Kapitel 5

Er ließ sich mit der Erklärung Zeit. In völliger Dunkelheit saßen wir im Wagen und lauschten dem unregelmäßigen metallischen Klacken, mit dem der Motor sich abkühlte. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte ich ringsum dunkle, hohe Gebäude und vor uns ein Eisengitter mit Büschen dahinter ausmachen.

»Wo sind wir?« fragte ich schließlich.

Er beantwortete meine Frage nicht.

»Hören Sie ...« sagte ich.

Er unterbrach mich: »Wenn wir jetzt aussteigen, reden Sie nicht. Folgen Sie mir, aber reden Sie nicht. Es stehen immer Leute im Schatten ... wenn man Sie englisch sprechen hört, erregt das Mißtrauen, und es wird berichtet. Kommen Sie.«

Er machte die Fahrertür auf und stieg aus. Er schien es für selbstverständlich zu halten, daß ich ihm traute, und ich sah eigentlich keinen Grund, warum ich es nicht tun sollte. Ich stieg ebenfalls aus, schloß leise, wie er, die Tür und folgte ihm.

Wir gingen auf ein Gitter zu, in dem sich eine Pforte befand. Ian Young öffnete sie, und ungeölte Scharniere quietschten abscheulich. Hinter uns fiel sie mit einem lauten Klicken ins Schloß. Dahinter schlängelte sich ein Weg zwischen struppigen kahlen Büschen hindurch, und das trübe Licht ließ erkennen, daß der Schnee in diesem vergessenen Park nicht geschmolzen war und wie der graue Staub von Jahren alles bedeckte.

Am Weg gab es ein paar Bänke und vereinzelt gelichtete Stellen, die im Sommer Rasen sein mochten; doch nun,

Ende November, konnte sich die Melancholie eines solchen Ortes wie Mehltau über die Seele legen.

Ian Young schritt entschlossen aus, weder zu schnell, noch besonders vorsichtig: ein Mann, der ein Ziel hat und keinerlei Mißtrauen erregt.

Am anderen Ende des Parks erreichten wir ein weiteres Gitter mit einer Pforte. Wieder das Quietschen und das Kücken beim Zufallen. Ohne Zögern wandte Ian Young sich nach rechts.

Schweigend folgte ich ihm.

Licht fiel aus den Fenstern großer, alter Häuser; dazwischen schmale Gassen und kleine Höfe. In einen dieser Höfe bog Ian Young schließlich ein.

Wieder folgte ich ihm schweigend.

Hier zogen sich Baugerüste die Wände empor, und der Boden war mit Schutt übersät. Wir suchten uns einen Weg über zerbrochene Ziegel, Metallröhren und verstreut herumliegende Bretter und gingen, soweit ich sehen konnte, nirgendwohin.

Wir hatten allerdings doch ein Ziel. Um es zu erreichen, mußten wir hinter dem Gerüst einen offenen Graben überqueren, der so aussah wie der Aushub für eine neue Kanalisation. Auf der anderen Seite der mit Schlamm und Schneematsch gefüllten Grube befand sich eine wuchtige Holztür in einem dunklen Torbogen. Ian Young stieß die Tür auf, die kein Schloß zu haben schien und leicht in den Angeln schwang, als würde sie ständig benutzt.

Drinnen beleuchtete trübes Licht eine kahle Eingangshalle. Ein körniger Betonfußboden, an den grauen Betonwänden keine Farbe, kein Anstrich. Eine Betontreppe führte nach oben. Daneben gab es einen kleinen Fahrstuhl in einem altertümlichen Käfig.

Ian Young zog das äußere und innere Scherengitter des Fahrstuhls auf, und wir stiegen ein. Er schloß die beiden Gitter, drückte den Knopf für die vierte Etage und verbot mir mit einem Blick zu sprechen.

Auf einem kahlen Treppenabsatz verließen wir den Fahrstuhl. Holzboden, kein Beton. Es gab zwei geschlossene Türen aus Holz, vor langer Zeit einmal gestrichen, eine an jeder Seite der rechteckigen Fläche. Ian Young wandte sich nach links und drückte auf die Klingel.

Auf dem Treppenabsatz war es sehr still. Es war kein Klingeln zu hören, als er den Knopf drückte und den Vorgang gleich darauf wiederholte: zweimal kurz, einmal lang. Kein Stimmengemurmel hinter der Tür, keine Schritte auf der Treppe. Keinerlei Anzeichen, als gäbe es hier irgendwo Wärme und Leben. Der Eingang zur Hölle, dachte ich etwas überspannt.

Lautlos öffnete sich die Tür; im Rahmen stand eine große Frau, die uns mit einer Ausdruckslosigkeit ansah, die ich mittlerweile bereits normal fand. Ihr Blick verweilte länger auf mir und kehrte dann fragend zu Young zurück.

Ian Young nickte.

Die Frau trat beiseite und ließ uns schweigend ein. Unbeeindruckt ging Young über die Schwelle, und für mich war es jetzt viel zu spät zu sagen, daß ich lieber doch nicht mitkommen wollte. Hinter uns fiel die Tür zu, und die Frau schob einen Riegel vor.

Noch immer sprach keiner. Ian Young legte Mantel und Mütze ab und winkte mir, das gleiche zu tun. Die Frau hängte alles sorgfältig auf Haken, die schon eine Anzahl ähnlicher Kleidungsstücke trugen.

Sie legte Ian eine Hand auf den Arm und führte uns einen Gang entlang. Es handelte sich offenbar um eine

Privatwohnung. Eine weitere geschlossene Tür öffnete sich, und wir betraten einen Wohnraum von bescheidener Größe.

Drinnen standen fünf Männer. Fünf Augenpaare waren unverwandt auf mein Gesicht gerichtet, hinter fünf unbewegten Mienen verbargen sich Gott weiß welche Gedanken.

Alle waren ordentlich und ziemlich gleich gekleidet, unterschieden sich aber beträchtlich in Alter und Körperbau. Einer von ihnen, der dünnste und ungefähr meine Altersklasse, stand stocksteif wie vor einer schweren Prüfung da. Die anderen waren nur einfach wachsam, wie Wild, das schnuppernd den Wind prüft.

Ein Mann von vielleicht fünfzig, grauhaarig, mit Brille, trat vor und umarmte Ian Young.

Er sprach russisch mit ihm und stellte ihm die anderen vier Männer mit einem Gemurmel langer Namen vor, die ich gar nicht erst zu verstehen versuchte. Der Reihe nach nickten sie ihm zu. Etwas von der Spannung ließ nach, und das Rudel kam in Bewegung.

»Jewgenij Sergeijewitsch«, sagte Ian Young. »Das ist Randall Drew.«

Der ältere Mann streckte langsam die Hand aus, die ich ergriff. Er benahm sich weder freundlich noch feindselig, einfach abwartend. Machtlos, aber würdevoll, war mein Eindruck. Und er betrachtete mich so eindringlich, als wollte er mir in die Seele schauen. Statt dessen sah er wohl nur einen mageren, grauäugigen, dunkelhaarigen Mann mit Brille, der seinerseits den Eindruck steinerner Undurchdringlichkeit zu erwecken suchte.

Schließlich sagte Ian Young zu mir: »Das ist unser Gastgeber, Jewgenij Sergeijewitsch Titow, und seine Frau, Olga Iwanowna.« Er machte eine kleine Verbeugung zu der Frau hin, die uns eingelassen hatte. Sie sah ihn ruhig an, und ich hatte den Eindruck, daß ihre festen

Gesichtszüge von eisernen inneren Reserven herrührten.

»Guten Abend«, sagte ich, und ernsthaft antwortete sie auf englisch: »Guten Abend.«

Der junge Mann sagte aufgeregt etwas in russisch.

Ian Young wandte sich an mich. »Er fragt, ob man uns gefolgt ist. Das können Sie beantworten. Ist man uns gefolgt?«

»Nein«, antwortete ich.

»Warum sind Sie so sicher?«

»Niemand ist uns durch den Park gefolgt. Die Pforten machen ein nicht zu überhörendes Geräusch. Niemand war hinter uns.«

Ian Young sprach russisch zu der Gruppe. Sie hörten ihm zu, aber ihre Augen ruhten auf mir, und als er geendet hatte, verteilten sie sich, um Platz zu nehmen. Nur der aufgeregte junge Mann blieb fluchtbereit stehen.

»Ich habe gesagt, sie könnten Ihnen vertrauen«, sagte Ian Young. »Sollte ich mich geirrt haben, werde ich Sie umbringen.«

Seine Augen ruhten kühl und unverwandt auf mir. Unter anderen Umständen wären seine Worte unglaublich und befremdend gewesen, so aber sah ich, daß er schlicht meinte, was er sagte.

»Bitte, setzen Sie sich«, sagte Olga Iwanowna und deutete auf einen Lehnstuhl am anderen Ende des Zimmers. Sie sprach die Worte mit starkem russischem Akzent, aber daß sie überhaupt Englisch konnte, beschämte mich.

Ich ging hinüber und setzte mich auf den mir angewiesenen Platz, wohl wissend, daß sie vorher diskutiert und beschlossen hatten, wo sie mich haben wollten, damit ich nicht entkommen konnte, außer sie ließen mich gehen. Der tiefe Sessel umfing mich sanft wie ein gepolstertes Gefängnis. Ich sah auf und fand Ian Young neben mir stehen.

»Was erwarten Sie jetzt?« fragte er.

»Zu erfahren, warum wir hier sind.«

»Sie haben keine Angst.« Das war halb Feststellung, halb Frage.

»Nein«, sagte ich. »Aber die.«

Er sah kurz zu den sechs Russen hinüber, dann wieder auf mich, sehr konzentriert.

»Sie sind eigentlich gar nicht so dumm«, bemerkte er.

Der aufgeregte junge Mann, noch immer stehend, sagte ungeduldig etwas zu Young. Der nickte, schaute von mir zu dem Aufgeregten und wieder auf mich, holte tief Atem und vertraute mir eine Menge gefährlichen Wissens an.

»Das ist Boris Dimitriwitsch Teljatnikow«, sagte er.

Der junge Mann hob das Kinn, als sei der Name allein eine Ehre.

»Boris Dimitriwitsch hat an der Military im September in Burleigh teilgenommen«, fuhr Ian Young fort.

Das war eine Neuigkeit, die mich fast aufspringen ließ, aber schon der Anfang dieser Bewegung alarmierte bereits die Anwesenden. Boris Dimitriwitsch machte sogar einen Schritt zurück.

Ich lehnte mich also zurück und sah so milde wie möglich drein, um das gefährdete Vertrauensverhältnis wiederherzustellen.

»Bitte, sagen Sie ihm, daß ich entzückt bin, seine Bekanntschaft zu machen«, bat ich.

Das gleiche galt offensichtlich nicht für Boris Dimitriwitsch Teljatnikow, aber sie hatten mich ja haben wollen. Wenn ihnen nicht soviel daran gelegen gewesen wäre, hätten sie sich wohl nicht in eine ihrer Meinung nach ziemlich gefährliche Lage begeben.

Olga Iwanowna brachte einen einfachen Holzstuhl und stellte ihn mir gegenüber. Dann holte sie noch einen und stellte ihn neben mich. Ian Young setzte sich neben mich, und Boris Dimitriwitsch nahm mir gegenüber Platz.

Ich sah mich derweil im Zimmer um. Ein Großteil der Stellfläche wurde von Bücherregalen eingenommen, der Rest von Schränken. Das einzige, große Fenster verdeckten solide, cremefarbene Läden, die mit einer flachen, durch Bügel laufenden Metallstange verriegelt waren. Der Boden bestand aus kahlen Holzdielen mit dunklen Flecken, ungebohnert und sauber. An Mobiliar gab es einen Tisch, ein altes, mit einer Decke verhängtes Sofa, mehrere Stühle und den bequemen Sessel, in dem ich saß. Sämtliche Möbel mit Ausnahme der beiden Stühle, die für Boris Dimitriwitsch und Ian Young umgestellt worden waren, waren an den Wänden, vor den Bücherregalen und Schränken, aufgereiht, so daß die Mitte frei blieb. Es gab nichts, was zur Auflockerung beitrug: keine Vorhänge, keine Kissen, keine Zimmerpflanzen. Nichts Extravagantes, Verschwenderisches oder Überflüssiges. Alles war von alter, vernünftiger Gediegenheit und vermittelte einen Eindruck von Abgenutztheit, der von langem Gebrauch, nicht aber von Armut herrührte. Ein Raum, der von Menschen bewohnt wurde, die ihn so haben wollten, nicht von Menschen, die sich nichts anderes leisten konnten.

Ian Young führte in unverständlichem Russisch ein kurzes Gespräch mit Boris Dimitriwitsch, dann übersetzte Young und sah besorgter aus, als mir lieb war.

»Boris möchte uns warnen«, sagte er. »Mit was Sie sich da beschäftigen, ist nicht irgendein lächerlicher Skandal, sondern es hat etwas mit Mord zu tun.«

»Mit was?«

Er nickte. »Das sind seine Worte.« Er wendete sich wieder Boris zu, und sie redeten eine Weile. Den Gesichtern um mich herum entnahm ich, daß das, was Boris sagte, niemand außer Young und mir neu war.

Boris hatte die typische Reiterfigur, mittelgroß, breite Schultern und gut koordinierte Bewegungen. Er sah gut aus, mit glattem schwarzem Haar und fest anliegenden Ohren. Ernst redete er auf Ian Young ein, wobei seine Augen alle paar Sekunden zu mir herübersahen, als wollte er sich vergewissern, daß er mir noch immer trauen konnte.

»Boris sagt, dieser Deutsche, Hans Kramer, wurde ermordet.«

Der Schock war Young anzusehen.

»Nein«, sagte ich mit Bestimmtheit. »Die Autopsie hat eine natürliche Todesursache ergeben.«

Ian schüttelte den Kopf. »Boris sagt, jemand hat es fertiggebracht, daß Leute tot umfallen und es wie ein Herzanfall aussieht. Er sagt, der Tod von Hans Kramer war ...«, er wandte sich mit einer Rückfrage an Bons, dann wieder mir zu, »... der Tod von Hans Kramer war eine Art Demonstration.«

Das klang lächerlich. »Was für eine Demonstration?«

Es entstand eine längere Diskussion. Ian Young schüttelte den Kopf und widersprach. Boris machte heftige, hackende Bewegungen mit den Händen, und rote Flecken entstanden auf seinen Wangen. Ich schloß daraus, daß seine Informationen an diesem Punkt ins Reich der Vermutungen übergegangen waren und daß Ian Young das Gesagte nicht glaubte. Zeit, sich wieder auf das Gebiet der Fakten zu begeben.

»Augenblick«, unterbrach ich. »Wollen wir nicht am

Anfang anfangen? Ich werde Fragen stellen, und er soll mir antworten. Okay?«

»Gut«, stimmte Young zu. »Fangen Sie an.«

»Fragen Sie ihn, wie er nach England gereist ist, wo er hingefahren ist, wo er wohnte und wie sein Team abgeschnitten hat.«

»Aber was hat das mit Hans Kramer zu tun?« fragte er verblüfft.

»Nicht viel. Aber ich kenne die Einzelheiten und möchte mich gern vergewissern, daß Boris auch der ist, für den er sich ausgibt. Außerdem wird er sich bei diesen Nebensächlichkeiten etwas beruhigen, und wir bekommen dann vielleicht ein etwas klareres Bild.«

Young kniff die Augen zusammen. »Mein Gott«, sagte er leise, dann gab er meine Fragen an Boris weiter.

Ungeduldig antwortete der, daß sie mit Pferdetransportwagen durch Europa bis nach Den Haag gefahren waren, und von dort per Schiff nach England, weiter mit dem Pferdetransporter nach Burleigh, wo sie in extra für sie reservierten Unterkünften wohnten.

»Wie viele Pferde und wie viele Begleiter?« fragte ich.

Sechs Pferde, sagte Boris, stolperte aber über die Anzahl der Leute. Lag das vielleicht daran, daß die Russen nur für sieben bezahlt hatten, es aber in Wirklichkeit zehn oder mehr Männer gewesen waren, ließ ich fragen. »Machen Sie einen Scherz draus«, sagte ich zu Ian Young, »damit er nicht beleidigt ist.«

Der Scherz gelang offenbar, denn Boris und die anderen Männer brachen in Gelächter aus, was die Spannung beträchtlich milderte.

»Sie wollen wissen, woher Sie das haben«, sagte Ian.

»Der Mann von der Schiffsagentur hat es mir erzählt. Es wurden Fahrscheine für sechs Reiter und den Chef d’Equipe gekauft, aber drei oder vier Stalleute fuhren zwischen den Beinen der Pferde mit. Die Schiffahrtsgesellschaft war nicht böse, sie fand es eher lustig.«

Ian übersetzte meine Antwort und erhielt eine Runde erfreuter Kehllaute. Boris berichtete genau vom Abschneiden des russischen Teams, und am Ende zweifelte ich nicht, daß er der war, für den er sich ausgab. Jetzt war er auch viel entspannter, und so wagte ich einen erneuten Vorstoß.

»Fragen Sie, ob er Hans Kramer persönlich gekannt hat. Ob er je mit ihm gesprochen hat, und wenn ja, in welcher Sprache.«

Die Frage rief eine erneute Verkrampfung hervor, aber die Erwiderung klang nur leicht nervös.

Ian Young dolmetschte. »Ja, er hat mit Hans Kramer gesprochen. Sie haben deutsch gesprochen, obwohl Boris nicht viel Deutsch kann. Er kannte Kramer schon von anderen Veranstaltungen her, und sie hatten sich angefreundet.«

»Fragen Sie ihn, worüber sie geredet haben.«

Die Antwort kam rasch und war vorhersehbar. »Über Pferde. Die einzelnen Prüfungen. Die Olympiade. Das Wetter.«

»Sonst noch etwas?«

»Nein.«

»Nichts, was mit Backgammon, Spielklubs, Homosexuellen oder Transvestiten zu tun hatte?«

An der allgemeinen schweigenden Mißbilligung der Runde sah ich, daß Boris es keinesfalls zugeben konnte, wenn er wirklich mit Kramer über dergleichen gesprochen hatte. Sein entschiedenes Nein klang aber doch sehr aufrichtig.

»Kennt er Johnny Farringford?« fragte ich.

Wie sich herausstellte, wußte Boris, wer Johnny war, hatte ihn reiten sehen, aber nie mit ihm gesprochen.

»Hat er Hans Kramer und Johnny Farringford zusammen gesehen?«

Jedenfalls war es Boris nicht aufgefallen.

»War er dabei, als Hans Kramer starb?«

»Nein. Er hatte die Querfeldeinstrecke beendet, bevor Kramer drankam. Er sah, wie Kramer gewogen wurde ... ist das richtig?« fragte Ian Young zweifelnd.

»Ja«, sagte ich. »Die Pferde haben ein Minimalgewicht zu tragen, damit es gerechter zugeht. Die Reiter werden mit ihrem Sattel unmittelbar vor dem Start gewogen, und sofort nach ihrer Rückkehr. Genau wie beim Rennen.«

Offenbar hatte Boris warten müssen, bis Hans Kramer gewogen war, bevor er sich zurückwiegen lassen konnte. Er hatte Kramer noch alles Gute gewünscht. Das Ironische daran erfüllte die Zuhörer offenbar mit wohligem Kummer.

»Bitte fragen Sie Boris, warum er glaubt, daß Hans Kramer ermordet wurde.« Ich sprach betont gleichmütig, und Ian Young übersetzte genauso, aber meine Worte riefen bei Boris wieder höchste Aufregung hervor.

»Hat er es jemand sagen hören?« bohrte ich nach, um seinen Gefühlsausbruch zu ersticken.

»Ja.«

»Wen hat er gehört?«

Boris kannte den Mann nicht.

»Hat der Mann es Boris gesagt?«

Nein, Boris hatte es ganz zufällig gehört.

Mir wurde klar, warum Ian Young die ganze Geschichte angezweifelt hatte.

»Fragen Sie, welche Sprache der Mann sprach.«

Russisch, sagte Boris, aber es war kein Russe.

»Meint er, der Mann sprach russisch mit fremdem Akzent?«

So war es.

»Was für ein Akzent?« fragte ich geduldig. »Welches Land?«

Boris wußte es nicht.

»Wo war Boris, als er hörte, was der Mann sagte?«

Mir kam die Frage recht harmlos vor, aber es entstand ein plötzliches Schweigen. Schließlich ergriff Jewgenij Sergej ewitsch Titow das Wort und richtete eine längere Rede an Ian.

»Sie müssen verstehen, daß Boris nicht dort hätte sein dürfen, wo er war. Daß Sie ihn in der Hand haben, wenn er es sagt.«

»Ich verstehe«, sagte ich.

Es entstand Schweigen.

Ian sagte: »Ich glaube, sie möchten, daß Sie schwören, niemals zu verraten, wo er war.«

»Er soll mir einfach nur sagen, was er gehört hat«, sagte ich.

Sie berieten sich kurz, aber sie hatten wohl schon vor meinem Kommen beschlossen, daß ich es erfahren mußte.

Wieder sprach Jewgenij Sergeijewitsch. Boris, sagte er, sei in einem Zug nach London gewesen. Das war strengstens verboten. Wenn es entdeckt worden wäre, hätte man ihn sofort nach Hause geschickt und er wäre in Ungnade gefallen. Er wäre nicht mehr für das olympische Team in Frage gekommen und womöglich im Gefängnis gelandet, da er Briefe und andere Schriftstücke für Russen bei sich trug, die in den Westen geflüchtet waren. Keine politischen Papiere, sagte Jewgenij ernst, nur persönliche

Briefe und Bilder von den Familien der Flüchtlinge und einige kleine Artikel zur Veröffentlichung in literarischen Wochenzeitungen. Keine Staatsgeheimnisse, aber vollkommen illegal. Viele Leute, nicht nur Boris, wären in Schwierigkeiten gekommen, wenn man ihn angehalten hätte. Deshalb hatte er einen großen Schreck bekommen, als im Zug jemand russisch sprach, und gar nicht versucht, zu sehen, wer es war; er hatte sich bemüht, selbst nicht gesehen zu werden. Er hatte sich aus dem Waggon geschlichen und war durch den Zug ganz nach vorn gegangen. In London war er rasch ausgestiegen und von Freunden empfangen worden.

»Ich verstehe«, sagte ich, als Ian Young mit Übersetzen fertig war. »Sagen Sie ihm, ich werde schweigen.«

Ermutigt kam Bons jetzt zum Kern der Sache.

»Es waren zwei Männer«, dolmetschte Ian Young. »Aber durch den Fahrtlärm konnte Boris nur einen verstehen.«

»Ja. Nur weiter.«

Boris sprach in eine atemlose Stille hinein. Ian Young hörte zu, und seine frühere Skepsis kam wieder zum Vorschein.

»Er sagte«, berichtete er, »daß er einen Mann sagen hörte: >Es war eine perfekte Demonstration. Sie könnten auf die gleiche Weise die Hälfte der Reiter auf der Olympiade umbringen, wenn Sie das wollen. Aber das wird teuer für Sie.< Dann sagte der andere Mann etwas Unverständliches, und dann sprach wieder die Stimme, die Boris verstehen konnte: >Ich habe noch einen anderen Interessenten^ Der andere Mann sagte etwas, dann wieder die Stimme: >Kramer brauchte neunzig Sekunden.««

Lieber Gott, dachte ich. Lieber Gott im Himmel.

In diesem Moment schlich sich Boris davon, fuhr Ian Young fort. Er hatte zuviel Angst, entdeckt zu werden, um die volle Bedeutung des Gehörten zu verstehen. Außerdem erfuhr er erst am nächsten Tag von Kramers Tod. Als er es hörte, war er vollkommen verstört. Bis dahin hatte er die neunzig Sekunden für ein Ergebnis bei der Military gehalten.

»Bitten Sie ihn, zu wiederholen, was der Mann sagte.«

Das geschah.

»Hat Boris beim erstenmal genau dieselben Worte gebraucht?« fragte ich.

»Ja. Ganz genau diese Worte.«

»Aber Sie glauben ihm nicht?«

»Er hat etwas vollkommen Harmloses halb gehört, und der Rest ist Phantasie.«

»Aber er ist davon überzeugt«, beharrte ich. »Er wurde böse, als Sie argumentierten. Er glaubt, das ist das, was er gehört hat.«

Ich dachte nach, wobei ich mir der sieben unverwandt auf mein Gesicht gerichteten Augenpaare wohl bewußt war.

»Bitte fragen Sie Mr. Titow, warum er Boris überredet hat, uns das alles zu erzählen«, bat ich.

Jewgenij, der auf einem Stuhl vor einem Bücherregal saß, antwortete. Offensichtlich lastete die Verantwortung schwer auf ihm. Seine Stirn war gefurcht, die Augen schwermütig.

Ian übersetzte: »Seit Boris aus England zurück ist und ihm erzählte, was er gehört hat, war er besorgt. Möglicherweise irrte Boris sich, aber vielleicht auch nicht. Wenn das stimmt, was er zu hören glaubte, könnte ein weiterer Mord bei der Olympiade geschehen. Oder mehr als einer. Als guter Russe möchte Jewgenij nicht, daß sein Land in den Augen der Welt schlecht dasteht. Es geht nicht, daß Sportler auf russischem Boden ermordet werden. Es mußte ein Weg gefunden werden, jemand einzuschalten, der eine Untersuchung veranlassen konnte, aber Jewgenij kannte niemand in England oder Deutschland, dem er hätte schreiben können, selbst wenn er der Post einen solchen Brief hätte anvertrauen können. Außerdem durfte er nicht erklären, wie er zu diesen Kenntnissen kam, ohne die Zukunft von Boris zu gefährden. Andererseits konnte er sich nicht vorstellen, daß jemand die Geschichte ohne die Aussage von Boris selbst glauben würde. Er steckte also in einer Sackgasse.«

»Fragen Sie ihn, ob sie einen gewissen Aljoscha kennen, der auch nur im entferntesten mit dem russischen Team, der Military, der Olympiade oder Hans Kramer zu tun hat.«

Die Befragung aller Anwesenden ergab ein klares Nein.

»Ist Boris mit Jewgenij verwandt?« fragte ich.

Die Frage wurde übermittelt und beantwortet.

»Nein. Boris schätzt lediglich Jewgenijs Rat ... Jewgenij hat die anderen hinzugezogen.«

Ich betrachtete Ian nachdenklich. Wie üblich verriet sein Gesicht so wenig wie ein Granitbrocken, und ich fand es ärgerlich, keinerlei Hinweis darauf zu besitzen, was er dachte.

»Sie kannten Mr. Titow bereits, nicht wahr? Sie sind schon öfter hier gewesen?« fragte ich.

»Ja. Zwei- oder dreimal. Olga Iwanowna ist im Amt für kulturelle Beziehungen beschäftigt. Aber ich muß vorsichtig sein. Eigentlich darf ich nicht hier sein.«

»Sehr kompliziert«, stimmte ich zu.

»Jewgenij hat mich heute nachmittag angerufen und mir gesagt, daß Sie in Moskau sind; ob ich Sie heute abend mitbringen könnte. Ich sagte, ich würde es versuchen, nachdem Sie in der Botschaft gewesen seien.«

Die Geschwindigkeit, mit der sich hierzulande Neuigkeiten verbreiteten, verblüffte mich. »Woher wußte Jewgenij eigentlich, daß ich in Moskau bin?«

»Nikolai Alexandrowitsch hat es Boris erzählt ...«

»Wer?«

»Nikolai Alexandrowitsch Kropotkin. Der Chef d’Equipe. Sie haben morgen vormittag eine Verabredung mit ihm. Kropotkin erzählte es Boris, Boris sagte es Jewgenij, Jewgenij rief mich an, und ich hatte von Oliver Waterman gehört, daß Sie auf einen Drink zu ihm kommen würden.«

»Ganz einfach«, meinte ich kopfschüttelnd. »Aber wenn Jewgenij Sie kannte, warum hat er Ihnen nicht die ganze Geschichte schon vor Wochen erzählt?«

Ian Young warf mir einen kühlen Blick zu und übermittelte die Frage.

»Jewgenij sagt, weil Boris nicht mit mir sprechen wollte.«

»Na, weiter«, drängte ich, als er verstummte. »Warum hat Boris sich dann entschlossen, mit mir zu reden?«

Achselzuckend gab Ian die Frage an Boris weiter und übersetzte die Antwort.

»Weil Sie ein Reiter sind. Ein Mann, der mit Pferden Bescheid weiß. Boris vertraut Ihnen, weil Sie ein Kamerad sind.«

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