Kapitel 11

Er nahm mich in den, wie er es nannte, Architektenzirkel mit, und in dem Kellerrestaurant dort bekam ich ein Essen, wie ich es in Moskau nicht für möglich gehalten hätte. Erstklassigen Räucherlachs, köstlichen Knochenschinken, zartes Fleisch. Einen Apfel und Weintrauben. Wodka als Vorspeise, gefolgt von hervorragendem Rotwein. Zum Schluß guten, starken Kaffee. Er aß und trank mit ebensoviel Genuß wie ich.

»Wunderbar«, sagte ich beifällig. »Hervorragend.«

Schließlich lehnte Juri sich zurück, steckte eine Zigarette an und erzählte mir, daß jeder Berufsstand seinen Zirkel habe. Zum Beispiel gab es einen Schriftstellerzirkel, dem alle sowjetischen Schriftsteller angehörten. Gehörten sie nicht dem Zirkel an, wurden sie nicht veröffentlicht. Natürlich konnten sie auch ausgeschlossen werden, wenn das, was sie schrieben, nicht für richtig gehalten wurde. Und wollte ich etwa andeuten, daß Juri nicht vollkommen mit diesem System einverstanden war? Das wollte ich natürlich nicht.

»Wie ist das bei den Architekten?« fragte ich sanft.

Architekten, erfuhr ich, mußten politisch einwandfrei sein, wenn sie dem Architektenzirkel angehören wollten. Und wenn sie dem Zirkel nicht angehörten, bekamen sie selbstverständlich keine Aufträge.

Selbstverständlich.

Ich trank meinen Kaffee und hütete meine Zunge. Juri beobachtete mich und lächelte mit einem Anflug von Melancholie.

»Ich geben Information«, sagte er, »über Lord Farringford.«

»Danke.«

»Sie sind cleverer Mann.« Er seufzte, zuckte die Schultern und hielt seinen Teil unserer Abmachung ein. »Lord Farringford dummer Mann. Mit Hans Kramer er gehen schlechte Lokale. Sexlokale.« Mißbilligung zeigte sich auf seinem Gesicht, und seine Oberlippe entblößte noch mehr von den Schneidezähnen.

»In London gibt ekelhafte Bilder. Auf der Straße. Alle können sehen. Ekelhaft.« Er suchte nach Worten. »Schmutzig.«

»Ja«, stimmte ich zu.

»Lord Farringford und Hans Kramer gehen in solche Lokale. Drei-, viermal.«

»Sind Sie sicher, daß es mehr als einmal war?« fragte ich erstaunt.

»Sicher. Wir sehen. Wir folgen.« Dieses Geständnis kam ganz harmlos heraus und verlor sich in Schweigen, als habe er nicht gesagt, was er gesagt hatte.

Junge, Junge, dachte ich; und ebenso harmlos fragte ich: »Warum sind Sie ihnen gefolgt?« Er kämpfte mächtig mit seinem Gewissen, blieb aber offensichtlich bei der Wahrheit.

»Genosse mit mir, er suchen in England und viele Länder nach dumme Menschen. Wenn dumme Menschen kommen in Sowjetunion, Genosse macht ... benutzt ...«

»Ihr Genosse nutzt ihre Neigung zur Pornographie aus?«

Er holte tief Atem.

»Und wenn Farringford zur Olympiade kommt, wird Ihr Genosse ihn benutzen?«

Schweigen.

»Aber wozu soll Farringford zu gebrauchen sein? Er ist kein Diplomat .« Ich unterbrach mich, dachte nach und sprach langsam weiter. »Soll das heißen, im Austausch dafür, daß er das britische Volk nicht in Verlegenheit bringt, nicht das skandalöse Betragen aufdeckt, zu dem Ihr Genosse ihn verführt hat, wird Ihr Genosse irgendeine Konzession von der britischen Regierung verlangen?«

»Sagen Sie noch einmal.«

Ich sagte es noch einmal, etwas direkter. »Ihr Genosse stellt Farringford eine schmutzige Falle. Ihr Genosse sagt zur britischen Regierung, gebt mir, was ich will, sonst veröffentliche ich die Schweinerei.«

Er gab es nicht direkt zu. »Die Genossen von meinem Genossen«, sagte er.

»Ja«, stimmte ich zu. »Diese Genossen.«

»Farringford ist reicher Mann«, sagte Juri. »Für reichen Mann Genossen haben ...« Er wußte das Wort nicht, aber es war zweifellos Verachtung.

»Für alle reichen Leute?« fragte ich.

»Natürlich. Reiche Leute schlecht. Arme Leute gut.« Er sprach mit vollkommener Überzeugung und ohne den geringsten Anflug von Zynismus und konstatierte damit einen der fundamentalsten Glaubenssätze der Menschheit. Kamel durch ein Nadelöhr und so weiter. Reiche kommen nicht in den Himmel, und das geschieht ihnen recht. Was Randall Drew absolut keine Hoffnung auf ewige Seligkeit ließ, denn er hatte einen ungerechtfertigt großen Anteil irdischer Güter abbekommen ... Ich legte meinen abwegigen Gedanken Zügel an. Genügte es, wenn ich Johnny Farringford warnte, überlegte ich, oder wäre es klüger von ihm, zu Hause zu bleiben.

»Juri«, sagte ich. »Wie wäre es mit noch einem Geschäft?«

»Erklären.«

»Wenn ich hier mehr erfahre, werde ich es gegen das

Versprechen eintauschen, daß Ihr Genosse nicht versuchen wird, Farringford in eine Falle zu locken, wenn er zur Olympiade kommt.«

Er starrte mich an. »Was Sie wollen - unmöglich.«

»Ein schriftliches Versprechen.«

»Unmöglich. Genosse mit mir ... unmöglich.«

»Ja ... tja, es war nur so eine Idee.« Ich überlegte. »Aber wenn ich mehr erfahre, würde ich es gegen Informationen über Aljoscha tauschen.«

Juri betrachtete das Tischtuch, ich betrachtete Juri.

»Ich kann nicht helfen«, sagte er.

Er drückte seine Zigarette aus und sah mir in die Augen. Ich konnte sehen, wie sich die Gedanken hinter seiner Stirn jagten, aber was für Gedanken war nicht zu erraten.

»Ich bringen Sie zu Hotel«, sagte er schließlich.

Er setzte mich dann an der Ecke vor dem Hotel National ab, wo er mich aufgelesen hatte, und gab damit stillschweigend zu verstehen, daß es nicht dafür stand, unnötigerweise die Aufmerksamkeit der Beobachter auf sich zu ziehen.

Zu dieser Zeit wurde es bereits dunkel, denn wir hatten aus verschiedenen Gründen auf unser Mittagessen warten müssen und es in aller Ruhe verzehrt, nicht zuletzt deshalb, weil im Nebenzimmer eine Hochzeitsfeier stattfand. Die Braut hatte ein langes weißes Kleid und einen winzigen Schleier getragen. Ob man hier kirchlich heirate, hatte ich gefragt. Natürlich nicht, hatte Juri geantwortet, das sei verboten. Wie es schien, hatten heidnische Rituale Aufstieg und Fall des Christentums überlebt.

Der feine Schneefall vom Vormittag hatte sich zu einem regelrechten Gestöber verdichtet, war von einem

Schneesturm aber noch weit entfernt. Der Wind hatte sogar abgenommen, aber das galt auch für die Temperatur, und die Kälte hatte etwas bedrohlich Schneidendes. Ich legte die kurze Entfernung zwischen den beiden Hotels in einer Menge dahineilender Passanten zurück, und keine Männer in schwarzen Autos versuchten mich zu entführen.

Ich traf zur gleichen Zeit wie die Wilkinsons und ihre Gruppe, die gerade von ihrer Busfahrt nach Zagorsk zurückkamen, vor dem Portal des Intourist ein.

»Interessant war es schon«, berichtete Mrs. Wilkinson, sich mutig in das plötzlich überfüllte Foyer drängend. »Den Führer konnte ich nicht sehr gut hören, und ich finde es auch nicht richtig, Reisegruppen durch Kirchen zu führen, wo Leute beten. Wußten Sie, daß man sich in russischen Kirchen nicht setzen kann? Es gibt keine Bänke, gar nichts. Alle müssen die ganze Zeit stehen. Meine Füße bringen mich fast um. Auf dem Land liegt eine Menge Schnee. Vater hat fast die ganze Zeit geschlafen, nicht wahr, Vater?« Vater nickte verdrießlich.

Mrs. Wilkinson trug wie die meisten anderen Teilnehmer an der Busfahrt eine weiße Plastiktasche mit einem grünen und orangefarbenen Muster darauf.

»Da war so ein Touristenladen, wissen Sie, wo man mit Devisen zahlt. Ich habe eine ganz süße Matroschka gekauft.«

»Was ist eine Matroschka?« fragte ich, während wir beim Portier auf unsere Zimmerschlüssel warteten.

»Das hier«, erwiderte sie, fischte etwas aus der Plastiktüte und löste das Seidenpapier. »Diese Puppen.« In der Hand hielt sie das genaue Gegenstück der dicken, bunten Holzpuppe, die ich in meiner Tüte hatte.

»Matroschka heißt, glaube ich, Mütterchen«, erklärte sie. »Auf jeden Fall kann man sie auseinandernehmen, und innen ist noch eine kleinere Puppe, und dann immer so weiter, bis zu einer ganz winzigen in der Mitte. Hier sind neun drin. Ich bringe sie meinen Enkeln mit.« Sie strahlte vor schlichter Freude, und ich strahlte zurück. Wenn nur die ganze Welt so harmlos und normal wäre wie die Wilkinsons, dachte ich bedauernd.

Harmlos und normal beschrieb wohl auch den Eindruck, den mein aufgeräumtes Zimmer machte, aber diesmal, als ich die Wände mit dem Recorder abtastete, hörte ich das Pfeifen. Ein hoher, in den Ohren schmerzender Ton, der von einer Stelle etwa anderthalb Meter über dem Boden, etwa in der Mitte über meinem Bett, ausging. Ich stellte das Gerät ab und fragte mich, wer da wohl lauschte.

Die Matroschka, die Jelena mir gegeben hatte, stellte sich bei näherer Betrachtung als älteres Modell heraus, die Farbe auf dem rosigen Gesicht, dem blauen Kleid und der gelben Schürze war zerkratzt.

Sie lasse sich auseinandernehmen, hatte Mrs. Wilkinson gesagt, und sie ließ sich tatsächlich in der Mitte auseinandernehmen, obwohl die beiden Hälften entweder verkantet waren oder Mischa oder Jelena sie zusammengeklebt hatten. Ich zog und zerrte, und das Mütterchen öffnete sich schließlich widerstrebend und verstreute seine dicht gepackten Geheimnisse über das Sofa.

Ich sammelte Mischas Souvenirs aus London auf und legte sie auf der Frisierkommode nebeneinander hin; wertloses Zeug, von einem harmlosen jungen Reiter aufgelesen.

Das größte Stück war das Programm der Military in englischer Sprache, aber Sieger und Ergebnisse waren mit russischen Schriftzeichen eingetragen. Es war zusammengerollt worden, damit es in die Matroschka paßte, und bildete eine langsam sich öffnende Röhre aus aufgebogenen Seiten. Dann waren da zwei unbeschriebene Ansichtskarten von London. Ein brauner Umschlag mit einem vertrockneten Grasbüschel darin. Eine leere Players-Zigarettenschachtel. Ein kleiner Metallaschenbecher mit einem aufgemalten Pferdekopf und dem Stempel Made in England. Eine flache Dose Hustenpastillen. Verschiedene Zettel und kleine Karten, auf denen etwas stand, und schließlich das, was aus dem gestohlenen Kasten des Tierarztes stammte.

Stephen hatte recht gehabt, Mischas Anteil war nicht viel wert, und ich fragte mich, was er damit hatte anfangen können, zumal die Etiketten englisch beschriftet waren. Vier kleine, zugeschweißte Tüten mit Equipalazonpulver, pro Tüte etwa ein Gramm Phenylbutazolidin B Vet C enthaltend, das in der Pferdewelt unter der knappen Bezeichnung >Buta< bekannt war.

In den zehn Jahren, in denen ich Pferde trainierte, hatte ich das Zeug selbst unzählige Male benutzt, denn zur Linderung von Entzündungen und Schmerzen in verstauchten oder verletzten Beinen gab es nichts Besseres. Man konnte es den Pferden bei der Military und beim Springen bis unmittelbar vor dem Wettkampf geben, doch im Gegensatz zu manchen anderen Ländern durfte es in England bei Rennen vor dem Start nicht mehr nachweisbar sein. Buta mochte zwar umstritten und als Dopingmittel verschrien sein, aber es war so leicht zu bekommen wie Aspirin, und man brauchte dazu keinen Tierarzt.

Was Mischa besaß, stellte ungefähr eine Tagesration dar.

Als nächstes war da ein kleiner Plastikstreuer mit Sulfonamidpuder, ein brauchbares Mittel zur Wundbehandlung, und eine Probierpackung Gamma Benzin Hexachlorid, was nach meiner Erinnerung ein Entlausungspuder war. Eine zusammengerollte Reklame für eine Kur gegen Ringwürmer; und das war alles.

Keine Barbiturate. Kein Pethidin. Keine Steroide. Entweder hatte Kramer oder der deutsche Bursche sich das Beste herausgesucht.

Tja, dachte ich, als ich begann, die Sachen wieder in die Puppe zurückzupacken, das war das. Ich nahm mir noch mal alles vor, noch sorgfältiger, nur um sicherzugehen. Öffnete die Dose mit Läusepulver, die Läusepulver enthielt, und den Streuer mit Sulfonamidpuder, in dem nur Sulfonamidpuder war. Wenigstens nahm ich das an. Sollte es sich um Heroin oder LSD handeln, hätte ich den Unterschied wohl kaum erkennen können.

Die Equipalazontüten waren zugeschweißt, kamen direkt vom Hersteller und waren unberührt.

Zwischen den Programmseiten lag nichts. Ich schüttelte es, ohne Erfolg. Das beschriebene Papier legte ich für Stephen zur Übersetzung beiseite. Die leere Zigarettenpackung enthielt keine Zigaretten und auch sonst nichts, und die kleine Dose Hustenpastillen enthielt ... äh ... keine Hustenpastillen. Die Dose Hustenpastillen enthielt ein weiteres Stück zerknittertes Papier und drei sehr kleine Glasampullen auf einem Wattebett.

Die Ampullen waren von der Größe, die meine Adrenalinampullen hatten: winzige Glaskapseln, weniger als fünf Zentimeter lang, die zu einem Drittel aus einem schmalen Hals bestanden, den man abbrach, um die Nadel der Injektionsspritze einzuführen und die Flüssigkeit aufzuziehen. Jede Ampulle in der Dose enthielt einen Milliliter einer farblosen Flüssigkeit, genug für eine Injektion am Menschen. Ein halber Teelöffel voll. Nicht genug für ein Pferd, das wußte ich.

Ich hielt eine der Ampullen gegen das Licht, um den Aufdruck zu lesen, aber wie üblich war er viel zu klein. Kein Adrenalin. Soweit ich es entziffern konnte, stand da 0,4 mg Naloxon, was nicht sehr hilfreich war, weil ich nie davon gehört hatte. Ich entfaltete das Papier, und das brachte mich auch nicht weiter, denn was darauf stand, war in russisch. Ich tat es in die Dose zurück und legte es mit den anderen Geheimnissen für Stephen beiseite.

Stephen hatte geplant, den Tag zwischen Vorlesungen und Gudrun aufzuteilen, hatte jedoch gesagt, daß er sich ab vier Uhr in der Nähe des Telefons aufhalten würde, falls ich ihn erreichen wolle. Ehe ich zur Universität zottelte oder Stephen herkam, um Mischas Zettel zu entziffern, sollte ich wenigstens versuchen, ob das nicht auch telefonisch zu machen war; also rief ich ihn an.

»Wie läuft’s denn?« sagte er.

»Die Wände pfeifen.«

»Ach du Schande.«

»Egal«, sagte ich, »wenn ich Ihnen ein paar deutsche Wörter buchstabiere, können Sie mir dann sagen, was sie bedeuten?«

»Halten Sie das für schlau?«

»Unterbrechen Sie mich, wenn Sie nicht dieser Ansicht sind.«

»OK.«

»Alsdann, hier ist das erste.« Ich las ihm Buchstabe für Buchstabe, soweit ich sie entziffern konnte, die drei Zeilen deutscher Handschrift auf einer der Karten vor.

Als ich fertig war, lachte Stephen. »Das heißt: >Mit allen guten Wünschen für heute und für die Zukunft, Volker Springer.< Das ist ein Männername.«

»Ach du lieber Himmel.«

Ich sah mir die anderen Karten etwas genauer an und entdeckte etwas, das mir völlig entgangen war. Auf einer stand, als schwungvolle Unterschrift, ein Name, den ich kannte.

Auch diese Karte las ich ihm Buchstabe für Buchstabe vor.

»Das heißt«, sagte Stephen, »>Mit den besten Erinnerungen an eine sehr schöne Zeit in England. Ihr Freund .< Ihr Freund wer?«

»Hans Kramer«, sagte ich.

»Volltreffer.« Stephens Stimme kam leicht knisternd aus dem Hörer. »Sind das zufällig Mischas Souvenirs?«

»Ja.«

»Autogramme, keine Frage. Sonst noch was?«

»Ein, zwei Sachen auf Russisch. Aber das hat Zeit bis morgen früh.«

»Dann sehen wir uns um zehn. Grüße von Gudrun.«

Ich legte den Hörer auf, und fast sofort klingelte das Telefon wieder. Eine weibliche, englische Stimme, gelassen, kultiviert und beinahe gelangweilt, meldete sich.

»Ist dort Randall Drew?«

»Ja.«

»Hier ist Polly Paget«, sagte sie. »Büro des Kulturattaches.«

»Wie nett, daß Sie anrufen.« Ich sah sie deutlich vor mir; kurzes Haar, lange Strickjacke, flache Schuhe und gesunden Menschenverstand.

»Für Sie ist eben ein Fernschreiben angekommen. Ian Young hat mich gebeten, Sie anzurufen, falls Sie darauf warten.«

»O ja. Könnten Sie es mir bitte vorlesen?«

»Nun, es ist ziemlich lang und kompliziert. Ich glaube, es wäre besser, wenn Sie es abholen würden. Es würde eine gute halbe Stunde dauern, bis ich es Ihnen zum

Mitschreiben diktiert habe, und, offen gesagt, möchte ich nicht soviel Zeit damit vertun. Ich habe noch sehr viel Arbeit, und wir schließen bald über das Wochenende.«

»Ist Ian da?« fragte ich.

»Nein, er ist vor ein paar Minuten weggegangen. Und Oliver ist in offizieller Mission unterwegs. Nur ich halte die Festung. Ich fürchte, wenn Sie Ihr Fernschreiben vor Montag haben wollen, müssen Sie herkommen.«

»Wie lautet der Anfang?«

Mit einem hörbaren Seufzer und unter Papiergeraschel las sie: »Hans Wilhelm Kramer, geboren am 3 .Juli 1941 in Düsseldorf, Deutschland, als einziger Sohn des Heinrich Johannes Kramer, Kaufmann .«

»Schon gut«, unterbrach ich. »Ich komme. Wie lange sind Sie noch da?« Vor meinem geistigen Auge sah ich widerwillige Taxifahrer. Vielleicht würde ich zu Fuß gehen müssen.

»Noch eine Stunde ungefähr. Wenn Sie bestimmt kommen, warte ich auf Sie.«

»Tun Sie das«, sagte ich. »Und wärmen Sie den Scotch.«

Etwas vorsichtiger geworden, nahm ich ein Taxi, um mich auf die andere Seite der Brücke bringen zu lassen, und zeigte dem Fahrer auf einem Stadtplan, wo ich hinwollte. Die Straße über die Brücke, so hatte ich festgestellt, ging in die Autobahn nach Warschau über, auf der wir nach Chertanowo gefahren waren. Noch ein paar Tage, und ich würde Moskau wie meine Westentasche kennen.

Ich bezahlte den Fahrer und stand im rieselnden Schnee, dessen Flocken mittlerweile so groß wie Rosenblätter und so anschmiegsam wie eine Geliebte waren. Sie legten sich auf meinen Ärmel, als ich die Wagentür schloß, und auf meine Schultern und überhaupt auf jede nur mögliche Fläche. Ich stellte fest, daß ich dummerweise meine Handschuhe vergessen hatte, steckte die Hände in die Manteltaschen und stieg die Stufen zur tieferliegenden Straße hinunter, um auf ihr zur Botschaft zu gehen.

Ich hatte mich unbeobachtet und sicher geglaubt; aber das war ein Irrtum. Die Tiger warteten unter der Brücke.

Aus dem fehlgeschlagenen Versuch in der Gorkistraße hatten sie einiges gelernt.

Zunächst einmal hatten sie einen weniger öffentlichen Ort gewählt. Die einzige Zuflucht war jetzt nicht der hellerleuchtete Eingang des Hotel Intourist, sondern das festgeschlossene Tor der Botschaft, mit einem Posten als zusätzlichem Hindernis davor.

Sie hatten gelernt, daß meine Reflexe nicht die langsamsten waren und ich keine Hemmungen hatte, Tritte auszuteilen.

Es waren wieder nur zwei, aber diesmal waren sie bewaffnet. Nicht mit Pistolen, sondern mit Schlagstöcken; häßliche, harte Dinger wie Baseballschläger, die an Lederschlingen vom Handgelenk baumelten.

Das erste, was ich davon zu spüren bekam, war ein dröhnender Schlag auf den Kopf. Die Pelzmütze rettete mich wahrscheinlich davor, daß mir sofort der Schädel eingeschlagen wurde, aber ich taumelte benommen, verwirrt, ohne zu wissen, was geschehen war, unter der Wucht des Hiebes.

Eine Sekunde lang sah ich sie ganz klar, wie auf einem Foto. Zwei Gestalten im Licht der Straßenlaterne vor den dunklen Schatten unter der Brücke. Den im Schutz der Brücke spärlicher fallenden Schnee. Die erhobenen Arme mit den geschwungenen Schlagstöcken.

Ohne Zweifel waren es dieselben Männer. Dieselbe brutale Art des Überfalls, dieselbe rasche Wildheit, dieselben gnadenlosen Augen hinter den Balaclavas. Dieselbe Menschenverachtung.

Ich strauchelte und verlor meine Mütze. Mit den Armen versuchte ich mich zu schützen, aber das half nicht viel. Selbst ein Schlagstock kann durch dicke Schichten von Jacken und Mantel nur begrenzten Schaden anrichten, so daß der Angriff bis zu einem gewissen Grad eher lahmte als ernsthaft verletzte, aber der dritte oder vierte Schlag ging an meiner schwachen Deckung vorbei und schlug mir die Brille herunter. Ich versuchte sie aufzufangen, erhielt einen Schlag auf die Hand und verlor die Brille im fallenden Schnee.

Darauf schienen sie nur gewartet zu haben. Die Schläge hörten auf, dafür packten sie mich. Ich trat und schlug nach Zielen, die ich nicht mehr richtig sehen konnte, und richtete zuwenig Schaden an, um sie zu stoppen.

Mir kam es so vor, als würde ich hochgehoben, und für einen Moment konnte ich mir nicht vorstellen, wozu. Dann fiel mir ein, wo wir waren. Auf der Straße neben dem Fluß ... der mitleidlos auf der anderen Seite der brusthohen Mauer floß.

Verzweiflung ließ mich kämpfen, wo absolut keine Hoffnung mehr war.

Ich hatte die Moskwa von verschiedenen Brücken aus gesehen, und überall waren die Böschungen gleich. Keine grasbewachsenen Ufer, die sanft zum Wasser hin abfielen, sondern graue, steile Mauern, die sich ungefähr zweieinhalb Meter hoch aus dem Wasser erhoben. Sie sahen eher nach Hochwasserschutz als nach Touristenattraktion aus: unüberwindlich für alles, was sich zwischen ihnen befand.

Ich klammerte mich wild an alles in Reichweite. Ich zerkratzte ihre Gesichter, ihre Hände. Einem von ihnen entlockte ich ein Knurren, dem anderen ein Wort in einer mir unbekannten Sprache.

Ich glaubte nicht wirklich, daß jemand die Straße entlangkommen und sie in die Flucht schlagen würde. Ich kämpfte einfach; denn solange ich auf der Straße war, war ich noch am Leben, aber sobald ich im Wasser landete, so gut wie tot. Selbsterhaltungstrieb und Wut, sonst nichts.

Aber es war hoffnungslos. Sie hatten mich hochgehoben und wälzten mich über die Mauer. Ich spielte weiter die Klette. Dem einen zerrte ich die gestrickte Balaclava herunter, aber was er auch befürchtet haben mochte, ich hätte ihn immer noch nicht zweifelsfrei identifizieren können. Eine der Straßenlaternen schien ihm voll ins Gesicht, und ich sah ihn, als wäre er von Picasso gezeichnet.

In meiner Zeit als Jockey hatte ich eine Brille getragen, die am Hinterkopf mit einem doppelten Gummiband zwischen den Bügeln befestigt war - ein nützliches Utensil, das zusammen mit meinem fünf Pfund schweren Sattel Staub ansetzte. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, daß es in Moskau den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten könnte.

Sie zogen und zerrten, und Stückchen für Stückchen zerrten sie mich über die Mauer. Alles kam mir quälend langsam und schmerzhaft endlos vor: ein paar Sekunden Gerangel, die mir wie eine Ewigkeit erschienen.

Mit einer Hand hing ich an der Mauer und am Leben, der Rest schwebte über dem Wasser.

Sie schwangen, wie ich Zeit hatte zu erkennen, einen Schlagstock. Ich erhielt einen zermalmenden Schlag auf die Finger. Sie gehorchten mir nicht mehr, und ich fiel von der Mauer wie ein vollgesogener Blutegel.

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