Kapitel 9

Überrascht drehten wir uns um. Wir hatten ihn nicht gehört, aber da stand er, in seinem Ledermantel und der Ledermütze, adrett und jung. Er machte eine kurze, ruckartige Kopfbewegung und drehte sich auf dem Absatz um. Wir folgten ihm auf die Straße hinaus und den Bürgersteig entlang in die Lücke zwischen den beiden nächsten Blocks. Er ging ohne Hast auf einen der Eingänge zu, und wir trotteten leise hinterher.

Die hell erleuchtete, warme Eingangshalle roch nach frischer Farbe. Es gab zwei Aufzüge, beide außer Betrieb, und eine Treppe. Mischa wandte sich zur Treppe. Wir folgten.

Ein Stockwerk höher gab es vier Türen, alle geschlossen. Mischa ging weiter die Treppe hinauf. Auf dem nächsten Treppenabsatz vier ebensolche Türen, wiederum alle geschlossen. Mischa stieg weiter hinauf. Im vierten Stock blieben wir stehen und verschnauften.

Zwischen dem fünften und dem sechsten Stock stießen wir auf zwei junge Männer, die einen Elektroherd nach oben schleppten. Der Herd war in mit Seilen befestigte Decken eingeschlagen. Ledergurte mit Tragegriffen erleichterten ihnen die Arbeit, dennoch schwitzten und keuchten sie vor Anstrengung. Um uns vorbeizulassen, setzten sie den Herd ab, der gefährlich auf einer Stufe kippelte. Mischa sagte etwas, das tröstend klang, und wir gingen in immer langsamerem Tempo weiter.

Bestimmt war es im neunten Stock, dachte ich. Oder unterm Dach.

Es war im neunten Stock. Mischa zog einen Schlüssel

hervor, schloß eine der nichtssagenden Türen auf und ließ uns ein.

Die Wohnung bestand aus Küche, Badezimmer und zwei winzigen Räumen und war fast unmöbliert. In der Küche gab es außer ein paar ziemlich trüben grünen Fliesen nicht viel - jedenfalls keinen Herd. Im Badezimmer das Allernotwendigste. Kahle Böden, kahle Fenster und kahle Wände in den beiden Zimmern, in einem zwei Holzstühle und ein Tisch, im anderen ein Bettgestell. Aber wie in allen Räumen in Moskau war es warm.

Mischa schloß die Tür hinter uns, und wir legten Mützen und Mäntel ab. Mischa machte eine weit ausholende, die ganze Wohnung einschließende Armbewegung, und Stephen übersetzte, was er sagte.

»Die Wohnung gehört seiner Schwester. Wenn die Wohnungen fertig sind, werden sie unter den Leuten auf der Liste ausgelost. Seine Schwester und ihr Mann haben den neunten Stock gezogen. Sie haßt die Wohnung und ist sehr deprimiert. Die beiden haben ein Baby. Solange die Aufzüge nicht funktionieren, muß sie das Baby und ihre Einkäufe jedesmal neun Treppen hochtragen. Der Herd für die Wohnung wird gestellt, aber man muß ihn selbst hochschaffen, wie die beiden eben. Die Möbel muß man zusammen mit Freunden hochtragen.«

»Warum funktionieren die Aufzüge nicht?« fragte ich.

Mischa sagte (via Stephen), der Hausmeister behaupte, die Innenverkleidung der Aufzüge würde beschädigt, wenn die Leute damit Herde und Möbel nach oben schafften, und deshalb würden die Aufzüge erst in Betrieb genommen, wenn alle Wohnungen eingerichtet und bewohnt seien. Ich fand das aberwitzig, aber es stimmte offenbar.

»Warum wird dann nicht eine zusätzliche, provisorische Innenverkleidung angebracht, die man später wieder entfernt?« fragte ich.

Mischa zuckte die Achseln. Es sei sinnlos, etwas zu sagen. Der Hausmeister höre nicht zu, und er habe nun mal zu bestimmen.

Mischa winkte uns, Platz zu nehmen, und hockte sich auf die Kante des einzigen Tisches. Er war dünn, aber kräftig, wirkte fit und nicht abgemagert. Die lebhaften blauen Augen betrachteten uns viel freundlicher als heute morgen und bestärkten mich in meinem Glauben an seine Intelligenz.

»Danke für Kommen«, sagte er. »Morgen ich weg. Ich noch was sagen.«

»Sagen Sie es auf russisch«, schlug ich vor. »Es ist einfacher für Sie, und Stephen kann übersetzen.«

Er nickte leicht bedauernd, sah es aber ein.

Er ließ einen Schwall von Worten los, wartete, bis Stephen gedolmetscht hatte, und nickte wieder, als er seine Worte auf englisch hörte.

»Nachdem wir weg waren«, übersetzte Stephen, »hatte Mr. Kropotkin noch mehr Besuch; Ihr Freund, der englische Journalist, Malcolm Herrick, und jemand, der sehr nach der Sphinx klingt. Sie kamen zusammen. Mr. Kropotkin ließ Mischa wiederholen, was er uns gerade erzählt hatte. Mischa glaubt, daß Mr. Kropotkin die Sphinx recht gut kennt.«

»Er heißt Ian. Ja, sie kennen sich«, bestätigte ich.

»Mr. Kropotkin meint, Sie brauchen Hilfe«, fuhr Stephen fort.

»Er ließ Mischa sein kleines Buch mit Telefonnummern holen und rief verschiedene Leute an, um zu fragen, ob sie etwas über Aljoscha wüßten, und wenn ja, es ihm zu sagen, damit er es Ihnen sagen kann. Boris Dimitriwitsch

Teljatnikow, ein Kandidat für das olympische Reiterteam, kam am Nachmittag, um sich die Pferde anzusehen, und Mr. Kropotkin hat ihn auch gefragt. Boris sagte, er wüßte nichts über Aljoscha, aber Mischa meint, Boris sei beunruhigt gewesen.«

»Ja. Weiter«, drängte ich.

»Praktisch jeder in Moskau, der irgendwas mit den olympischen Reiterspielen zu tun hat, scheint nach Aljoscha Ausschau zu halten.«

»Mein Gott«, sagte ich.

»Nikolai Alexandrowitsch hilft«, sagte Mischa. »Du retten Pferd. Jetzt Nikolai Alexandrowitsch hilft.«

»Sehr nett von ihm«, sagte ich wie betäubt.

Stephen hörte zu und berichtete. »Die Sphinx, Ian Young, sagte zu Mr. Kropotkin, sobald Sie Aljoscha gefunden und mit ihm gesprochen hätten, könnten Sie heimfahren. Mr. Kropotkin sagte: >Dann werden wir Aljoscha für ihn finden. Er hat unser bestes Pferd gerettet, da ist nichts zuviel<.«

»Mein Gott«, wiederholte ich.

»Die Version, die Mr. Kropotkin allen erzählt, lautet, das Pferd sei unerwartet vor den näher kommenden Transporter gelaufen. Der Fahrer hätte keine Zeit mehr gehabt, auszuweichen, aber Sie hätten das Pferd gerettet.«

»Glaubt Mischa das auch?« fragte ich.

»Njet.« Mischa hatte verstanden und hegte keine Zweifel.

»Fahrer kommt ... bumm.« Er schlug die geballte Faust unmißverständlich in die andere Handfläche.

»Kannten Sie ihn?« fragte ich.

»Njet. Nicht kennen.«

Es sei der Transporter gewesen, berichtete Mischa weiter, in dem er morgen mit zwei Pferden nach Rostow fahren würde. Als er den Braunen gestern zum Stall zurückführte, habe der Transporter am gewohnten Platz gestanden. Mr. Kropotkin hatte die Motorhaube angefaßt, um sich zu überzeugen, daß es dieser Wagen gewesen war, und richtig, der Motor war noch warm. Ein Fahrer war nicht zu ermitteln. Mr. K.’s Ansicht nach schämte sich der Fahrer seiner Unachtsamkeit und hatte Angst vor Strafe.

»Tja, vielen Dank, daß Sie uns das alles erzählt haben«, sagte Stephen, stand auf und streckte sich.

Mischa sprang auf und winkte ihn auf seinen Stuhl zurück, wobei er erregt auf ihn einsprach.

»Deshalb hat er uns nicht herkommen lassen«, berichtete Stephen.

»Nein«, sagte ich. »Er gab Ihnen seine Telefonnummer, bevor das alles geschah.«

»Ihnen entgeht wohl nie was?«

»Ich weiß nicht recht«, entgegnete ich.

»Typisch.«

»Ich spreche zu Deutschen«, mischte sich Mischa ein.

»Was? Meinen Sie, Sie haben mit Hans Kramer gesprochen?«

Bedauerlicherweise war das nicht der Fall. Mischa erzählte Stephen, er habe sich mit Hans Kramers Stallburschen angefreundet. Am Morgen hatte er uns das nicht sagen können, weil es natürlich verboten war, mit Ausländern zu sprechen.

»Ja«, sagte ich resigniert. »Nur weiter.«

Wie sich herausstellte, war es den beiden jungen Leuten zur angenehmen Gewohnheit geworden, sich auf einen unbenutzten Heuboden zurückzuziehen und Zigaretten zu rauchen. Rauchen in den Ställen war ebenfalls verboten. Mischa hatte die Unterhaltung und das Rauchen besonders genossen, weil es verboten war.

Mischas blaue Augen funkelten, begeistert über seinen eigenen Wagemut und vollkommen naiv.

»Worüber haben sie geredet?« fragte ich.

Pferde natürlich. Und Hans Kramer. Der deutsche Bursche mochte Kramer nicht, der, laut Stephens lakonischer Übersetzung, ein Schweinehund gewesen sei.

»Inwiefern?«

Mischa sprach, Stephen übersetzte. »Offenbar war Kramer zu Pferden anständig, aber Menschen hat er gern üble Streiche gespielt.«

»Ja. Einen kenne ich«, sagte ich und dachte an Johnny und die Transvestiten. »Weiter.«

»Außerdem war er ein Dieb.«

Ungläubig sah ich Mischa an, der aber heftig nickte, nicht nur mit dem Kopf, sondern praktisch aus der Hüfte heraus.

»Mischa sagt«, fuhr Stephen fort, »Kramer stahl einen Kasten aus dem Wagen des Tierarztes, als er vor Beginn der Military das britische Team aufsuchte, um sich ihre Pferde anzusehen.«

»Einen Kasten mit Medikamenten?« fragte ich.

»Da«, bestätigte Mischa. »Medikamente.«

»Dauernd werden Tierärzten und Ärzten Sachen gestohlen«, sagte ich. »Man sollte denken, sie würden solche Kästen anketten und sie nicht in Autos rumliegen lassen. Also . war Kramer süchtig?«

Ich zweifelte selbst, als ich das aussprach, denn Drogensucht und der Standard der internationalen Reiterei passen schlecht zusammen. Mischa allerdings wußte es nicht. Der deutsche Bursche hatte ihm erzählt, was für einen Wirbel es gegeben hatte, als der Tierarzt den Verlust entdeckte, aber Kramer hatte den Kasten versteckt.

»Woher wußte der Bursche das?«

»Er hat ihn irgendwo im Stall unter Kramers anderen Sachen gefunden. Vier Tage später, nachdem Kramer tot war, brachte der Deutsche den Kasten mit auf den Heuboden, und Mischa und er teilten sich den Inhalt.«

»Das darf doch nicht wahr sein.«

»Es hört sich so an, als hätte der Deutsche den Kasten und alle gut verkäuflichen Sachen, wie Barbiturate, genommen und Mischa den Mist überlassen, was mich nicht überrascht«, sagte Stephen in aller Offenheit nach einer weiteren längeren Rede von Mischa. »Unser Mischa ist ein richtiges kleines Unschuldslamm.«

»Was hat er mit seinem Anteil gemacht?«

Stephen fragte nach. »Mit nach Moskau gebracht, zusammen mit ein paar anderen Andenken. Zur Erinnerung an die netten Gespräche auf dem Heuboden.«

Nachdenklich starrte ich aus dem Fenster, sah aber vor mir nicht ein schwarzes Viereck ohne Vorhänge, sondern ein altmodisches Landhaus in England.

Johnny Farringford, dachte ich, hatte nicht gewollt, daß man seine Verbindung zu Hans Kramer für sehr eng hielt. Er hatte nicht gewollt, daß ich Aljoscha suchte und womöglich fand. Hatte gewollt, daß Gras über die Gerüchte wuchs, und bestritten, daß es irgendeinen Skandal zu vertuschen gab. Angenommen, dachte ich düster, die Geschichte mit Aljoscha ist in Wirklichkeit unwichtig, und die Sache, die Johnny so verzweifelt geheimzuhalten sucht, hat nichts mit unorthodoxem Sex, aber alles mit Drogen zu tun.

»Hat Mischa das Zeug noch?« fragte ich.

Mischa hatte es.

»Würde er es mir zeigen?« fragte ich. Mischa hatte nichts dagegen, fuhr jedoch morgen ganz früh weg.

»Ist es wichtig?« wollte Stephen wissen.

»Nur auf negative Art«, seufzte ich. »Wenn Kramer den Kasten vier Tage bis zu seinem Tod hatte, wird er vermutlich herausgenommen haben, was ihn interessierte. Dann hat der deutsche Stallbursche sich bedient ... was Mischa jetzt noch hat, ist jedenfalls nicht das, was Kramer wollte ... und das könnte uns einiges verraten. Neben Barbituraten haben Tierärzte meistens noch andere Sachen bei sich. Pethidine, beispielsweise. Das ist ein Schmerzmittel, macht aber, glaube ich, Menschen schon nach kürzester Zeit süchtig. Und Butazolidin ... und Steroide ...«

»Verstehe«, sagte Stephen und sprach mit Mischa. Sie führten eine längere Unterhaltung, bei der sie offenbar eine Übereinkunft erzielten.

»Mischa sagt, seine Souvenirs sind in der Wohnung seiner Mutter, er wohnt aber zusammen mit dem anderen Stallburschen in der Nähe der Stallungen. Dort muß er sehr bald wieder sein, und morgen früh fährt er weg. Er kann nicht mehr zu seiner Mutter gehen. Aber er kann anrufen und seine Schwester, die im Augenblick dort wohnt, bitten, Ihnen morgen vormittag das Zeug zu bringen. Aber ins Hotel kann sie nicht kommen, es wäre nicht gut, wenn sie im Gespräch mit Ausländern gesehen würde, deshalb wird sie Sie im GUM, gleich neben dem Haupteingang, treffen. Sie wird eine rote Wollmütze mit weißem Pompon tragen, die Mischa ihr vorige Woche zum Geburtstag geschenkt hat, und einen langen roten Schal. Sie spricht etwas Englisch. Sie hat es in der Schule gelernt.«

»Sehr gut«, sagte ich. »Ginge es ziemlich früh? Um zehn

treffe ich Chulitskij vor dem Hotel National.«

Mischa sagte, er glaube, sie könnte um halb zehn da sein, und darauf einigten wir uns dann.

Ich bedankte mich bei Mischa für die Mühe, die er sich gemacht hatte, uns diese Informationen zukommen zu lassen, und schüttelte ihm herzlich die Hand.

»Ist gut«, sagte er befriedigt. »Du retten Pferd. Nikolai Alexandrowitsch sagt helfen. Ich helfen.«

Wir trafen mit zehnminütiger Verspätung vor dem Aragvi ein, weil es in der entlegenen, weitläufigen Vorstadt keine Taxis und kaum Busse gab. Die Metro, so hatten wir festgestellt, endete fünf Kilometer von der Wohnung entfernt. Mischa fuhr mit uns ins Stadtzentrum, hielt sich jedoch abseits von uns, sah uns nicht an und sagte nichts. Als wir die Station erreichten, wo er umsteigen mußte, stieg er ohne den kleinsten Abschiedsgruß aus, mit ebenso unbewegtem Gesicht wie die Umstehenden.

»Sagen Sie Malcolm Herrick nicht, was Mischa uns gerade erzählt hat«, sagte ich, während wir die letzten hundert Meter zum Restaurant eilten. »Er ist Zeitungsfritze. Meine Anweisungen lauten, möglichst viel zu vertuschen, nicht, es in die Schlagzeilen zu bringen; außerdem brächte das Mischa in Schwierigkeiten.«

»Ich schweige wie ein Grab«, versprach Stephen mit einer Stimme, die verriet, daß er die Mahnung für reichlich überflüssig hielt.

Wie sich herausstellte, lag das Aragvi weniger als einen Kilometer vom Intourist entfernt: die Gorkistraße hinauf, und bei der Ampel rechts. Malcolm und Ian warteten ein kurzes Stück davor, und Malcolm murrte, für seine Verhältnisse leise, darüber, daß wir sie in der Kälte hatten stehenlassen.

Vor dem Restaurant hatte sich eine kleine Schlange

frierender Menschen gebildet.

»Folgen Sie mir und sprechen Sie nicht, bevor wir drin sind«, sagte Malcolm. Er ging an der Schlange vorbei und öffnete die geschlossene Tür. Der mittlerweile schon bekannte Wortwechsel fand statt, und dann wurden wir unwillig eingelassen.

»Ich hatte bestellt«, erklärte Malcolm, während wir unsere Mäntel ablegten. »Ich komme oft her. Man sollte es nicht für möglich halten.«

Das Restaurant war voll, und von irgendwo kam Musik. Wir wurden zu dem einzigen freien Tisch geführt, und innerhalb von fünf Sekunden war bereits eine Flasche Wodka da.

»Von den zwei anständigen Restaurants in Moskau habe ich das hier lieber«, teilte uns Malcolm mit.

»Zwei?«

»Genau. Was wollen Sie essen? Die Küche ist georgisch. Die meisten Gäste sind aus Georgien.«

»Georgien, UDSSR, ist gleich Texas, USA«, belehrte uns Ian.

Die Speisekarte war russisch, und während die anderen ihre Wahl trafen, sah ich mich um. Am Nebentisch saßen drei Männer, und weiter hinten zwei mit dem Rücken zur Wand. Wenig Frauen. Die Gesichter waren lebhafter und unterschiedlich. Die zwei Männer an der Wand beispielsweise waren keine Moskauer Typen. Sie hatten dunklere Haut, feurige Augen und krauses, dunkles Haar. Sie beschäftigten sich intensiv mit ihrer Mahlzeit.

Die drei Männer neben uns allerdings beschäftigten sich mehr mit ihren Getränken. Von der Tischdecke war zwischen leeren Flaschen, vollen Flaschen, vollen und leeren Gläsern kaum noch etwas zu sehen. Die Männer, einer riesig, einer mittelgroß und einer klein, tranken Champagner aus enormen, tulpenförmigen Gläsern.

Malcolm sah von der Speisekarte auf und folgte meinem Blick.

»Georgier«, sagte er. »Mit hohlen Beinen geboren.« Fasziniert sah ich zu, wie die goldene Flüssigkeit in ihren Kehlen verschwand. Die Augen des kleinsten waren leicht verglast. Der große sah so nüchtern aus wie sein grauer Flanellanzug; und auf dem Tisch standen drei leere Flaschen Wodka.

Ian, Malcolm und Stephen bestellten gekonnt, und ich bat Stephen, seine Order einfach zu verdoppeln. Das Essen kam und war fremdartig und scharf, und Lichtjahre von den grauen Fleischstücken im Hotel entfernt. Der riesige Bursche am Nebentisch brüllte nach dem Kellner, der sich beeilte, eine zweite Flasche Champagner zu bringen.

»Na, wie steht’s, Sportsfreund?« fragte Malcolm und schaufelte Hühnchen mit Bohnen in seinen Mund.

»Die Beine des Kleinen sind voll«, berichtete ich.

»Was?« Er sah sich nach den drei Männern um. »Nein, ich meinte die Sherlock-Holmes-Geschichte. Was haben Sie rausgefunden?«

»Der Deutsche, der in Burleigh starb, rief mit dem letzten Atemzug nach Aljoscha, und das ist so ziemlich alles.«

»Und das war Ihnen ja bekannt«, sagte Stephen.

Ich trat ihn unter dem Tisch. Er warf mir einen fragenden Blick zu, und dann ging ihm auf, daß wir ohne Mischa gar nicht gewußt hätten, daß sie selber Bescheid wußten. Aber weder Malcolm noch Ian reagierten darauf. Schweigend aßen wir weiter.

»Das gibt nicht viel her, was, Sportsfreund?« sagte Malcolm.

»Aljoscha muß existieren. Aljoscha. Moskau.« Ich seufzte.

»Ich muß eben weitersuchen.«

»Was werden Sie als nächstes unternehmen?« fragte Ian.

Ich nahm die Brille ab, hielt sie gegen das Licht und rieb dann mit dem Taschentuch einige nicht vorhandene Flecke weg.

»Äh«, machte ich.

»Wie schlecht sind Ihre Augen, Sportsfreund?« unterbrach Malcolm. »Lassen Sie mich mal durch Ihre Fenster sehen.«

Sollte die Brille nicht kaputtgehen, mußte ich sie ihm überlassen. Er nahm mir die Brille aus der Hand und setzte sie sich auf seine eigene Nase.

»Mann«, rief er, »Ihre Augen sind ganz schön verkorkst.«

»Astigmatismus«, bestätigte ich.

»Und wie!«

Alle versuchten, die Welt durch meine Brille zu sehen, dann bekam ich sie wieder zurück. Alles wurde wieder normal.

»Auf beiden Augen?« wollte Ian wissen.

Ich nickte. »Und auf beiden verschieden. Sehr angenehm.«

Der kleine Mann am Nebentisch stützte den Kopf auf sein Champagnerglas und war wohl im Begriff, einzuschlafen. Seine Freunde tranken unverdrossen weiter und beachteten ihn überhaupt nicht. Der Riese brüllte wieder nach dem Ober, hielt drei Finger hoch, und mit offenem Mund sah ich drei weitere Flaschen Wodka ankommen.

Für uns wurde Kaffee serviert, aber ich war von der Szene vor mir fasziniert. Der Kopf des Kleinen ruhte immer noch auf dem Glas, sank aber immer tiefer. Das Glas stand schließlich auf dem Tisch, die Hand, die es hielt, rutschte weg, und der Kleine, den Kopf auf dem Glas, schlief tief und fest.

»Georgier«, sagte Malcolm mit einem Blick auf sie, als erklärte das alles.

Der Riese zahlte, erhob sich zu seiner vollen Größe von gut zwei Metern, nahm die drei Flaschen Wodka unter einen Arm, seinen schlafenden Freund unter den anderen und marschierte würdevoll hinaus.

»Unglaublich«, sagte ich.

Der Kellner, der sie bedient hatte, kam und sprach zu uns, während er ihren Abgang mit Respekt verfolgte.

Malcolm erklärte: »Der Ober sagt, sie haben mit einer ganzen Flasche Wodka pro Kopf begonnen. Dann haben sie sich noch zwei geteilt. Fünf insgesamt. Schließlich tranken sie noch zwei Flaschen Champagner. Nur Georgier kriegen das fertig.«

»Ich dachte, Sie sprechen nicht russisch«, sagte ich sanft.

Er sah mich überrascht an, und in seinen Augen zeigte sich ganz kurz das harte Funkeln vom ersten Abend.

»Ach, jetzt fällt es mir wieder ein, das habe ich Ihnen am ersten Abend erzählt, Sportsfreund. Na, ich spreche ja auch nicht russisch, das heißt aber noch lange nicht, daß ich es nicht kann. Es heißt nur, daß ich es die Rußkis im allgemeinen nicht wissen lasse. Kapiert?«

»Kapiert.«

»Es steht nicht in Ihrer Akte«, sagte Ian beiläufig.

»Stimmt genau. Die Rußkis haben die Akte auch, vergessen Sie das nicht. Ich hab mir die Sprache selbst beigebracht, mit zwölf Langspielplatten und ein paar Lehrbüchern. Aber diese Information vergessen Sie bitte

pronto.«

»Dem entgeht nichts«, mischte sich Stephen ein.

»Wem?«

»Unserm Freund Randall.«

Ian betrachtete mich mit leicht zusammengekniffenen Augen, und Malcolm rief nach der Rechnung.

Die beiden dunkelhäutigen Männer, die an der Wand gesessen hatten, waren kurz nach den Georgiern gegangen, und das Lokal leerte sich rasch. Wir holten unsere Mäntel und Mützen und gingen zitternd in die feuchte Luft hinaus. Es kam mir kälter denn je vor. Die drei anderen schlugen den Weg zur Metro ein, während ich die Gorkistraße überquerte, statt vorschriftsmäßig den Fußgängertunnel zu benutzen. Um elf Uhr nachts gab es noch weniger Wagen, die einen hätten überfahren können, und kein Fußgänger war in Sicht, ganz zu schweigen von einem Polizisten.

In einiger Entfernung, am Ende der leicht abschüssigen Straße, war das Intourist zu sehen, dessen Eingangsbaldachin auf den Bürgersteig hinausragte. Ich schlug den Mantelkragen hoch und fragte mich etwa zum zehnten Mal, warum man in der Mitte des Baldachins offenbar ab sichtlich ein großes, rechteckiges Loch gelassen hatte, durch das, wie durch ein Oberlicht ohne Glas, unfehlbar jeder Regentropfen und jede Schneeflocke fiel. Als Schutzdach für Ankommende und Abreisende war der Baldachin eine Pleite, von so viel praktischem Nutzen wie eine Badewanne ohne Stöpsel.

Ein im Leerlauf dahingleitender Verstand ist in miserabler Verfassung für einen Kampf.

Ein schwarzer Wagen fuhr an mir vorbei und hielt etwa zehn Schritte weiter. Der Fahrer stieg aus, und die andere Vordertür ging auf. Der Beifahrer trat auf den Bürgersteig,

und als ich bei ihm war, sprang er mich an.

Die Überraschung war vollkommen. Seine Hand griff nach meiner Brille, und ich schlug sie heftig beiseite, wie man nach einer Wespe schlagen würde. Wenn es darauf ankam, meine Sicht zu retten, waren meine Reflexe tadellos, auf den Rest aber war ich nicht vorbereitet.

Er drängte mich über den Bürgersteig bis an eine Hauswand. Sein Freund kam ihm zu Hilfe. Eine heftige, brutale Stärke lag in diesem Überfall, und was immer sie auch weiter vorhatten, ihr erstes Ziel war zweifellos meine Brille.

Mit einem dicken Mantel und einer Pelzmütze kämpft es sich schlecht, selbst wenn die Gegenseite ebenso gehandicapt ist. Ein Kampf jedoch schien unvermeidlich.

Den anstürmenden Beifahrer trat ich übel gegen das Knie, und als sein Kopf vorschnellte, packte ich ihn an der Balaclava, die er unter seiner Mütze trug, gab ihm einen Ruck, und sein Kopf prallte gegen die Hauswand.

Der Fahrer kam wie ein Wirbelwind an und packte mich am Arm, während er mit der anderen Hand nach meiner Brille langte. Ich duckte ab. Seine Finger erwischten nur den Pelz, womit ich meine Mütze los war. Ich versetzte ihm einen Tritt, der aber nicht sehr wirkungsvoll war, außerdem öffnete ich den Mund und begann zu schreien.

Aus voller Lunge brüllte ich »Ja-ja-ja-ja-ja« durch die leere Straße, wo kein Verkehrslärm die Decibel übertönen konnte.

Einen solchen Wirbel hatten sie nicht erwartet. Ich fühlte, wie ihr Ungestüm momentan nachließ, entriß mich ihrem Griff und rannte. Rannte die Steigung hinunter auf das Intourist zu. Rannte mit aller Kraft, die ich jedem Muskel abringen konnte. Rannte wie ein Olympionike.

Ich hörte eine der Autotüren zufallen. Hörte den Wagen

hinter mir herkommen. Rannte weiter.

Vor dem Intourist gab es Leben und wartende Taxis und Beobachter, die sich ihren Lebensunterhalt verdienten. Ob sie wohl je Leuten zu Hilfe kamen, die vor anderen Leuten in schwarzen Wagen davonliefen, fragte ich mich flüchtig. Wahrscheinlich nicht.

Nicht in Moskau.

Ich machte mir nicht die Mühe, sie zu Hilfe zu rufen. Ich rannte einfach. Und ich schaffte es. Knapp allerdings.

Die Männer im Auto waren wohl zu dem Schluß gekommen, daß wir uns für einen zweiten Angriff zu nahe beim Intourist befanden, zumal ich nun auch mit voller Kraft rannte und nicht mehr mit verschwommenen Gedanken dahinschlenderte. Jedenfalls hielt das Auto nicht an, nachdem es mich überholt hatte, sondern sauste am Hotel vorbei, bog am Ende der Straße rechts ab und verschwand.

Die letzten hundert Meter verfiel ich in schnellen Schritt. Mein Herz hämmerte wild, und meine Brust hob und senkte sich heftig, während ich in tiefen Zügen die kalte, feuchte Luft einsog. Ich war keineswegs mehr so fit, wie ich es in jedem anderen Herbst, als aktiver Jockey, gewesen wäre, dachte ich grimmig.

Die letzten Meter legte ich in normaler Gehgeschwindigkeit zurück, und als ich durch das große, schleusenartige Glasportal trat, zog ich nicht mehr Blicke auf mich als sonst auch. Die Wärme in der Halle kam mir mit einemmal unangenehm vor und ließ mich noch stärker als ohnehin schon schwitzen. Ich schälte mich aus meinem Mantel, holte meinen Zimmerschlüssel und dachte, daß nichts auf der Welt mich dazu bringen konnte, die Gorkistraße zurückzugehen und meine Mütze wiederzuholen.

Mein Zimmer sah ruhig und normal aus, als wollte es mir versichern, daß Hotelgäste auf einer der Hauptstraßen der Stadt unmöglich überfallen werden konnten.

Am Picadilly konnte das passieren, dachte ich. Auf der Park Avenue, den Champs-Elysees und der Via Veneto. Warum nicht auf der Gorkistraße?

Ich warf Mantel und Zimmerschlüssel aufs Bett, goß mir ein großes Glas von dem zollfreien Seelentröster ein und sank auf das Sofa.

Zwei Angriffe an einem Tag. Ein bißchen viel.

Der erste war unzweifelhaft ein Versuch gewesen, mich zu verstümmeln oder zu töten. Der zweite - vielleicht - eine versuchte Entführung. Ohne Brille wäre ich ein leichtes Opfer gewesen. Wohin hätten sie mich wohl gebracht?

Erwartete der Prinz von mir, daß ich meiner Aufgabe bis in den Tod nachging? Wahrscheinlich nicht, dachte ich. Aber der Prinz hatte auch nicht gewußt, in was er mich da hineinschickte.

Vor allem hatte ich Glück gehabt. Und ich konnte wieder Glück haben. Falls nicht, sollte ich lieber vorsichtig sein. Mein Herzschlag beruhigte sich allmählich. Mein Atem normalisierte sich. Ich trank den Scotch und fühlte mich besser.

Nach einer Weile stellte ich das Glas ab und griff nach dem Recorder. Schaltete es ein. Suchte, neben dem Fenster beginnend, Zentimeter für Zentimeter methodisch die Wände ab.

Ergebnislos. Kein Pfeifen.

Ich schaltete den Recorder aus und stellte ihn zurück. Daß kein Pfeifton zu hören war, hieß nicht unbedingt, daß kein Abhörmikrophon in der Wand, sondern möglicherweise nur, daß es nicht eingeschaltet war. Ich ging zu Bett, lag im Dunkeln wach und dachte an den Fahrer und

Beifahrer des schwarzen Wagens. Ich schätzte sie zwischen zwanzig und dreißig, aber abgesehen davon hatten sie nur drei klare Eindrücke bei mir hinterlassen. Erstens, sie wußten von meiner Kurzsichtigkeit. Zweitens ließ die Wildheit, die ich bei ihrem Angriff verspürt hatte, auf ziemlichen Fanatismus schließen. Und drittens, sie waren keine Russen.

Sie hatten nicht gesprochen, so daß mir ihre Stimmen keinen Hinweis lieferten. Sie hatten nur die nüchterne Kleidung aller Russen getragen. Ihre Gesichter waren zu Dreivierteln verdeckt, nur ihre Augen konnte ich kurz sehen.

Warum dachte ich also ...? Ich zog die Decke hoch und legte mich bequem auf die Seite. Russen, dachte ich schläfrig, benehmen sich nicht so, außer sie sind vom KGB, und wenn der KGB mich hätte verhaften wollen, hätten sie es anders angefangen, und vor allem wäre es bei ihnen nicht schiefgegangen. Die anderen Russen waren durch Abschreckungsmittel wie Arbeitslager, Nervenheilanstalten und Todesstrafe gezähmt. Ich erinnerte mich daran, was Frank beim Frühstück gesagt hatte. »In Rußland gibt es keine Raubüberfälle. Die Verbrechensrate ist wirklich sehr niedrig. Es gibt praktisch keine Morde.«

»Revolutionen führen immer zu Repression«, sagte ich.

»Meinen Sie nicht, daß es eher umgekehrt ist?« fragte Mrs. Wilkinson mit leicht verwirrtem Gesicht.

»Die Leute wollen im Grunde gar nicht vom Schlendrian und von der Dekadenz befreit werden«, sagte ich. »Also muß man ihnen gewaltsam den Mund öffnen, um ihnen die Medizin zu verabreichen. Revolutionäre sind überall von Natur aus aggressiv, grausam und repressiv. Sie müssen unbedingt andere beherrschen. Natürlich nur zu deren Besten.«

Frank ließ sich nicht provozieren. Er wiederholte lediglich, daß es in einem voll entwickelten sozialistischen Staat wie Rußland keine Notwendigkeit für Verbrechen gebe. Der Staat befriedige alle Bedürfnisse und gebe den Menschen, was immer gut für sie sei.

Runde sechzig Jahre nach der Oktoberrevolution (die mittlerweile, wegen der Berichtigung des Kalenders, verwirrenderweise im November gefeiert wurde) ging überall auf der Welt ihre blutige Saat auf, doch in dem Land, von dem alles ausgegangen war, neigte die zweite und dritte Generation nicht zu Akten privater Gewalt.

Die Augen, die aus der Balaclava starrten, hatten mit dem Verlangen nach einer noch bevorstehenden Ernte gebrannt: sechzig Jahre jünger als der leere, ausdruckslose Blick eines Volkes, dem jede Entscheidung abgenommen war.

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