Kapitel 12

Der Winter hatte bereits ganz von der Moskwa Besitz ergriffen. Ich verschwand unter der Wasseroberfläche, und die plötzliche, unbeschreibliche Kälte war der betäubende, schlagartige Schock, den im arktischen Ozean Badende nicht überleben.

Ich kämpfte mich wieder an die Luft, aber in meinem Herzen wußte ich, daß die Schlacht verloren war. Ich war schwach und halb erblindet, und es war dunkel und schneite in dicken Flocken. Die Temperatur nahm mir den Atem, und meine rechte Hand war völlig gefühllos. Meine Kleidung saugte sich voll Wasser und wurde immer schwerer. Bald würde sie mich in die Tiefe ziehen. Die Strömung trieb mich flußabwärts, unter der Brücke hindurch, weg von der Botschaft; und noch während ich um Hilfe zu rufen versuchte, dachte ich, daß die einzigen menschlichen Wesen in Hörweite die beiden waren, von denen ich keine zu erwarten hatte.

Jedenfalls trug der Schrei mir einen Mund voll eisigem Wasser ein; und das schien das Ende zu sein.

Lethargie begann meine Schwimmversuche zu verlangsamen und meinen Verstand zu betäuben. Entschlußkraft verebbte. Zusammenhängendes Denken hörte auf. Ich war von der Kälte narkotisiert; ein Klumpen bereits geistloser Materie, alle körperlichen Funktionen kurz vor dem Stillstand, willenlos, hilflos untergehend.

Ich begann tatsächlich zu sterben.

Undeutlich vernahm ich eine Stimme.

»Randall . Randall .«

Helles Licht schien mir ins Gesicht.

»Randall, hierher. Halten Sie aus ...«

Ich konnte nicht länger aushalten. Meine Beine hatten ihren letzten schwachen Zappler getan. Die einzige Richtung, die mir blieb, war nach unten, in den tiefen, eisigen Tod.

Etwas Flaumiges fiel auf mein Gesicht, flaumiger und fester als Schnee. Ich war darüber hinaus, danach zu greifen, mir kam nicht einmal der Gedanke. Aber irgendwo in den letzten Tiefen des Bewußtseins muß ein Instinkt noch am Werk gewesen sein, denn ich machte den Mund auf und biß in das, was da über mein Gesicht gefallen war.

Eine Menge weiches Zeug kam mir zwischen die Zähne. Und dann war da ein Ruck, als zöge jemand daran. Ich biß fester zu.

Wieder ein Ruck. Mein Kopf, der schon fast unter Wasser gewesen war, kam ein paar Zentimeter hoch.

Schwerfällig kroch ein Gedanke in die alten Gehirnwindungen zurück. Wenn ich an dieser Leine festhielt, wurde ich vielleicht wie ein Fisch ans Ufer gezogen.

Ich sollte mich wohl mit mehr als den Zähnen festhalten, dachte ich verschwommen.

Hände.

Da war doch was mit Händen.

Konnte sie nicht spüren.

»Randall, halten Sie fest. Hier ist gleich eine Leiter.«

Ich hörte die Worte, und sie kamen mir albern vor. Wie konnte ich eine Leiter hochklettern, wenn ich meine Hände nicht spürte?

Trotzdem war ich wach genug, um zu begreifen, daß mir eine letzte, winzige Chance gegeben worden war, und verbiß mich mit aller Macht in dem weichen Rettungsseil.

Das Seil zog mich gegen die Mauer.

»Halten Sie sich fest«, rief die Stimme, »Da irgendwo ist sie. Ganz nah. Halten Sie nur aus.«

Ich schlug gegen die Mauer. Ganz nah war vielleicht nicht nah genug. Ganz nah war so weit weg wie die Sonne.

»Hier ist sie«, schrie die Stimme. »Sehen Sie sie? Direkt neben Ihnen. Ich leuchte mit der Taschenlampe. Da. Können Sie danach greifen?«

Greifen. Nach was?

Wie ein Stück Holz lag ich da.

»Großer Gott«, sagte die Stimme. Wieder fiel Licht auf mein Gesicht und ging dann aus. Ich hörte Geräusche näherkommen, auf der Flußseite die Mauer herunterkommen.

»Geben Sie mir die Hände.«

Ich konnte nicht.

Ich spürte, wie jemand meinen rechten Arm am Mantelärmel aus dem Wasser zog.

»Großer Gott«, wiederholte er; und ließ ihn zurückfallen.

Er zerrte meinen linken Arm hoch.

»Halten Sie sich damit fest«, kommandierte er, und ich spürte, wie er versuchte, meine Finger um so etwas wie eine waagrechte Stange zu biegen.

»Hören Sie«, sagte er. »Sie müssen aus dem verdammten Fluß raus. Sie sind ja schon halb tot, wissen Sie das? Sie waren schon viel zu lange drin. Und wenn Sie nicht innerhalb einer Minute draußen sind, kann Sie nichts mehr retten. Haben Sie das kapiert? Dann klettern Sie um Himmels willen da rauf!«

Ich konnte nicht sehen, wo ich raufklettern sollte, selbst wenn ich die Kraft dazu besessen hätte. Wieder holte er meinen rechten Arm aus dem Wasser, und ich hatte den Eindruck, daß er versuchte, meine rechte Hand hinter die waagrechte Stange zu praktizieren, denn auf einmal spürte ich sie an meinem Handgelenk.

»Stellen Sie die Füße auf eine der Sprossen unter Wasser«, befahl er. »Tasten Sie danach. Die Leiter reicht weit runter.«

Vage begann ich zu verstehen. Versuchte einen Fuß auf eine der unter Wasser liegenden Sprossen zu kriegen, und wie durch ein Wunder gelang es mir. Er merkte es sofort an meinem Gewicht.

»Gut. Die Sprossen sind nur dreißig Zentimeter weit auseinander. Ich lege Ihre linke Hand auf die nächste Sprosse. Und lassen Sie bloß nicht Ihre rechte Hand wegrutschen.«

Ich bot die letzten Reste tiefgekühlter Kraft auf und schob mich tatsächlich dreißig Zentimeter die Wand hinauf.

»Sehr schön«, sagte die Stimme über mir, und es klang mächtig erleichtert. »Und jetzt immer so weiter, und fallen Sie bloß nicht runter.«

Ich machte immer so weiter und fiel auch nicht runter, obwohl es mir wie der Mount Everest und das Matterhorn auf einmal vorkam. Irgendwann, als eine Hälfte von mir aus dem Wasser heraus war, machte ich den Mund auf und ließ das flaumige, mittlerweile durchnäßte Ding herausfallen. Von oben kam ein Ausruf, und sofort wurde das Seil statt dessen um mein linkes Handgelenk gebunden.

Er kletterte vor mir die Leiter hinauf, immer noch fluchend, Befehle erteilend und mich zur Eile antreibend.

Schritt für Schritt kamen wir langsam hinauf. Als ich oben ankam, stand er schon auf der anderen Seite der

Mauer, griff nach mir und rollte mich über die Brüstung auf festen Boden. Sofort gaben meine Beine unter mir nach, und ich fiel zu einem triefenden Haufen auf der schneebedeckten Erde zusammen.

»Ziehen Sie Mantel und Jacke aus«, kommandierte er. »Begreifen Sie nicht, daß Kälte genauso schnell tötet wie eine Kugel?«

Verschwommen sah ich ihn im Licht der Straßenlaternen, aber es war seine Stimme, die ich schließlich mit Bestimmtheit erkannte, wenn ich auch glaubte, irgendwann an der Mauer im Unterbewußtsein Bescheid gewußt zu haben.

»Frank«, sagte ich.

»Ja. Nun machen Sie schon. Kommen Sie, ich mache die Knöpfe auf.« Seine Finger waren stark und geschickt. »Ziehen Sie das aus.« Er zerrte heftig an den klebenden, nassen Ärmeln.

»Das Hemd auch.« Er riß es mir herunter, so daß der Schnee auf meine nackte Haut fiel. »Jetzt ziehen Sie das hier an.« Er führte meine Arme in etwas Warmes, Trockenes, das er vorne zuknöpfte.

»Gut«, sagte er. »Und jetzt müssen Sie zur Brücke zurücklaufen. Es sind nur ein paar hundert Meter. Stehen Sie auf, Randall. Los, machen Sie schon.« Schärfe lag in seiner Stimme, sicher weil ihm auch kalt war, denn was immer mich jetzt schützte, war von ihm gekommen. Mit weichen Knien stolperte ich neben ihm her und hätte gern über die Ironie der Dinge im allgemeinen gelacht, aber für derartige Frivolitäten fehlte mir der Atem.

Als ich beinahe gegen einen Laternenmast lief, sagte er ärgerlich: »Können Sie nicht aufpassen?«

»Habe meine B-b-rille verloren«, erklärte ich.

»Wollen Sie behaupten, daß Sie ohne Brille noch nicht mal einen gottverdammten Laternenmast sehen können?« fragte er ungläubig.

»Nicht ... genau.«

»Großer Gott.«

In seinem Mantel zitterte ich am ganzen Körper, bis ins Mark ausgekühlt. Obwohl sie offenbar ihren Dienst taten, schienen meine Beine nicht zu mir zu gehören, und in der Denkabteilung herrschte noch ziemliche Verwirrung.

Wir gelangten zu einer Reihe Stufen, über die wir uns zur Hauptstraße schleppten. Mit erstaunlicher Promptheit rollte ein schwarzer Wagen heran und hielt neben uns. Frank warf meine nassen Sachen auf den Rücksitz und stieß mich hinterher. Er selbst setzte sich nach vorn und gab dem Fahrer knappe Anweisungen auf russisch, mit dem Ergebnis, daß wir die nun bereits vertrauten, langen Einbahnstraßen entlangfuhren und schließlich vor dem Hotel Intourist hielten.

Frank nahm meine Sachen und begleitete mich durch die Eingangstür in die Umarmung der Zentralheizung. Ohne mich nach meiner Zimmernummer zu fragen, holte er meinen Schlüssel, schob mich in den Lift, drückte auf den Knopf für die achte Etage und begleitete mich bis zu meiner Tür, steckte den Schlüssel ins Schloß, machte auf und lotste mich hinein.

»Was werden Sie machen, wenn Sie nichts sehen können?« fragte er.

»H ... habe eine Ersatzb ... brille mit.«

»Wo?«

»Oberste Schublade.«

»Setzen Sie sich«, sagte er und stieß mich förmlich auf das Sofa, obwohl der kleinste Schubs genügt hätte. Ich hörte, wie er die Schublade aufzog, und gleich darauf legte er mir die Reservebrille in die Hand. Ich fummelte sie mir auf die Nase, und die Welt nahm wieder ihr gewohntes Aussehen an.

Er betrachtete mich mit unerwarteter Sorge, sein Gesicht hart und intelligent, aber noch während ich ihn ansah, verschwand der falkenhafte Ausdruck, und die Züge nahmen die Mittelmäßigkeit an, die wir von den Mahlzeiten her kannten.

Er trug, wie ich sah, nur einen Sweater über dem Hemd und um den Hals seinen langen gestreiften Collegeschal. Meine Rettungsleine.

»I . ich g . gebe Ihnen besser Ihren M . mantel zurück«, murmelte ich und versuchte, die Knöpfe aufzumachen. Die Finger meiner rechten Hand waren kraftlos und schmerzten, also nahm ich die linke.

»Sie sollten lieber ein heißes Bad nehmen«, meinte er schüchtern. Da war keine Entschlossenheit mehr, kein Fluchen, keine außerordentliche Tüchtigkeit.

»Ja«, sagte ich. »Danke.«

Seine Augen flackerten. »Ein Glück, daß ich zufällig vorbeikam.«

»Der glücklichste Zufall meines Lebens.«

»Ich ging gerade etwas spazieren, da sah ich Sie aus einem Taxi steigen und die Stufen hinuntergehen«, erklärte er. »Dann hörte ich einen Schrei und ein Aufklatschen, dachte natürlich nicht, daß Sie das sein könnten, wollte aber doch lieber nachsehen. Also folgte ich Ihnen, und glücklicherweise hatte ich meine Taschenlampe bei mir. Tja, so war das.«

Die Frage, wie ich unabsichtlich über eine brusthohe Mauer hatte fallen können, vermied er peinlichst.

»Meine Erinnerung ist ziemlich verschwommen«, erwiderte ich entgegenkommend, und das schien ihm zu gefallen.

Er half mir aus seinem Mantel und in meinen Morgenrock.

»Wird es so gehen?« fragte er.

»Ja, prima.«

Offenbar wollte er weg, und ich hielt ihn nicht auf. Er nahm Hut und Taschenlampe vom Sofa, dazu seinen Mantel, murmelte etwas wie, ich solle dem Hotel meine Sachen zum Trocknen geben, und entfloh einer für ihn sicher recht peinlichen Lage.

Mir war ziemlich komisch. Heiß und kalt zur gleichen Zeit und leicht schwindlig. Ich entledigte mich der restlichen klammen Kleidungsstücke, die als feuchter Haufen im Badezimmer zurückblieben.

Die Finger meiner rechten Hand sahen schlimm aus. Viel geblutet hatten sie dank des Bades im eisigen Wasser nicht, aber drei wiesen vom Nagel bis zum Handrücken häßliche Risse auf und waren völlig kraftlos.

Ich sah auf die Uhr, doch sie war stehengeblieben.

Ich mußte die Sache wieder in den Griff bekommen, dachte ich. Mußte wirklich zu mir kommen. Das war dringend notwendig.

Ich ging zum Telefon hinüber und wählte die Nummer der Universität, Abteilung ausländische Studenten. Stephen wurde geholt und meldete sich liebenswürdig.

»Ist noch was?« fragte er.

»Wie spät ist es? Meine Uhr steht.«

»Sie haben doch nicht angerufen, um mich das zu fragen? Es ist übrigens fünf nach sechs.«

Fünf nach sechs ... kaum zu glauben. Erst eine dr ei viertel Stunde war vergangen, seit ich mich zur Botschaft aufgemacht hatte. Mir kam es wie ein dreiviertel Jahrhundert vor.

»Hören Sie«, sagte ich. »Würden Sie mir einen Riesengefallen tun? Würden Sie ...« Ich verstummte. Eine Welle von Übelkeit überflutete mein ramponiertes Nervensystem, und ich keuchte.

»Ist Ihnen nicht gut?« fragte Stephen bedächtig.

»Nein«, antwortete ich. »Hören Sie ... würden Sie zur britischen Botschaft gehen und ein Fernschreiben abholen, das dort für mich liegt, und es ins Intourist bringen? Ich würde Sie nicht darum bitten, aber ... wenn ich es heute nicht kriege, muß ich bis Montag warten ... und seien Sie vorsichtig ... wir haben ziemlich rauhbeinige Freunde ... Fragen Sie in der Botschaft nach Polly Paget vom Büro des Kulturattaches.«

»Waren die rauhbeinigen Freunde wieder mit dem Pferdetransporter zugange? Können Sie deshalb nicht selbst gehen?« fragte er besorgt.

»So ähnlich.«

»Na gut«, sagte er. »Bin schon unterwegs.«

Ich legte den Hörer auf die Gabel zurück und verschwendete einige Minuten damit, mir selbst leid zu tun. Dann beschloß ich, Polly Paget anzurufen, konnte mich aber nicht an die Nummer erinnern.

Die Nummer stand auf einem Zettel in meiner Brieftasche. Meine Brieftasche befand sich in der Brusttasche meiner Jacke oder hatte sich dort befunden. Meine Jacke war naß und im Badezimmer, wo Frank sie hingetan hatte. Ich nahm alle Kraft zusammen und ging nachsehen. Die Brieftasche war noch da, aber, wie nicht anders zu erwarten, durch und durch naß.

Ich fischte die Liste der Telefonnummern heraus, entfaltete sie, und zu meiner Erleichterung war sie noch lesbar.

Polly Paget klang verärgert, daß ich noch nicht mal unterwegs war.

»Ich bin hier fertig«, sagte sie gereizt. »Ich möchte jetzt gehen.«

»Ein Freund kommt an meiner Stelle«, sagte ich. »Stephen Luce. Er muß gleich da sein. Bitte warten Sie auf ihn.«

»Also gut.«

»Und könnten Sie mir Ian Youngs Telefonnummer geben? Von seiner Wohnung, meine ich.«

»Augenblick.« Sie ging weg, kam wieder und nannte die Nummer. »Das ist seine Wohnung hier auf dem Botschaftsgelände. Soviel ich weiß, bleibt er fast das ganze Wochenende zu Hause. Wie wir alle. In Moskau ist ja nie viel los.«

Wenn Sie wüßten, meine Dame, dachte ich.

Stephen kam und brachte Gudrun mit.

Die Zwischenzeit hatte ich damit verbracht, trockene Unterwäsche, Hosen und Socken anzuziehen und mich aufs Bett zu legen. Franks Rat mit dem heißen Bad befolgte ich nicht, wie Ophelia hatte ich bereits zuviel des Wassers gehabt. Es wäre doch zu dumm gewesen, wenn ich im Bad ohnmächtig geworden und von weißen Kacheln umgeben ertrunken wäre.

Stephens fröhliches Grinsen verschwand sehr schnell.

»Sie sehen aus wie der Tod. Was ist denn passiert?«

»Haben Sie das Fernschreiben?«

»Ja, haben wir. Das Ding ist endlos. Setzen Sie sich bloß, bevor Sie umkippen.«

Gudrun plazierte ihre schlanke, elegante Gestalt auf das Sofa, während Stephen meinen Scotch in Zahnputzgläser ausschenkte. Ich zog mich wieder auf mein Bett zurück und deutete auf die heikle Stelle an der Wand. Stephen nickte, nahm den Recorder, machte ihn an und hielt ihn gegen den Putz.

Nichts.

»Außer Dienst«, stellte er fest. »Also, erzählen Sie uns, was geschehen ist.«

Ich schüttelte leicht den Kopf. »Eine Prügelei.« Mir lag nichts daran, Gudrun mit hineinzuziehen. »Sagen wir einfach ... es gibt mich noch.«

»Und du nicht wollen machen Stunk?«

Ich lächelte dünn. »Man hat seine Gründe.«

»Hoffentlich gute. Hier sind also Ihre heißen Neuigkeiten von daheim.« Er zog einen Umschlag aus der Tasche und warf ihn mir zu. Ich machte den Fehler, ihn mit der rechten Hand fangen zu wollen, und ließ ihn prompt fallen.

»Sie haben sich die Finger verletzt«, sagte Gudrun besorgt.

»Ein bißchen geklemmt.« Ich holte das Fernschreiben aus dem Umschlag, und das Ding war tatsächlich endlos. Hughes-Beckett wollte offenbar meine schlechte Meinung über sein Büro widerlegen, dachte ich zynisch.

»Während ich das lese«, sagte ich, »würden Sie wohl einen Blick auf das Zeug da werfen?« Ich wies auf die Hustenpastillendose und Mischas Zettel. »Übersetzen Sie es mir bitte.«

Sie nahmen das Häufchen Papiere und blätterten es murmelnd durch. Ich überflog den ersten Abschnitt des Fernschreibens, der sich ausschließlich mit Hans Kramers Lebenslauf beschäftigte und viel mehr Einzelheiten enthielt, als ich erwartet oder erbeten hatte. Bereits mit drei Jahren hatte er auf Ponys Preise gewonnen. Hatte acht verschiedene Schulen besucht. In seiner Jugend schien er häufig krank gewesen zu sein, denn es gab Hinweise auf Ärzte und Krankenhäuser, aber mit achtundzwanzig hatte sich das gegeben. Sein frühes Interesse an Pferden hatte sich von da an verstärkt, und er gewann große Turniere. Zwei Jahre lang, bis zu seinem Tod, reiste er teils allein, teils als Mitglied der westdeutschen Mannschaft zu internationalen Veranstaltungen.

Dann kam ein Abschnitt mit der Überschrift »CharakterBeurteilung«, in dem rückhaltlos schlecht über den Toten gesprochen wurde. »Geduldet, aber nicht beliebt unter seinen Mannschaftskameraden. Ungewöhnliche Persönlichkeit, kalt, unfähig, Freunde zu gewinnen. Vorliebe für Pornographie, hetero- und homosexuelle, aber soweit bekannt keine längerfristige sexuelle Bindung. Latente Gewalttätigkeit zu vermuten, Benehmen im allgemeinen jedoch beherrscht.«

Dann eine nackte, kurze Feststellung: »Die Leiche wurde den in Düsseldorf lebenden Eltern übergeben und eingeäschert.«

Da war noch sehr viel mehr über andere Dinge zu lesen, aber ich sah von den getippten Seiten auf, um festzustellen, wie Stephen und Gudrun vorankamen.

»Na, was haben Sie gefunden?« fragte ich.

»Vier Autogramme von Deutschen. Eine Liste in russischer Sprache über Bürsten und andere Sachen, die mit Pferdepflege zu tun haben. Eine weitere Liste, auch in russisch, mit Zeiten und Orten, die sich meiner Meinung nach auf Reitturniere beziehen, denn da steht beispielsweise >Querfeldeinstrecke Start zwei Uhr vierzig, Bleidecke nicht vergessen.< Beide müssen von Mischa geschrieben sein, denn da ist auch noch eine Art

Tagebuch, in dem er aufführt, was er für seine Pferde getan hat, welches Futter sie bekamen und so weiter, und das wäre alles.«

»Was ist mit dem Zettel in der Pillenschachtel?«

»Ah ja. Tja, um ganz aufrichtig zu sein, da können wir Ihnen wenig helfen.«

»Warum nicht?«

»Es ergibt keinen Sinn.« Er schnitt mir eine komische Grimasse.

»Oder können du bringen Sinn in Unsinn?«

»Wer weiß.«

»Also gut. Wir glauben, daß die Buchstaben auf dem Zettel möglicherweise zweimal dasselbe sagen, einmal auf russisch, einmal auf deutsch. Aber in keiner Sprache sind es gewöhnliche Wörter, außerdem sind alle zusammengezogen, ohne Zwischenraum.«

»Könnten Sie es mir in englisch aufschreiben?«

»Immer zu Ihren Diensten.«

Er nahm den Umschlag, der das Fernschreiben enthalten hatte, und schrieb eine lange Reihe von Buchstaben darauf.

»Da kommen ganz am Ende einige Buchstaben, die tatsächlich ein englisches Wort ergeben ...« Er beendete sein Werk und reichte mir den Umschlag. »Da haben Sie es. Klar wie Kloßbrühe.«

Ich las:

Etorphinhydrochlorid245mgacepromazinmaleatiomgchl

orocresoloi-dimethylsulphoxid9oantagonistnaloxon.

»Verstehen Sie es?« fragte Stephen. »Eine chemische Formel vielleicht?«

»Weiß der Himmel.« Mein Gehirn war wie Rührei.

»Vielleicht beschreibt es den Inhalt der Ampullen. Da steht etwas mit Naloxon drauf.«

Stephen hielt eine der winzigen Phiolen gegen das Licht, um die Buchstaben zu entziffern. »Tatsächlich. Ein mächtig großer chemischer Name für so ein winzig kleines Produkt.« Er legte sie in die Schachtel zurück und den Originalzettel darauf. »Das war’s also.« Er machte die Schachtel zu und legte sie hin. »Was für eine schäbig aussehende Matroschka. Wo haben Sie die denn her?« Er hielt die Puppe in der Hand.

»Sie enthält den Rest von Mischas Souvenirs.«

»Tatsächlich? Darf ich sie anschauen?«

Er hatte beinahe soviel Schwierigkeiten, sie auseinanderzunehmen, wie ich beim erstenmal, und genauso purzelte alles heraus. Stephen und Gudrun krochen auf dem Boden herum und sammelten die einzelnen Stücke auf.

»Hm«, machte er beim Lesen der tiermedizinischen Etiketten.

»Genau dasselbe Kauderwelsch. Ist was davon zu gebrauchen?«

»Nur wenn Sie Wanzen haben.«

Er tat alles in die Puppe zurück, auch die Dose und die Autogramme.

»Soll ich das Zeug zu Jelena zurückbringen?« fragte er.

»Das wäre sehr nett von Ihnen.«

»Mischa möchte sicher seinen Krimskrams zurückhaben.«

»Ja.«

Stephen betrachtete mich eingehend. »Gudrun und ich sind auf dem Weg zum Abendessen mit ein paar Freunden, und ich glaube, Sie sollten mitkommen.« Ich machte den Mund auf, um zu sagen, daß mir nicht danach sei, aber er gab mir keine Gelegenheit dazu. »Gudrun, sei ein Schatz und warte auf uns am Fahrstuhl, da sind ein Paar Stühle, während ich unseren Freund hier in seine Sachen stecke und ihn zuknöpfe.« Er deutete auf meine funktionsunfähigen Finger. »Los, Gudrun, mein Schatz, es dauert nicht lange.«

Gutmütig verschwand sie, langbeinig und verständnisvoll.

»Na denn«, sagte Stephen, als die Tür sich hinter ihr schloß. »Wie schlimm ist Ihre Hand? Bitte, Sie müssen mit uns kommen. Sie können nicht den ganzen Abend dasitzen und benommen dreinschauen.«

Vage erinnerte ich mich, daß ich eigentlich in die Oper gehen sollte. Nataschas Fahrkarte ins Land der Phantasie interessierte mich so sehr wie Kopfschmerzen: Aber wenn ich allein in meinem Zimmer blieb, würde ich mich bestimmt noch schlechter fühlen, als mir jetzt schon war, und wenn ich einschlief, würde ich Alpträume vom Tod in Balaclavas kriegen ... und Hotelzimmer waren nicht gerade Festungen.

Frank hatte nichts von meinen Angreifern gesagt, und sehr wahrscheinlich hatten sie sich zurückgezogen, als er mir zu Hilfe kam. Das bedeutete aber nicht, daß sie sich nicht noch ein bißchen in der Nähe aufgehalten hatten. Vielleicht wußten sie, daß er mich herausgefischt hatte.

»Randall!« sagte Stephen scharf.

»Entschuldigung . « Ich hustete krampfhaft und fröstelte.

»Werden Ihre Freunde nichts dagegen haben, wenn ich mitkomme?«

»Natürlich nicht.« Er riß die Schranktür auf und zog meine zweite Jacke heraus. »Wo ist Ihr Mantel ... und die Mütze?« »Zuerst das Hemd«, sagte ich. »Das karierte.«

Steif erhob ich mich und zog den Morgenrock aus. Auf meinen Armen erschienen bereits blaue Flecke, wo die Schlagstöcke mich getroffen hatten, aber ansonsten, so stellte ich zu meiner Freude fest, wies meine Haut nicht mehr die interessante Türkisfärbung, sondern die normale leichte Bräunung auf. Stephen half mir wortlos bis zu dem Augenblick, wo er etwas aus dem Badezimmer holen wollte und mit einem ungläubigen Ausdruck auf dem Gesicht zurückkam.

»Ihre ganzen Sachen sind ja naß!«

»Ah, ja. Ich bin in den Fluß geschubst worden.«

Er wies auf meine Hand. »Diese Art Schubs?«

»Ich fürchte ja.«

Er machte den Mund auf und zu wie ein Goldfisch. »Ist Ihnen klar, daß die Temperatur heute abend weit unter dem Gefrierpunkt liegt?«

»Was Sie nicht sagen.«

»Und daß die Moskwa jetzt jeden Tag zufrieren kann?«

»Zu spät.«

»Phantasieren Sie?«

»Würde mich nicht wundern.« Ich zwängte mich in mehrere Pullover und fühlte mich hundsmiserabel. »Hören Sie«, begann ich schwach, »ich glaube, die Freunde schaffe ich nicht ... aber ich möchte auch nicht in diesem Zimmer bleiben. Glauben Sie, ich könnte in ein anderes Hotel ziehen? Sehen Sie eine Möglichkeit?«

»Nicht die geringste. Absolut keine Chance. Kein Hotel dürfte Sie ohne eine zwei Wochen vorher erfolgte Reservierung und eine Menge Papierkram aufnehmen, und vielleicht nicht mal dann.« Er sah sich um. »Was gefällt Ihnen denn an dem Zimmer nicht? Ich finde es gar nicht so übel.«

Ich fuhr mit der Hand über meine schweißnasse Stirn. Die beiden Sweater trugen ihren Namen wirklich zu Recht.

»Dreimal in zwei Tagen hat jemand versucht, mich umzubringen. Daß es mich noch gibt, ist reines Glück ... aber ich habe das Gefühl, das Glück verläßt mich langsam. Ich habe keine Lust, hier als Zielscheibe rumzusitzen.«

»Dreimal?«

Ich erzählte ihm von der Gorkistraße. »Ich will ja nur ein sicheres Plätzchen zum Schlafen.« Ich überlegte. »Ich glaube, ich werde Ian Young anrufen ... er könnte mir vielleicht helfen.«

Ich wählte die Nummer, die Polly Paget mir gegeben hatte. Es klingelte und klingelte in der Wohnung auf dem Botschaftsgelände, aber die Sphinx trieb sich in der Stadt herum.

»Verdammt«, murmelte ich mit Gefühl und legte den Hörer auf.

Stephens braune Augen waren voll sorgenvoller Gedanken. »Wir könnten Sie in die Universität schmuggeln«, sagte er. »Aber mein Bett ist so schmal.«

»Überlassen Sie mir den Fußboden.«

»Im Ernst?«

»Mm.«

»Tja ... also gut.« Er sah auf die Uhr. »Es ist zu spät, Sie auf normalem Weg hineinzubringen. Alles schon zu ... wir müssen den Dreikartentrick anwenden.«

Er nahm seinen Studienausweis aus der Tasche und gab ihn mir.

»Zeigen Sie ihn beim Reingehen dem Drachen, und gehen Sie immer weiter, direkt die Treppe rauf. Die kennen nicht alle Studenten so genau, und sie wird denken, Sie sind ich. Gehen Sie einfach in mein Zimmer rauf. O.K.?«

Ich nahm den Ausweis und steckte ihn in meine Jackentasche.

»Und wie kommen Sie rein?« fragte ich.

»Ich rufe einen Freund an, der im selben Block wohnt«, erklärte er. »Der holt sich meinen Ausweis von Ihnen und bringt ihn mir raus, wenn Gudrun und ich zurückkommen.«

Er half mir in die Jacke, nahm dann die Fernschreiben und tat sie in den Umschlag zurück. Ich steckte ihn in meine Jackentasche und dachte an schwarze Automobile.

»Ich würde riesig gern sicher sein, daß ich nicht verfolgt werde«, sagte ich.

Stephen verdrehte die Augen. »Alles im Preis mit inbegriffen«, sagte er. »Was soll ich also tun?«

Was wir dann taten, war folgendes: Ich fuhr mit einem Taxi zum Universitäts-Prospekt, dem Aussichtspunkt für Touristen mit Blick über das Stadion und die Stadt, während er und Gudrun in einem zweiten folgten. Im dichten Schneetreiben dort stiegen wir aus und tauschten die Wagen.

»Ich schwöre es, niemand ist uns gefolgt«, versicherte Stephen. »Sie müßten sonst sechs verschiedene Wagen benutzt und sich abgelöst haben.«

»Vielen Dank.«

»Immer zu Diensten.«

Er erklärte dem Taxifahrer, wo er mich hinbringen sollte, und verschwand mit Gudrun in der Dunkelheit.

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