Kapitel 14

Stephen überließ mir sein Bett und ging zu Gudrun, was beiden recht zu sein schien, und mir natürlich auch. Ausländische Studenten wurden buchstäblich ermutigt, miteinander zu schlafen, sagte er sardonisch, damit sie nicht herumliefen und die Einheimischen belästigten.

Ich fröstelte viel, und gleichzeitig war mir heiß, was nichts Gutes verhieß.

Ich schlief nicht viel, aber das spielte keine Rolle. Meine Hand puckerte heftig, aber mein Kopf war klar, und so war es mir bedeutend lieber als andersherum. Die meiste Zeit verbrachte ich mit Überlegungen und Vermutungen und kehrte immer wieder zu dem Problem des morgigen Tages zurück. Ich mußte ganz entschieden Schritte unternehmen, um auf Dauer am Leben zu bleiben.

Am Morgen holte Stephen Tee, lieh mir seinen Rasierapparat, und entschwand vergnügt zu einem Studentenfrühstück.

Er kehrte mit etwas zurück, das wie leere Hamburgersemmeln aussah, und fand mich beim Studium der langen Buchstabenreihe auf dem Telexumschlag.

»Entziffern Sie das chemische Zeug?« fragte er.

»Ich versuche es.«

»Und wie kommen Sie voran?«

»Ich weiß nicht genug«, sagte ich. »Hören Sie ... als das alles auf russisch und deutsch geschrieben war, wurde es da übersetzt? Ich meine . sind Sie sicher, daß es genau das heißen soll?«

»Es ist nicht übersetzt worden«, sagte Stephen. »Es waren diese Buchstaben, in dieser Reihenfolge, aber in

deutschen Druckbuchstaben . Die russische Version war mehr oder weniger phonetisch dasselbe, aber im russischen Alphabet gibt es mehr Buchstaben, also haben wir sie den deutschen Buchstaben angeglichen ... war das richtig?«

»Ja«, sagte ich. »Sehen Sie, wo hier steht >Antagonist<.«

»Hmm.«

»Ist das Wort ins Russische oder Deutsche übersetzt worden? Oder stehen die Buchstaben anta etc. im deutschen Text?«

»Es ist nicht übersetzt worden, weil Antagonist in allen drei Sprachen fast dasselbe Wort ist.«

»Danke.«

»Hilft Ihnen das?«

»Ja, in gewisser Weise.«

»Sie überraschen mich.«

Wir bestrichen die Hamburgersemmeln mit Butter, teilten sie und tranken Tee, und hin und wieder hustete ich unheilverkündend hohl.

Danach bat ich um ein Blatt Papier und teilte die lange Buchstabenreihe unter Hinzufügung einiger vernünftig wirkender Dezimalpunkte in sinnvolle Worte auf. Das las sich dann so: etorphin hydrochlorid 2.45 mg acepromazin maleat 1.0mg chlorocresol 0.1- dimethyl sulphoxid 90 antagonist naloxon.

Stephen sah mir über die Schulter. »Das macht natürlich einen Riesenunterschied«, stellte er fest.

»Hm«, machte ich nachdenklich. »Würden Sie mir einen Gefallen tun?«

»Spucken Sie’s aus.«

»Leihen Sie mir eine leere Kassette für Ihren Recorder, und eine weitere mit Musik drauf. Oder besser, zwei leere Kassetten, wenn Sie haben.«

»Ist das alles?« Er klang enttäuscht.

»Für den Anfang, ja.«

Er kramte herum und zog drei Bänder in Plastikbehältern hervor.

»Auf allen ist Musik«, sagte er. »Aber Sie können sie überspielen, wenn Sie wollen.«

»Sehr gut.« Ich zögerte, denn was ich sonst noch von ihm wollte, klang etwas melodramatisch; aber den Tatsachen mußte man ins Auge sehen. Ich faltete das Papier mit der chemischen Formel zusammen und reichte es ihm. »Würden Sie das aufbewahren?« Ich zwang meine Stimme, ganz gleichgültig zu klingen. »Heben Sie es auf, bis ich wieder zu Hause bin. Ich schicke Ihnen eine Postkarte, wenn Sie es zerreißen können.«

Er sah verwirrt aus. »Ich verstehe nicht ...«

»Wenn ich nicht nach Hause komme oder Sie keine Postkarte kriegen, dann schicken Sie das an Hughes-Beckett im Auswärtigen Amt. Die Adresse steht auf der Rückseite. Schreiben Sie ihm, daß Hans Kramer das bei sich hatte, und er soll es einem Tierarzt zeigen.«

»Einem Tierarzt?«

»Richtig.«

»Ja, aber ...« Ihm dämmerte, was ich gesagt hatte. »Wenn Sie nicht nach Hause kommen ...«

»Na ja ... Pech beim viertenmal oder so ähnlich.«

»Um Himmels willen.«

»Haben Sie samstags Vorlesungen?« fragte ich.

Seine Augenbrauen verschwanden unter dem Haaransatz. »Ist das eine allgemeine Einladung, meinen

Kopf neben Ihrem in die Falle zu stecken?«

»Vielleicht nur, um Anrufe zu machen und Taxifahrern zu sagen, wo sie hinfahren sollen.«

Er zuckte mit den Schultern, und auf seinem Gesicht stand: »Wir nicht glauben ein Wort von was du sagen.«

»Was zuerst?« fragte er.

»Rufen Sie Mr. Kropotkin an, und wenn er da ist, fragen Sie, ob ich ihn heute vormittag besuchen kann.«

Wie sich herausstellte, war Kropotkin nicht nur zu Hause, sondern begierig darauf, mich zu sehen. »Er sagt, er hat den ganzen Tag versucht, Sie im Hotel zu erreichen. Er sagt, wir sollen um zehn Uhr da sein. Er wird im ersten Stallblock links auf der Rennbahn auf uns warten.«

»Sehr gut.« Ich pustete kühlenden Atem auf meine heißen, geschwollenen Finger. »Ich möchte auch Ian Young versuchen.«

Ian Young war wieder auf britischem Boden und schien eine Weile zu brauchen, bis ihm aufging, mit wem er sprach. Er fühlte sich etwas geschwächt, erklärte er schließlich, und setzte halb kläglich, halb bewundernd hinzu, keiner könne saufen wie die Russen und ich solle bitte nicht so laut sprechen.

Entschuldigung, flüsterte ich pianissimo. Ob er mir sagen könne, wie ich am besten ein Telefongespräch nach England zustande brächte. Ich solle es auf dem Postamt gleich um die Ecke vom Hotel versuchen, sagte er, und die Fernvermittlungsstelle verlangen, aber viel Hoffnung sei da nicht.

»Manchmal kommt man in zehn Minuten durch, aber meistens dauert es eher zwei Stunden, und mit dem neuen Schlamassel heute morgen haben Sie Glück, wenn Sie überhaupt durchkommen.« »Neuer als die Geschichte in Afrika?« fragte ich.

»Klar. Ein hoher Beamter ist übergelaufen. In Birmingham, ausgerechnet. Schock, Entsetzen, Drama und so weiter. Ist es wichtig?«

»Ich möchte meinen Tierarzt anrufen ... wegen meiner Pferde«, sagte ich. »Würde ich von der Botschaft aus durchkommen?«

»Das möchte ich bezweifeln. Meister im Behindern, die Russen. Mauerspezialisten.« Er gähnte. »Haben Sie gestern Ihr Fernschreiben bekommen?«

»Ja, danke.«

»Machen Sie das beste draus.« Er gähnte wieder. »Wollen Sie mir helfen, meinen Kater zu bekämpfen? So gegen Mittag?«

»Warum nicht?«

»Gut ... Gehen Sie an Olivers Büro vorbei, und am Tennisplatz ... meine Wohnung liegt dahinter, zweite Tür links.« Er legte mit der ganzen Sachtheit des schwer Verkaterten auf.

Es hatte vorübergehend aufgehört zu schneien, obwohl der Himmel ölig grau-gelb drohte und die Kälte einem den Tropfen an der Nase gefrieren ließ. Wir waren kaum hundert Schritte gegangen, als ich zu husten und nach Atem zu ringen begann. Stephen fand das seltsam.

»Was ist los?« fragte er. Seine Lungen pumpten fröhlich wie ein elektrischer Blasebalg.

»Taxi .«

Ohne große Schwierigkeiten kriegten wir eins, und in seiner relativen Wärme und mit Hilfe des Tascheninhalators, den ich immer bei mir hatte, hörte die gräßliche Atemnot auf.

»Geht es Ihnen immer so, wenn es kalt ist?« fragte Stephen.

»Kommt drauf an. Der Fluß tat auch nicht gerade gut.«

Leicht besorgt betrachtete er mich. »Haben Sie sich etwa erkältet? Wenn ich es mir recht überlege ... es wäre kein Wunder.«

Unterwegs hielten wir zweimal an. Einmal um zwei Flaschen Wodka zu kaufen; eine für Kropotkin und eine für später. Das zweitemal, um wieder eine Mütze zu kaufen, die meine zusammengewürfelte Bekleidung vervollständigen sollte, welche jetzt, von innen nach außen, aus einem Unterhemd, einem Hemd, zwei Sweatern, einer Jacke und Stephens zweitem Mantel bestand, der mir eine Nummer zu klein war und aus dem meine Handgelenke wie die eines Waisenkindes herausragten.

Die Hauptstraßen waren bereits vom nächtlichen Schnee geräumt, aber die Rennbahn selbst war weiß. Trotzdem waren Pferde auf der Bahn, und sogar ein oder zwei Traber vor ihren Sulkys. Praktisch vor der Stalltür bezahlten wir das Taxi, gingen hinein und fragten nach Kropotkin.

Er wartete in einem kleinen, dunklen Büro auf uns, das sonst von einem Trabertrainer benutzt wurde. Haufenweise lagen Reifen herum, die in einem Stall reichlich fehl am Platz wirkten, bis einem die Räder der Sulkys einfielen. Darüber hinaus gab es nur noch einen Schreibtisch mit einer Menge Papierkram, einen Stuhl und viele an die Wand gepinnte Fotos.

Nikolai Alexandrowitsch griff erfreut nach meiner hastig gebotenen linken Hand und schüttelte sie herzhaft.

»Freund«, sagte er, und sein tiefer Baß dröhnte in dem kleinen Raum. »Guter Freund.«

Er akzeptierte den Wodka als die höfliche Geste, die er darstellen sollte. Dann rückte er mir zeremoniell den Stuhl zurecht und machte es sich mit der Hälfte seiner Kehrseite auf dem Schreibtisch bequem. Stephen, so schien es, konnte auf seinen eigenen zwei Beinen stehen: und via Stephen tauschten Kropotkin und ich weitere einleitende Höflichkeiten aus.

Zur gegebenen Zeit kamen wir zum Kern der Sache.

»Mr. Kropotkin sagt«, sagte Stephen, »er hat jeden in der Pferdewelt gebeten, in der Sache Aljoscha behilflich zu sein.«

Ich gab meiner Dankbarkeit Ausdruck und spürte eine leichte Beschleunigung meines Pulsschlags.

»Dennoch«, fuhr Stephen fort, »weiß niemand, wer Aljoscha ist. Niemand weiß etwas über ihn. Keiner kennt ihn.«

Mein Pulsschlag wurde mit deprimierender Geschwindigkeit wieder normal.

»Nett, daß er es versucht hat«, sagte ich seufzend.

Kropotkin strich sich mit Daumen und Zeigefinger über seinen Schnurrbart, dann ließ er wieder die tiefe Stimme dröhnen.

Stephen übersetzte mit ausdruckslosem Gesicht, aber jetzt funkelte Interesse in seinen Augen.

»Mr. Kropotkin sagt, obwohl niemand weiß, wer Aljoscha ist, hat jemand ihm ein Blatt Papier geschickt, auf dem der Name Aljoscha steht, und das Blatt Papier kam ursprünglich aus England.«

Das klang nicht nach der eigentlichen Lösung, aber sicher besser als nichts.

»Darf ich es sehen?« fragte ich.

Doch Nikolai Alexandrowitsch ließ sich nicht hetzen.

Zuerst das Butterbrot, dann die Schokolade.

»Mr. Kropotkin sagt«, dolmetschte Stephen, »Sie müssen ein oder zwei Dinge am sowjetischen System verstehen.« Seine Augenbrauen hoben sich, und seine Nasenflügel zuckten vor Anstrengung, ein unbewegtes Gesicht zu zeigen. »Er sagt, es ist Sowjetbürgern nicht immer möglich, ganz frei zu sprechen.«

»Sagen Sie, das hätte ich bemerkt. Sagen Sie, ich ... äh ... verstehe.«

Kropotkin betrachtete mich grübelnd und strich sich den Bart.

»Es wäre ihm lieb«, gab Stephen einen weiteren Teil des Gebrumms weiter, »wenn Sie alles, was Sie hier auf der Rennbahn gehört und erfahren haben, ohne Nennung von Namen verwenden würden.«

»Das kann ich ihm aufrichtig versichern«, sagte ich mit Überzeugung, und Kropotkin glaubte wohl eher meiner Stimme als den eigentlichen Worten. Nach einer kleinen Pause sprach er weiter.

»Mr. Kropotkin sagt«, berichtete Stephen getreulich, »er weiß nicht, wer ihm das Papier geschickt hat. Es wurde gestern abend in seiner Wohnung abgegeben. Dabei lag eine kurze Erklärung mit der Bitte, es an Sie weiterzugeben.«

»Klingt es, als ob er wirklich nicht weiß, wer ihm das geschickt hat, oder glauben Sie, er will es nur nicht sagen?«

»Unmöglich zu entscheiden«, antwortete Stephen.

Endlich machte Nikolai Alexandrowitsch Anstalten, die Ware zu liefern. Bedächtig zog er eine große, schwarze Brieftasche heraus und öffnete sie weit. Seine dicken Finger tasteten vorsichtig in ihre Tiefen, und langsam kam ein weißer Umschlag zum Vorschein. Die Übergabezeremonie begleitete er mit einer kleinen Ansprache.

»Er sagt«, sagte Stephen, »ihm kommt das Blatt Papier nicht sehr bedeutungsvoll vor. Er wünschte, es wäre so. Er möchte Ihnen gern in irgendeiner Weise behilflich sein, weil er den aufrichtigen Wunsch hat, Ihnen seine Dankbarkeit für die Rettung des Olympiapferdes zu beweisen.«

»Sagen Sie ihm, selbst wenn sich das Papier als unwesentlich herausstellen sollte, werde ich doch nie vergessen, welche Mühe er sich gemacht hat.«

Kropotkin nahm das Kompliment gnädig entgegen und trennte sich zögernd von dem Umschlag. Mit der gleichen Gelassenheit nahm ich ihn entgegen und zog die beiden kleinen Blätter Papier heraus, die er enthielt.

Sie waren mit einer Büroklammer zusammengeheftet. Das obere, weiß und wenig bemerkenswert, trug einige kurze Zeilen in russischen Buchstaben.

Das untere, ebenfalls weiß, aber aus einem Notizbuch gerissen und blau liniert, war im wesentlichen mit einer Anzahl mit Bleistift gekritzelter, geometrischer Muster bedeckt. Ziemlich oben standen zwei Worte: Für Aljoscha, und etwas tiefer, umgeben von Sternchen, J. Farringford. Darunter, eins unter dem anderen, wie eine Liste, die Worte Amerikaner, Deutsche, Franzosen, und darunter eine Reihe Fragezeichen. Das schien mehr oder weniger alles zu sein, doch fast ganz unten auf der Seite standen, jede in ihrem eigenen gezeichneten Kästchen, vier Gruppen von Buchstaben und Zahlen, und zwar: Abf Pet, 1855, K’sC und 1950.

Über das ganze Gekritzel hatte jemand von oben bis unten einen dicken, S-förmigen Krakel gemalt, wie um die ganze Seite auszustreichen.

Ich drehte das kleine Blatt um. Die Rückseite zeigte ungefähr fünfzehn Zeilen mit Kugelschreiber geschriebener Worte, die aber sorgfältig, Zeile für Zeile, mit einem etwas andersfarbigen Kugelschreiber ausgestrichen worden waren.

Kropotkin sah mich erwartungsvoll an. »Ich bin sehr zufrieden. Das ist sehr interessant«, sagte ich. Er verstand die Worte und zeigte große Befriedigung.

Damit schien unser Geschäft beendet, und nach einigen weiteren Höflichkeiten von beiden Seiten traten wir aus dem Büro auf die breite Stallgasse hinaus. Kropotkin lud mich ein, mir die Pferde anzusehen, und wir schritten Seite an Seite an der Reihe offener Boxen entlang.

Hinter mir hörte ich Stephen erstickt atmen, vermutlich wegen des Geruchs. Meine eigene Nase zuckte auch ein wenig bei dem ungewöhnlich durchdringenden Ammoniakgestank, aber den Trabern schien es nichts auszumachen. Sie würden heute abend laufen, erzählte Kropotkin, der Schnee sei noch nicht sehr tief. Stephen übersetzte mannhaft bis zum Ende, aber als wir ins Freie traten, sog er die Luft ein, als sei es eine Quelle in der Wüste.

Auf der Bahn wurden immer noch mehrere Pferde trainiert, die nach meinem Dafürhalten aber nicht die Klasse von Renn- oder Militarypferden hatten.

»Alle Reitclubs benutzen die Anlage«, erklärte Kropotkin via Stephen. »Sämtliche Pferdeställe von Moskau liegen in diesem Viertel, und jedes Training findet im Hippodrom statt. Alle Pferde gehören dem Staat. Die besten Pferde kommen in den Rennsport und in die Zucht oder werden für die Olympiade aufgebaut; was übrigbleibt, teilen sich die Clubs. Die meisten Pferde bleiben den Winter über in Moskau, weil sie sehr robust sind. Und ich frage mich«, fügte Stephen von sich aus hinzu, »wie es hier erst im März stinken muß!«

An dem immer noch unbewachten Haupteingang verabschiedete sich Kropotkin würdevoll von uns. Er war ein großartiger alter Bursche, dachte ich, und durch ihn und Mischa hatte ich eine ganze Menge erfahren.

»Freund«, sagte ich, »ich wünsche Ihnen alles Gute.«

Er drückte meine Hand gefühlvoll mit beiden Händen und umarmte und küßte mich.

»Mein Gott«, sagte Stephen im Weggehen, »was für eine rührende Szene.«

»Etwas Gefühl kann nicht schaden.«

»Aber hat es was genützt?«

Ich reichte ihm den Umschlag und hustete den ganzen Weg zum Taxihalteplatz.

»An Nikolai Alexandrowitsch, durch Boten«, las Stephen auf dem Umschlag. »Der Absender kennt Kropotkin also ziemlich gut, sonst hätte er nicht das Kropotkin weggelassen. Das tut man nur, wenn man jemanden gut kennt.«

»Es wäre auch seltsam, wenn sie sich nicht kennen würden.«

»Das ist wohl richtig.« Er zog die beiden zusammengehefteten Blätter heraus. »Hier auf der ersten Seite steht, >Blatt von einem Notizblock, wie sie bei internationalen Turnieren verwendet werden. Bitte an Randall Dew weitergeben<.«

»Ist das alles?«

»Mehr steht nicht da.«

Er besah sich die nächste Seite, während ich wild einem vorbeifahrenden Taxi winkte. Endlich auf dem Rückweg, reichte Stephen mir den Schatz zurück.

»Keine große Beute«, meinte er. »Der Berg hat eine Maus geboren.«

In mein gedankenvolles Schweigen hinein sprach der

Taxifahrer.

»Er will wissen, wo wir hinwollen«, sagte Stephen.

»Zurück ins Hotel.«

Unterwegs hielten wir jedoch noch einmal, als er eine Drogerie entdeckte. Die russischen Buchstaben über der Ladentür lasen sich, in lateinischer Schrift, wie Apotek. Apotheke ... was sonst? Ich ging mit ihm hinein, weil ich Linderung für die Schmerzen in Fingern und Brust suchte, bekam am Ende aber nur etwas, das Aspirin entsprach. Stephen beugte sich über die Theke und flüsterte seinen Kaufwunsch einem drallen Drachen ins Ohr.

Sie antwortete ziemlich laut, und die restlichen Kunden drehten sich um und starrten ihn an. Sein Gesicht war das hochrote Bild der Verlegenheit, trotzdem gab er nicht nach und führte die Transaktion zu einem glücklichen Ende.

»Was hat sie gesagt?« fragte ich, als wir gingen.

»Sie sagte >Dieser Ausländer will ... preservativij ...< und lachen Sie ja nicht.«

Mein Kichern endete sowieso in einem Husten. »Preservativij, sind das Kondome?«

»Gudrun besteht darauf.«

»Damit hat sie auch verdammt recht.«

Im Hotel gingen wir durch die Halle direkt zum Fahrstuhl, da ich meinen Zimmerschlüssel mit zur Universität genommen hatte, um meine Abwesenheit nicht gleich bei der Rezeption bekanntzugeben.

Zum achten Stock hinauf, vorbei an der wachsamen Dame und den Korridor entlang ... die Tür zu meinem Zimmer stand auf.

Zimmermädchen?

Nicht das Zimmermädchen. Im Zimmer stand Frank.

Mit dem Rücken zur Tür, über das Regal am Fenster gebeugt und etwas in seiner Hand betrachtend.

»Hallo, Frank«, sagte ich.

Erschreckt fuhr er herum; in der Hand hatte er die Matroschka. Intakt, wie ich sah, hütete sie ihre Geheimnisse. Seine Finger waren noch ganz verkrampft von der Anstrengung, sie zu öffnen.

»Äh ...« machte er. »Sie waren nicht beim Frühstück. Ich ... äh ... wollte nur sehen, wie es Ihnen geht. Nach gestern abend. Wo Sie doch in den Fluß gefallen sind, meine ich ...«

Gar nicht übel für eine Geschichte aus dem Stegreif, dachte ich.

»Ich war auf der Rennbahn bei der Morgenarbeit«, sagte ich und spielte damit das Spiel, das jeder spielen konnte, der ein Lügenmaul hatte.

»Na fein«, sagte er, lockerte seinen Griff, stellte die bemalte Holzpuppe wieder auf das Regal und produzierte sein arglosestes Schullehrer-Lachen. »Natascha hat sich Sorgen gemacht. Soll ich ihr sagen, Sie kommen zum Mittagessen?«

Mittagessen . das prosaisch Normale inmitten eines Minenfeldes.

»Warum nicht?« sagte ich. »Und ich bringe einen Gast mit.«

Frank warf Stephen einen unverhüllt ablehnenden Blick zu und entfernte sich; und ich ließ mich etwas zittrig auf dem Sofa nieder.

»Machen Sie uns was zu trinken«, bat ich.

»Scotch oder Wodka?« fragte er, zog die am Morgen gekaufte Flasche aus der Manteltasche und stellte sie auf das Regal.

»Scotch.«

Ich schluckte damit zwei Pillen aus der Apotheke herunter, allerdings ohne merkliches Ergebnis.

Ich sah auf die Uhr, die wunderbarerweise trotz des Bades wieder tickte. Halb zwölf. Ich griff zum Telefon.

»Ian?« sagte ich. »Wie geht’s dem Kater?«

Dem Klang nach besser. Bestimmt hatte er ihn vor einer Stunde mit einem weiteren Schluck bekämpft. Ich sagte, ich könne es nun doch nicht vor dem Essen schaffen und wie es wäre, wenn er sich gegen sechs zu mir in mein Hotelzimmer schleppen würde?

Schleppen, meinte er, sei sicher das richtige Wort: Aber er würde kommen.

Stephen tastete die Wände mit dem Recorder ab, auf der Suche nach der heiklen Stelle. Ich zeigte sie ihm, aber wieder ertönte kein Pfeifen. Und dann, als er gerade aufgeben wollte, begann es.

»Tatsächlich angeknipst«, murmelte er.

»Machen Sie uns ein bißchen Musik.«

Er zog die drei Kassetten aus seinen unergründlichen Manteltaschen und legte eine feurige Wiedergabe von Fürst Igor ein.

»Was jetzt?«

»Ich habe ein paar Paperbacks mitgebracht . welches wollen Sie?«

»Und Sie?« fragte er, mit einem Blick auf die Titel.

»Trinken und denken.«

So lauschte also die Wanze eine Stunde, wie Stephen zu den Klängen von Borodin die Seiten umblätterte, und ich lauschte in meinem Kopf allem, was ich in England und Moskau gehört hatte, und versuchte einen Pfad durch das

Labyrinth zu finden.

Das Mittagessen kam mir ganz unwirklich vor.

Die Wilkinsons waren da und Frank. Frank hatte den Wilkinsons nicht erzählt, wie er mir am gestrigen Abend das Leben gerettet hatte, und benahm sich alles in allem so, als sei nichts dergleichen je passiert. Was er von meinem Schweigen zu diesem Thema hielt, blieb ein Geheimnis.

Natascha und Anna versuchten mir im guten und bösen das Versprechen zu entreißen, nicht mehr zu verschwinden, ohne ihnen vorher zu sagen wohin. Entgegenkommend versprach ich, mein Bestes zu tun, ohne daß es mir wirklich ernst war.

Frank aß mein Fleisch.

Mrs. Wilkinson erzählte. »Wir haben immer Labour gewählt, Vater und ich, aber ist das nicht komisch, in England sind es immer die radikalen Linken, die mehr und mehr Einwanderer reinlassen wollen, aber hier, wo es doch so links ist, wie es nur sein kann, gibt’s überhaupt keine. Oder sieht man etwa Schwarze in Moskau auf der Straße?«

Frank ignorierte das.

»Ich finde das einfach komisch, das ist alles«, sagte Mrs. Wilkinson. »Aber wenn ich darüber nachdenke, vielleicht sind sie in Indien gar nicht so wild drauf, hier in Moskau zu leben.«

Mr. Wilkinson murmelte über seinen Bratkartoffeln: »Die sind doch nicht blöd«, und das war so ziemlich alles, was er an diesem Tag von sich gab.

Frank erwachte mit einer routinemäßigen Verdammung der rassistischen Politik der National Front zum Leben.

Mrs. Wilkinson warf mir einen komisch verzweifelten

Blick zu. Sie konnte sich Frank einfach nicht verständlich machen.

»Front«, sagte ich milde, »ist ein überstrapaziertes Wort. Ein Klischee. Es gibt eine Front für dies und eine Front für das ... man sollte sich immer fragen, was ... wenn überhaupt . hinter einer Front steckt.«

Es gab wieder Eis mit schwarzer Johannisbeer-marmelade. Das mochte ich ganz gern.

Stephen aß genau wie Frank und sagte später, das Essen im Hotel Intourist sei verglichen mit dem Studentenfraß schierer Luxus.

Abgesehen von alldem, das sich in einem anderen Leben abzuspielen schien, hörte ich immer deutlicher die Stimmen von Boris und Jewgenij und Ian und Malcolm und Oliver und Kropotkin und Mischa und Juri Chulitskij und Gudrun und dem Prinzen und Hughes-Beckett und Johnny Farringford ... und die tote Stimme von Hans Kramer: alle hörte ich ganz deutlich.

Aber wo war Aljoscha?

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