führte, sich für meine Augen jedoch schlicht als M4 auswies.

»Nikolai Alexandrowitsch Kropotkin sagt, helfen. Sie fragen, ich antworten«, eröffnete er schließlich das Gespräch.

»Ich suche nach einem gewissen Aljoscha.«

»Aljoscha? Viele Leute in Rußland heißen Aljoscha. Nikolai Alexandrowitsch sagen, Aljoscha finden für Randall Drew. Wer ist dieser Aljoscha?«

»Das ist das Problem«, sagte ich. »Ich weiß es nicht, und ich habe es auch nicht feststellen können. Niemand scheint zu wissen, wer es ist.« Ich hielt inne. »Haben Sie in England Hans Kramer kennengelernt?«

»Ja. Deutscher. Er tot.«

»Richtig. Nun ... er kannte Aljoscha. Die Autopsie besagt, er starb an einem Herzanfall, aber Leute, die dabei waren, als er starb, glauben, er sagte, Aljoscha sei an seinem Herzanfall schuld. Ah ... habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

»Ja. Ist klar. Wegen Aljoscha, ich kann nicht helfen.«

Wahrscheinlich hätte es mich überrascht, wenn er etwas anderes gesagt hätte.

»Hat man Sie schon mal nach Aljoscha gefragt?«

»Bitte?«

»Ein Engländer hat Sie im Haus des Olympiakomitees aufgesucht. Sie und Ihre beiden Kollegen, die mit in England waren.«

»Ist richtig«, gab er mürrisch zu. »Schreibt für Zeitung.«

»Malcolm Herrick.«

»Da.«

»Sie alle haben ihm gesagt, sie wüßten überhaupt nichts.«

Lange Pause, dann sagte er: »Herrick Ausländer. Genossen nichts sagen zu Ausländer.«

Wieder verfiel er in Schweigen. Wir fuhren in gleichmäßigem Tempo über die Autobahn nach Warschau, ließen das Stadtzentrum allmählich hinter uns und näherten uns einer weiteren Siedlung von eierschachtelhafter Einförmigkeit. Leichter Pulverschnee begann zu fallen, und Juri machte die Scheibenwischer an.

»Heute, morgen, es schneit. Dieser Schnee nicht schmelzen. Bleibt ganzen Winter. Schlecht für Bauen.«

»Mögen Sie den Winter?« fragte ich.

»Nein. Winter ist schlecht für Bauen. Heute ist letzter Tag wo möglich Fortschritte sehen von Gebäude in Chertanowo. Also ich fahren heute.«

Ich sagte, ich würde die Gebäude sehr gern sehen, wenn er mich herumführen wolle, und er lachte einmal kurz und kehlig auf, gab jedoch keine Erklärung dafür.

Ich fragte, ob er Hans Kramer persönlich gekannt hätte, aber er hatte mit ihm nur über Bauten gesprochen. »Und ... Johnny Farringford?« fragte ich.

»Johnny ... Farringford. Sie sagen Lord Farringford? Ist Mann mit rote Haar? Reitet in britische Team?«

»Das ist er.«

»Ich sehen ihn viele Male. Viele Orte. Ich sprechen mit ihm. Ich fragen ihn wegen Bauten. Er weiß nichts von Bauen. Ich fragen andere Leute. Andere Leute mehr gut.« Er unterbrach sich, offenbar wenig beeindruckt von den planerischen Fähigkeiten des Grafen, und wir fuhren in tiefem Schweigen vier oder fünf Meilen, auf denen er tief über alles andere als meinen Auftrag nachzusinnen schien. Schließlich, als sei er zu einem schwierigen Entschluß gekommen, sagte er: »Ist nicht gut, wenn Lord Farringford zu Olympiade kommt.«

Ich hielt den Atem an. Drängte alle raschen, aufgeregten Fragen zurück, und schließlich gelang es mir, vollkommen gelassen zu fragen: »Warum?«

Er war jedoch bereits wieder tief in Gedanken versunken.

»Sagen Sie es mir«, bat ich, ohne zu drängen.

»Für mein Land ist gut, wenn er kommt. Für Ihr Land es ist nicht gut. Wenn ich Ihnen sage, ich spreche gegen mein Land. Ist schwer für mich.«

»Ja«, sagte ich.

Nach längerer Zeit bog er plötzlich von der Landstraße ab, auf eine weniger gute, aber immer noch zweispurige Straße. Es herrschte wie üblich sehr wenig Verkehr, und er fuhr ohne große Umstände eine Kehre über den reservierten Mittelstreifen, so daß wir wieder in der Richtung standen, aus der wir gekommen waren. Er fuhr rechts heran und hielt mit einem Ruck.

Links der Straße standen, so weit das Auge reichte, grauweiße Wohnhäuser. Rechts eine weite, ebene, verschneite Fläche, die an einen Wald dicht zusammenstehender, dürrer junger Bäume grenzte. Auf der Straßenseite war sie durch einen hohen Zaun abgegrenzt, und zwischen Zaun und Straße verlief ein breiter Graben voller Schneematsch.

»Ist hier«, sagte Juri und deutete mit einem Anflug gelassenen Humors in diese alles andere als vielversprechende Landschaft.

»Olympische Reiterspiele.«

»Großer Gott«, entfuhr es mir.

Wir stiegen aus dem Auto in die bittere Kälte. Ich schaute die Straße hinunter in die Richtung, in die wir ursprünglich gefahren waren. Dort gab es hohe Flutlichtmasten aus Beton, Strommasten, dichten schwarzen Wald zur Linken, weiße, nicht enden wollende, unpersönliche Wohnblocks, eine graue, vierspurige Straße ohne Verkehr und daneben nassen, weißen Schnee. Alles war still und häßlich und so verlassen wie eine Einöde. Über allem rieselte der Vorläufer der winterlichen Kälte.

»In Sommer«, erklärte Juri, »Wald ist grün. Platz schön für Reiterspiele. Ist Gras. Alles sehr schön.«

»Ich glaube es Ihnen«, sagte ich.

Weiter vorn, an der Straßenseite, wo wir gehalten hatten, standen zwei große Reklametafeln, eine mit einer langen Anzeige zu den Olympischen Spielen, die andere mit einem großen Bild des Stadions, wie es einmal sein würde. Die Tribüne sah genial aus: sie war geformt wie ein Z, wobei der untere und obere Rang in die eine, und der mittlere Rang in die andere Richtung zeigte. Offenbar würden auf beiden Seiten der Tribüne Wettkämpfe stattfinden.

Juri hieß mich wieder einsteigen und fuhr durch ein Tor im Zaun auf die Baustelle hinaus. Einige Männer bewegten mit schweren Maschinen Erde, aber wie sie wußten, was sie bewegten, war mir ein Rätsel, denn das Ganze sah wie ein Meer von Matsch mit Pfützen von geschmolzenem Schnee inmitten einer Mondlandschaft aus. Juri griff hinter meinen Sitz und holte ein Paar riesige, schenkelhohe Gummistiefel hervor. Er zog sie an, indem er sie vor der offenen Fahrertür fest in den Matsch drückte, seine Straßenschuhe auszog, sich die Hosenbeine um die Waden wickelte und im Aufstehen die Beine hineinsteckte.

»Ich rede mit Männern, Sie warten«, sagte er.

Überflüssiger Rat. Juri ließ wegen des eisigen Windes die Ohrenklappen herunter, stapfte herum, sprach mit seinen Leuten und machte weitausholende Bewegungen mit den Armen. Nach einer ganzen Weile kehrte er zurück und setzte sich hinter das Steuer.

»Ist gut«, sagte er befriedigt, und seine aufgeworfene Oberlippe ließ flüchtig Zähne aufblitzen. »Wir machen Fundament fertig. In Frühjahr, wenn Schnee schmilzt, wir bauen schnell. Stadion«, er zeigte, »Ställe.« Wieder zeigte er. »Restaurants, Gebäude für Reiter, Gebäude für Offizielle, Gebäude für Television. Da hinten« - seine Armbewegung umfaßte ein riesiges, leicht gewelltes Gelände, das von Wald gesäumt war - »Militarygelände. In Sommer ist schön.«

»Wird jeder, der zur Olympiade kommen will, ein Visum bekommen?« fragte ich.

»Ja, alle Leute haben Visum.«

»Das ist aber nicht immer so«, sagte ich ohne besondere Betonung, und er antwortete in ebenso gleichmütigem Ton: »Für Olympiade alle Leute haben Visum. Wohnen in Hotel. Ist gut.«

»Was ist mit der Presse? Und den Leuten vom Fernsehen?«

»Wir bauen Haus für ausländische Presse. Auch für ausländische Television, bei Gebäude für Moskau Television. Benutzen gleichen ...« Er beschrieb mit den Händen einen Sendemast.

»Ausländer gehen in diese Gebäude. In England wir fragen Presseleute über Pressegebäude. Wir sehen, was Presseleute brauchen. Wir fragen viele Leute. Wir fragen Herrick.«

»Herrick? Haben Sie ihn hier oder in England gefragt?«

»In England. Er hilft uns. Er kommt nach Burleigh. Wir sehen ihn mit Lord Farringford. Also fragen wir ihn. Wir fragen viele Leute wegen bauen. Wir fragen Hans Kramer. Er war .«

Ihm fehlten die Worte, aber aus seinen Gesten schloß ich, daß Hans Kramer die russischen Beobachter sehr rüde abgefertigt hatte.

Er band die Ohrenklappen seiner Mütze oben zusammen, ohne sie abzunehmen. Ich suchte unterdessen die Straße nach einem eventuellen Verfolgerauto ab, sah aber nichts Auffälliges. Ein Bus kam vorbei, dessen Reifen auf dem matschigen Asphalt ein zischendes Geräusch machten. Bei dem niedrigen Verkehrsaufkommen würde jedes Verfolgerauto sofort auffallen, dachte ich. Andererseits schien es sehr wenige Fahrzeugtypen zu geben, so daß ein Auto praktisch wie das andere aussah. Schwer, einen Beschatter auszumachen. Allerdings leicht, einer hellgelben Kiste auf Rädern zu folgen.

»Was ist das für ein Auto?« fragte ich.

»Schiguli«, sagte er. »Ist mein Auto.« Er schien stolz darauf zu sein. »Nicht viele Leute haben Auto. Ich bin Architekt, habe Auto.«

»Ist es teuer?« fragte ich.

»Auto teuer. Benzin billig. Fahrprüfung sehr schwer.«

Er band die Schleife auf seiner Mütze fertig, vergewisserte sich, daß die Stiefel im Auto waren, knallte die Tür zu und stieß schwungvoll rückwärts auf die Straße hinaus.

»Wie kommen die Leute eigentlich hierher?« fragte ich. »Die Wettkämpfer und die Zuschauer?«

»Wir bauen Metro. Neue Station.« Er überlegte. »Metro über Erde, nicht unter. Neue Metro für Leute von Chertanowo. Viele neue Gebäude hier. Chertanowo ist neue Stadt. Ich zeige.«

Wir fuhren wieder in Richtung der Autobahn nach Warschau, doch noch vor der Auffahrt bog er nach rechts in eine weitere breite Straße ein, an der wie Pilze Wohnblocks aus dem Boden wuchsen: Durchweg weißlich grau und neun Stockwerke hoch, verloren sie sich in der Ferne.

»In Sowjetunion alle Leute haben Haus«, sagte Juri. »Miete ist billig. In England teuer.« Er warf mir einen belustigten Blick zu, als wollte er mich auffordern, diese vereinfachende Äußerung zu bestreiten. In einem Land, wo alles dem Staat gehörte, wäre es sinnlos, hohe Mieten zu verlangen. Damit die Leute hohe Mieten, wie übrigens auch hohe Preise für Strom, öffentliche Verkehrsmittel und das Telefonieren bezahlen könnten, müßte man ihnen höhere Löhne bezahlen. Das wußte Juri Chulitskij ebensogut wie ich. Ich durfte nicht den Fehler machen, die Subtilität seiner Gedanken zu unterschätzen, weil das Englisch, mit dem er sie ausdrückte, beschränkt war.

»Kann ich ein Geschäft mit Ihnen machen?« fragte ich. »Ein Tauschgeschäft? Eine Information gegen eine andere?«

Er warf mir einen raschen, scharfen, durchdringenden Blick zu, sagte aber nur: »Auto braucht Benzin.« Er bog von der Straße in eine Tankstelle ein und stieg aus, um mit dem Tankwart zu reden.

Ich ertappte mich dabei, daß ich die Brille abnahm und die bereits sauberen Gläser putzte. Die Geste, mit der ich Zeit gewann, die ich in diesem Moment gar nicht brauchte. Ich fragte mich, ob sie unbewußt davon ausgelöst worden war, daß Juri Benzin kaufte. Da der Tank laut Anzeige mehr als halb voll war, konnte es kaum sehr dringend sein.

Ich sah zu, wie die Nadel auf >voll< kroch. Juri bezahlte, kam zum Auto zurück, und wir machten uns auf die Rückfahrt ins Stadtzentrum.

»Was für Information tauschen Sie?«

»Ich habe sie noch nicht alle.«

Um seinen Mund zuckte es. »Sie Diplomat?« sagte er.

»Ein Patriot. Genau wie Sie.«

»Erzählen Sie mir Information.«

Ich erzählte ihm eine Menge. Ich erzählte ihm, was wirklich auf der Rennbahn passiert war, nicht Kropotkins Version, und ich erzählte von dem Überfall in der Gorkistraße. Ich erzählte ihm in kurzen Worten, wenn auch ohne Namen oder Ortsangaben, was Boris Teljatnikow im Zug gehört hatte und was man daraus schließen konnte. Er lauschte, wie jeder loyale Russe, mit Bestürzung. Als ich fertig war, fuhr er ein ganzes Stück ohne zu sprechen, und am Ende war sein Kommentar etwas seltsam.

»Sie wollen Mittagessen?« fragte er.

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