Die Aufzüge im Hotel Intourist hielten nicht auf der unteren der beiden Restaurant-Etagen, wo die englischen Touristen aßen. Man konnte entweder von der Eingangshalle ein Stockwerk höher gehen oder mit dem Aufzug bis zur Etage darüber fahren und dann hinuntergehen. Ich tat letzteres, nachdem ich meinen Mantel auf mein Zimmer gebracht hatte, und ging die flachen Stufen der breiten, geschwungenen Treppe hinunter, durch deren Geländer ich die Gesichter im Speisesaal erkennen konnte, ehe sie aufblickten und mich sahen.
Natascha stand und warf besorgte Blicke auf ihre Uhr. Die Wilkinsons aus Lancashire tranken unbeeindruckt Kaffee: und wenn ich Unruhe und Ärger in das Gezappel von Frank Jones hineindeutete, dann wahrscheinlich nur, weil ich sie bei ihm vermutete.
»’n Abend«, sagte ich, als ich unten ankam. »Bin ich zu spät? Ist noch etwas übrig?«
Natascha schoß sichtlich erleichtert auf mich zu. »Wir dachten schon, Sie hätten sich verirrt.«
Ich erzählte ihr eine langatmig-naive Geschichte, wie mich ein Freund zur Universität gefahren hätte, damit ich mir von oben die Lichter der Stadt bei Nacht ansehen konnte. Die Wilkinsons hörten interessiert und Frank mit langsam nachlassender Spannung zu, da sie alle, wie ich, am Nachmittag bei der Rundfahrt diesen halboffiziellen Aussichtspunkt besucht hatten. Am Ende glaubte ich meine Geschichte beinahe selbst. »Leider hat es ein bißchen länger gedauert, als ich dachte«, sagte ich entschuldigend.
Die Wilkinsons und Frank leisteten mir beim Essen Gesellschaft und hielten dabei einen Strom durchweg touristischen Geplauders aufrecht. Ich betrachtete Frank erheblich interessierter als zuvor und versuchte ohne Erfolg, hinter die Maske zu sehen. Äußerlich war er nach wie vor ein grob knochiger Achtundzwanzigjähriger mit üppigen, mühsam gebändigten rötlich-braunen Locken und den Pickeln und Narben einer hartnäckigen Akne. Seine Ansichten waren nach wie vor verwässerter Marx, und sein Verhalten basierte nach wie vor auf dem Glauben an seine Überlegenheit über den Rest der Menschheit.
Das Abendessen umfaßte vier Gänge, und die einzige Auswahl hieß >Vogel friß oder stirbc. Das Fleisch sah genauso aus wie der geschmacklose Gummi vom Vorabend, und ich bedachte es mit düsteren Blicken, als es serviert wurde.
»Essen Sie das denn nicht?« fragte Frank und deutete heftig auf meinen Teller.
»Haben Sie noch Hunger? Möchten Sie es gern?« sagte ich.
»Ist das Ihr Ernst?« Er nahm mich beim Wort, zog den Teller zu sich heran und langte kräftig zu, womit er bewies, daß sowohl sein Appetit als auch seine Backenzähne stärker waren als meine.
»Wußten Sie«, setzte er mit vollem Mund zu einem seiner mittlerweile vertrauten Vorträge an, »daß die Mieten in diesem Land sehr niedrig und Strom, öffentliche Verkehrsmittel und das Telefonieren billig sind? Und wenn ich billig sage, dann meine ich auch billig.«
Mrs. Wilkinson, die zweimal so lebhaft war wie ihr Mann, seufzte neidvoll angesichts einer so vollkommenen Welt.
»Aber wenn Sie ein pensionierter Schweißer aus Nowosibirsk sind«, sagte ich, »können Sie nicht einfach interessehalber an einer Gruppenreise nach London teilnehmen.«
»Siehst du, Vater«, sagte Mrs. Wilkinson, »das stimmt.«
Frank kaute auf dem Fleisch herum und gab keinen Kommentar.
»Ist denn im Moment keine Schule?« fragte ich ihn unschuldig.
Er ließ sich Zeit mit der Antwort und schluckte erst einmal seinen Bissen hinunter. Er habe gerade etwas Urlaub zwischen zwei Jobs, sagte er. Sei im Juli von seiner alten Schule abgegangen und fange im Januar an einer neuen an.
»Was unterrichten Sie denn?«
Seine Antwort war vage. »Sie wissen schon, dies und das. Ein bißchen von allem. Ich bin Hauptschullehrer.«
Mrs. Wilkinson sagte ihm, ihr Neffe, der eingewachsene Zehennägel habe, habe auch schon immer Lehrer werden wollen. Frank machte den Mund auf, beschloß dann aber, sich nicht zu erkundigen, was eingewachsene Zehennägel damit zu tun hätten, und ich erstickte mein Gelächter mit Eiscreme und Johannisbeergelee.
Ich war froh, lachen zu können. Ich brauchte etwas zum Lachen. Die zwischen den Russen in Jewgenij Titows Wohnung spürbare Eindringlichkeit und Angst war mir als eine Art klaustrophobischer Deprimiertheit gegenwärtig geblieben. Sogar das Verlassen der Wohnung hatte sorgfältig geplant werden müssen. Es wäre vermutlich aufgefallen, wenn so viele Menschen gleichzeitig aufgebrochen wären. Jewgenij und Olga hatten Ian Young und mich gedrängt, nach Boris’ Weggang noch zehn Minuten zu bleiben, damit uns etwaige Beobachter nicht miteinander in Verbindung bringen konnten.
»Ist das hier immer so?« hatte ich Ian Young gefragt. »So ziemlich«, hatte er nüchtern geantwortet.
Nachdem Jewgenij die Bürde seines Wissens auf mich abgewälzt hatte, hatte er mir zum Abschied mit beiden Händen feierlich die Hand geschüttelt. Er hatte wohl sein Bestes getan. Er hatte die flammende Fackel weitergereicht, und wenn sie die Olympischen Spiele versengte, wäre es meine Schuld, nicht seine.
Olga hatte uns ebenso umsichtig hinausbegleitet, wie sie uns eingelassen hatte. Wir hatten uns durch das Baugerüst getastet - »Ein altes Wohnhaus, das renoviert wird«, hatte Ian später im Auto erklärt - und waren durch den Park zurückgegangen. Im Schnee auf dem Pfad waren nach wie vor nur zwei Linien schwarzer Fußspuren zu sehen -unsere eigenen, vom Hinweg. Niemand folgte uns zum Tor hinaus. Zwei dunkle, stille Gestalten, stiegen wir leise ins Auto, und das Geräusch des startenden Motors schien unter dem Gesichtspunkt der Sicherheit mit einemmal viel zu laut. Ich fand es schrecklich, so leben zu müssen, in ständiger Wachsamkeit. Doch die Russen und sogar Ian Young hielten es für normal: und vielleicht war das das Schrecklichste daran.
»Was wollen Sie jetzt unternehmen?« fragte Ian auf der Rückfahrt ins Stadtzentrum. »Wegen der Geschichte von Boris?«
»Herumfragen«, sagte ich unbestimmt. »Und Sie?«
»Nichts. Das ist bloß seine überhitzte Phantasie.«
Ich war nicht ganz seiner Meinung, sagte aber nichts.
»Und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir einen Gefallen täten, mein Bester.«
»Nämlich?« sagte ich, insgeheim belustigt.
»Sagen Sie keinem von der Botschaft etwas von
Jewgenij oder seiner Wohnung. Sagen Sie nichts von unserem Besuch. Ich möchte, daß unser guter Oliver vor den Eingeborenen die Hand aufs Herz legen und schwören kann, daß er nichts davon weiß, daß einer seiner Mitarbeiter Privatbesuche bei Russen macht.«
»In Ordnung.«
Er bog in eine breite, gut beleuchtete, vierspurige Straße ein, auf der jetzt, um halb neun, soviel Verkehr herrschte wie zu Hause um vier Uhr morgens.
»Und bringen Sie Jewgenij und Boris ja nicht in Schwierigkeiten«, sagte er.
»Sonst bringen Sie mich um.«
»Ja ...« Er lachte verlegen. »Klingt wohl ziemlich albern, hier draußen.«
Ich fragte ihn nicht, ob er es ernst meinte. Auf diese Frage gab es keine Antwort, und ich hatte nicht die Absicht, ihn auf die Probe zu stellen.
Mit dem Bild von Ian Young vor Augen betrachtete ich über den Tisch hinweg Frank Jones: der eine sah wie ein Russe aus und umging mit Bedacht sämtliche Bestimmungen, der andere sah wie ein Engländer und harmlos aus und konnte einen ans Messer liefern.
Natascha mit ihren wunderschönen Augenbrauen kehrte an den Tisch zurück und zog sich einen Stuhl heran. Sie trug ein hübsches, pinkfarbenes Kleid, das zum Lippenstift paßte und ihre Kurven vorteilhaft zur Geltung brachte. Ihre Stimme hatte ein kleines, entwaffnendes Lispeln, und sie brachte ein etwas banges Lächeln zustande.
»Morgen«, sagte sie, »wenn wir die Ausstellung der Ökonomischen Errungenschaften ...«
»Morgen«, sagte ich mit meinem gewinnendsten Lächeln, »werde ich mir ein paar Pferde ansehen. Die
Ausstellung ist sicherlich großartig, aber mit Pferden kenne ich mich viel besser aus, und ich habe die absolut einmalige Chance, einige Ihrer allerbesten, Ihrer wirklichen Spitzenpferde zu sehen, nämlich die, die für die Olympischen Spiele trainiert werden, und ein solches Erlebnis kann ich mir einfach nicht entgehen lassen.«
Die Blumigkeit meiner Rede verfehlte ihre Wirkung nicht. Frank Jones erkundigte sich mit durchaus natürlich wirkendem Interesse, wo denn diese Pferde seien, die ich mir ansehen wollte.
»Auf der Rennbahn«, sagte ich. »Ich glaube, sie stehen ganz in der Nähe im Stall.«
Ich sah keinen Sinn darin, es ihm zu verschweigen. Das hätte nur seltsam gewirkt, und wenn er mich beschattete, würde er es ohnehin herausfinden.
Pünktlich um zehn erschien Stephen Luce am nächsten Morgen vor dem Hotel. Sein rundes Gesicht strahlte trotz des grauen Moskauer Himmels. Durch die Doppeltür gelangte ich aus heißer Luft in kalte und kam dabei an mindestens sechs Männern vorbei, die müßig herumstanden.
»Wir fahren mit Metro und Bus zum Hippodrom«, sagte Stephen. »Ich habe mir die Strecke auf der Karte angesehen.«
»Wir fahren mit dem Taxi«, sagte ich fest.
»Aber Taxis sind teuer, und die Metro ist billig.«
»Und vom Haupteingang bis zum anderen Ende des Hippodroms können es leicht drei Kilometer sein.«
Wir nahmen ein Taxi, eine blaß grünlich-graue Limousine mit Taxameter. Sorgfältig erklärte Stephen, wo wir hinwollten, aber der Fahrer mußte zweimal anhalten und fragen, als wir uns unserem Ziel näherten. Offenbar verlangten Fahrgäste selten, zur Rückseite der Rennbahn gefahren zu werden. Ich widerstand zwei Versuchen, uns mit der vagen Versicherung abzusetzen, unser Fahrziel sei »gleich da vorn«, und schließlich bogen wir unter ein, zwei finstern Blicken und leisem Gemurre zu den Stallungen ein. Die Rennbahn lag etwa hundert Meter davor.
»Sie sind sehr beharrlich«, sagte Stephen, während ich das Fahrgeld abzählte.
»Ich mag keine nassen Füße.«
Es mußte ungefähr ein Grad über Null sein und die Luftfeuchtigkeit fünfundneunzig Prozent. Matschiger Schnee schmolz mürrisch vor sich hin, bildete Pfützen auf den lehmigen Wegen zwischen den Ställen, oder lag zu Wällen an den Seiten aufgetürmt.
Rechts und links standen langgestreckte Stallgebäude in Zweierreihen, nach dem Scheunenprinzip aus Beton gebaut, so daß die Pferde vollkommen eingeschlossen waren und die Köpfe nicht ins Freie strecken konnten. Vom Stallbereich aus gab es einen direkten Zugang zur eingezäunten Rennbahn, deren Gelauf, wie bei Sandbahnen überall auf der Welt üblich, grau und matschig war.
In der Ferne konnte man die Umrisse der Tribünen erkennen. Um uns herum gingen Männer und Pferde ihren morgendlichen Aufgaben nach, ohne uns die geringste Aufmerksamkeit zu schenken.
»Es ist unglaublich«, erklärte Stephen, sich umsehend. »In der Sowjetunion kann man praktisch nirgends hinein, ohne sich mit irgendeinem Wächter auseinanderzusetzen, und wir sind hier einfach reingefahren.«
»Leute, die mit Pferden zu tun haben, sind Antibürokraten.«
»Sie auch?« fragte Stephen.
»Durch und durch. Ich konzentriere mich aufs Wesentliche und treffe meine eigenen Entscheidungen.«
»Und zum Teufel mit den Komitees?«
»Die Frage ist, ob das heutzutage noch geht.«
Ich beobachtete einige Pferde, die ohne Sattel auf ihrem Weg vom Stall zur Bahn vorbei trotteten. »Wissen Sie was? Das sind keine Rennpferde.«
»Aber es ist eine Rennbahn«, sagte Stephen, als sei ich nicht ganz bei Trost.
»Ich meine, es sind Traber. Sie kennen doch Trabrennen? Wo die Fahrer auf so kleinen Wägelchen sitzen? Sulkys nennt man die. Die Pferde ziehen sie in schnellem Trab. Da können Sie es sehen.« Ich zeigte ihm ein Pferd, das vor einen Sulky gespannt an uns vorbeitrabte.
»Sollten wir nicht Mr. Kropotkin suchen?« schlug Stephen vor.
»Ich glaube nicht. Wir sind noch ein paar Minuten zu früh. Wenn wir hier stehenbleiben, kommt er vielleicht und entdeckt uns.«
Stephen schien zu finden, daß das Leben voller Überraschungen sei, und nicht nur unangenehmer, und einige weitere Pferde platschten an uns vorbei. Die Stalleute, die sie führten, waren alles kleine, wettergegerbte Männer mit unrasierten Gesichtern und übereinandergezogenen, nicht zusammenpassenden Kleidungsstücken. Keiner von ihnen trug Handschuhe. Keiner von ihnen warf uns auch nur einen Blick zu, sondern alle trotteten mit ausdruckslosen, ernsten Gesichtern vor sich hin.
Ein neues, größeres Lot von Pferden erschien, nicht von den Ställen her, sondern von der Straße, über die wir gekommen waren, und durch den unbewachten Eingang. Statt geführt zu werden, wurden sie geritten; und die Reiter trugen ordentliche Jodhpurs und wattierte Jacken. Und auf dem Kopf Sturzhelme, die unter dem Kinn sorgfältig festgeschnallt waren.
»Was sind das für welche?« fragte Stephen, als sie sich näherten.
»Das sind keine Vollblüter ... keine Rennpferde. Das könnten die Militarypferde sein.«
»Woher wissen Sie, daß das keine Rennpferde sind?«
»Stärkere Knochen«, erklärte ich. »Nicht so feine Köpfe und mehr Haar an den Fesseln.«
»Oh«, machte Stephen, nicht sehr viel klüger. Hinter den Pferden sahen wir einen zielbewußten Mann in einem dunklen Mantel und Pelzmütze gehen. Als er uns erblickte, änderte er den Kurs um zehn Grad steuerbord und kam auf uns zu. Stephen ging ihm entgegen.
»Nikolai Alexandrowitsch Kropotkin?«
»Da«, sagte der Neuankömmling. »So ist es.« Seine Stimme war dunkel wie Schokolade und der russische Akzent sehr deutlich. Mich betrachtete er genau. »Und Sie sind Randall Drew«, sagte er, sorgfältig jedes Wort betonend.
»Mr. Kropotkin, ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen«, sagte ich.
Er ergriff meine ausgestreckte Hand und schüttelte sie heftig.
»Randall Drew. Pardubitz. Sie sind drei.«
»Dritter«, sagte ich nickend.
Die englischen Worte fehlten ihm, und er polterte auf russisch weiter.
»Er sagt«, übersetzte Stephen, und seine Augen lachten, »daß Sie ein großer Reiter mit einem tapferen Herzen und Samthänden sind, und er fühlt sich geehrt, Sie hier zu sehen.«
Mr. Kropotkin machte diesen Übertreibungen ein Ende, indem er Stephen flüchtig die Hand gab und ihn von oben bis unten ansah, wie ein Händler ein Pferd taxiert. Er sagte etwas zu ihm, und wie Stephen mir nachher erzählte, war es die Frage: »Reiten Sie?« Nachdem das verneint wurde, betrachtete er ihn nur noch als Übersetzungsmaschine, nicht mehr als geschätzten Freund.
»Bitte, sagen Sie Mr. Kropotkin, daß das russische Team in England Mut und Können bewiesen hat und die Fitness der Pferde hier seinem Management alle Ehre macht.«
Mr. Kropotkin nahm dieses Kompliment befriedigt zur Kenntnis. Er war ein großer Mann von vielleicht sechzig Jahren, mit einigem Übergewicht, aber noch immer leichtfüßig. Ein dichter, grauer Schnurrbart verdeckte seine Oberlippe, und er hatte die Angewohnheit, die Spitzen ständig mit Daumen und Zeigefinger nach unten zu streichen.
»Sie Pferde ansehen«, sagte er, und in seinem Englisch klang das fast wie ein Befehl.
»Mit dem größten Vergnügen«, sagte ich, und wir gingen zur Bahn hinüber.
Seine fünf Schutzbefohlenen trabten im Kreis und warteten auf Instruktionen, die er kurz und entschieden mit seinem rollenden Baß gab. Die Reiter teilten sich in zwei Gruppen.
»Pferde kantern.« Kropotkin machte eine große Geste.
»Rund.«
»Ja«, sagte ich.
Er und ich standen Seite an Seite, wie Leute auf der ganzen Welt stehen und das Training der Pferde beobachten. Sie waren ziemlich kräftig, und alle fünf hatten einen guten, flüssigen Bewegungsablauf; wie gut sie bei der Military waren, ließ sich allerdings nicht erkennen, weil Geschwindigkeit allein wenig damit zu tun hat. Kropotkin stürzte sich in eine lange Erklärung und
wartete ungeduldig, bis Stephen übersetzt hatte.
»Das sind ein paar von den möglichen Olympiapferden. Aber für eine Entscheidung ist es noch zu früh. Weitere Pferde sind im Süden, wo es wärmer ist. Alle Rennpferde für die Flachstrecke stehen über den Winter im Kaukasus. Dort werden auch einige Pferde für die Olympischen Spiele trainiert, aber nächsten Sommer hat er sie alle hier zusammen in Moskau.«
»Sagen Sie ihm, das interessiert mich alles sehr.«
Kropotkin nahm diese Neuigkeit befriedigt auf. Auch er hatte das ausdruckslose Gesicht und die freudlosen Augen, die in Moskau die Norm waren. Lebhafte Gesichtszüge waren wohl etwas, was man in der Kindheit anhand der Gesichter um einen herum entwickelte oder nicht entwickelte; und daß sie nichts davon erkennen ließen, bewies nicht unbedingt, daß es in ihrem Inneren nicht auch Bewunderung, Verachtung, Haß und Freude gab. Es war vermutlich einfach unklug, sie sich anmerken zu lassen. Das unbewegte Gesicht war die erste Überlebensregel.
Die Pferde kehrten von ihrem Kanter über die Meile zurück, ohne auch nur schneller zu atmen. Die Reiter stiegen ab und sprachen respektvoll mit Kropotkin. Mir kamen sie nicht wie Olympiamaterial vor, weder zu Pferde noch am Boden: da war nichts von der selbstbewußten Haltung eines Boris; trotzdem fragte ich.
»Njet«, sagte Kropotkin. »Mischa ist jung. Ist gut.«
Er deutete auf einen Jungen von vielleicht neunzehn, der wie die anderen sein Pferd unter dem steinernen Blick von Kropotkin im Kreis führte. Kropotkin sagte noch mehr auf russisch, und Stephen übersetzte.
»Er sagt, es sind alles Pferdepfleger, aber Mischa bildet er aus, weil er Mut hat und gute Hände, und ein Pferd zum Springen bringen kann.«
Hinter uns bog ein dunkelgrüner Pferdetransporter zu den Stallungen ein. Sein Motor knatterte mißtönend und beunruhigte die Pferde. Unbewegt sah Kropotkin zu, wie er ungeschickt zurücksetzte und hinter einem Stall verschwand. Nachdem das Geräusch schwächer geworden war und Kropotkin sich wieder verständlich machen konnte, sprach er lange auf Stephen ein.
»Mr. Kropotkin sagt«, übersetzte Stephen, »daß Mischa als Pferdepfleger im September in England war, und vielleicht möchten Sie auch mit ihm sprechen. Mr. Kropotkin sagt, als ein Mann von der britischen Botschaft ihm einige Fragen wegen Lord Farringford und Hans Kramer stellte, hätte er erklärt, er wüßte nichts, und das stimme auch. Aber jetzt ist ihm eingefallen, daß Mischa etwas über Hans Kramer weiß, wenn auch nichts über Lord Farringford, deshalb hat er es so eingerichtet, daß Mischa heute morgen hier reitet, falls Sie ihn zu befragen wünschten.«
»Ja«, sagte ich. »Dafür wäre ich sehr dankbar.«
Kropotkin neigte leicht den Kopf und wandte sich an die Reiter.
»Er hat ihnen gesagt, sie sollen die Pferde zum Stall zurückführen. Mischa hat er gesagt, er soll noch dableiben.«
Kropotkin wandte sich wieder zu mir und strich sich über den Schnurrbart. »Pferd von Mischa ist gut. Starten bei Olympia«, sagte er.
Ich betrachtete interessiert Mischas Schützling, der sich freilich in nichts von den anderen unterschied. Ein zäher Brauner mit weißer Blesse, an zwei Beinen weißbestrumpft; ein zottiges Fell, was zu dieser Jahreszeit normal war, und ein sanftes Auge.
»Gut«, sagte Kropotkin und tätschelte ihm den Rumpf.
»Er sieht mutig und robust aus«, sagte ich. Stephen dolmetschte, und Kropotkin erhob keine Einwände.
Vier von den Reitern führten ihre Pferde weg, während Kropotkin Mischa ohne große Förmlichkeit vorstellte.
»Michail Alexejewitsch Tarewskij«, sagte er, und dem Jungen befahl er offensichtlich, jede meiner Fragen zu beantworten.
»Da, Nikolai Alexandrowitsch«, sagte dieser.
Ich fand, es gab bessere Plätze für ein Gespräch als eine offene Aschenbahn im eiskalten Nieselregen, aber weder Kropotkin noch Mischa schien das Wetter etwas auszumachen, und daß Stephen und ich vor Kälte von einem Fuß auf den anderen traten, bewog sie nicht zu dem Vorschlag, uns in ein warmes Büro zu verfügen.
»In England«, sagte der Junge, »ich lernen etwas Englisch.«
Seine Augen, erstaunlich blau in dem gebräunten Gesicht, zeigten wache Intelligenz. Ich lächelte ihm zu, aber er sah mich nur ernst an.
»Bitte, erzählen Sie mir, was Sie über Hans Kramer wissen«, bat ich.
Sofort schaltete sich Kropotkin mit seinem grollenden Baß ein, und Stephen sagte: »Er möchte, daß Mischa russisch spricht, damit er es verstehen kann. Ihre Fragen soll ich ihm übersetzen.«
»Okay. Fragen Sie Mischa, was er über Kramer weiß. Und lassen Sie uns um Himmels willen anfangen. Ich erfriere.«
Mischa stand neben seinem Pferd, dem er den Zügel über den Kopf gezogen hatte, um es leichter halten und führen zu können. Von Zeit zu Zeit streichelte er ihm beruhigend den Hals. Meiner Meinung nach konnte es einem zukünftigen Olympiapferd auch nicht guttun, nach der Arbeit in dieser Kälte und Nässe herumzustehen, aber das war nicht mein Problem. Dem Pferd jedenfalls schien es nichts auszumachen.
»Mischa sagt, er war in Hans Kramers Nähe, als er starb«, berichtete Stephen.
Erstaunlich, aber plötzlich spürte ich die Kälte nicht mehr.
»Wie nah?«
Die Antwort war lang. Stephen hörte zu und übersetzte.
»Mischa sagt, er hielt ein Pferd vom russischen Team, während der Reiter gewogen wurde, und Hans Kramer stand daneben. Er hatte gerade die Querfeldeinstrecke gut hinter sich gebracht, und Leute standen um ihn herum und gratulierten. Mischa sah zu und achtete gleichzeitig auf den Reiter des Pferdes.«
»Ich verstehe«, sagte ich. »Weiter.«
Mischa sprach. Stephen sagte: »Hans Kramer taumelte und fiel zu Boden. Nicht weit von Mischa; ungefähr drei Meter. Eine Engländerin versuchte ihm zu helfen, und jemand lief nach einem Arzt. Hans Kramer sah sehr krank aus. Er konnte nicht mehr richtig atmen, aber er versuchte etwas zu sagen. Bemühte sich, der Engländerin etwas zu sagen. Er lag flach auf der Erde. Konnte kaum atmen. Er sprach so laut er konnte. Als versuchte er zu schreien.«
Mischa wartete, bis Stephen fertig war, verstand offenbar alles, was dieser sagte, und unterstrich die Übersetzung mit gelegentlichem Nicken.
»Sagte Hans Kramer die Worte auf deutsch?« fragte ich.
»Da«, antwortete Mischa.
»Und spricht Mischa Deutsch?«
Wie sich herausstellte, hatte Mischa Deutsch in der
Schule gelernt, war mit den Pferden in Ostdeutschland gewesen und konnte sich gut verständigen.
»Also gut«, sagte ich. »Was hat Hans Kramer gesagt?«
Mischa wiederholte die Worte erst auf deutsch, dann auf russisch, und in beiden Sprachen blitzte ein Wort wie ein Leuchtfeuer auf.
Aljoscha.
Stephen strahlte förmlich vor Begeisterung, und ich fand auf einmal, daß ein unbewegtes Gesicht doch viel für sich hatte. Sein Enthusiasmus schien Kropotkin zu beunruhigen.
»Nur ruhig«, mahnte ich Stephen. »Sie verscheuchen die Vögel.« Er warf mir einen überraschten Blick zu, gehorchte aber sofort.
»Hans Kramer sagte«, berichtete er mit ruhiger Stimme, »>Ich sterbe. Es ist Aljoscha. Moskau.< Und dann sagte er: >Gott erbarme sich meiner.< Und dann starb er.«
»Wie ist er gestorben?« wollte ich wissen.
Via Stephen sagte Mischa, er sei blau angelaufen und habe offenbar zu atmen aufgehört, dann ging ein kurzer Ruck durch seinen Körper, und jemand sagte, es sei das Herz, das aufgehört habe zu schlagen; es sei ein Herzanfall. Der Arzt kam und bestätigte das. Er versuchte, Hans Kramer ins Leben zurückzurufen, aber es war zwecklos. Zu viert standen wir im russischen Nieselregen und dachten an den Tod eines Deutschen in England an einem sonnigen Septembertag.
»Fragen Sie ihn, an was er sich sonst noch erinnert.«
Mischa zuckte die Schultern. »Die Engländerin und einige der Umstehenden hatten verstanden, was Hans Kramer gesagt hatte. Die Engländerin erklärte den anderen, er habe gesagt, er stürbe wegen Aljoscha aus Moskau, und andere Leute hatten das auch verstanden. Es war alles sehr traurig. Dann war der Reiter mit dem Wiegen fertig, und Mischa mußte sich um ihn und das Pferd kümmern. Er sah nur noch, wie ein Krankenwagen kam, wie man Hans Kramer auf eine Bahre legte, eine Decke über ihn breitete und ihn wegtrug.«
»Hm«, sagte ich nachdenklich. »Fragen Sie ihn noch mal, was Hans Kramer gesagt hat.«
Hans Kramer hatte gesagt: »Ich sterbe. Es ist Aljoscha. Moskau. Gott erbarme sich meiner.« Er hatte keine Zeit gehabt, mehr zu sagen, obwohl Mischa meinte, er habe es versucht.
»Ist Mischa sicher, daß Hans Kramer nicht gesagt hat: >Ich sterbe wegen Aljoscha aus Moskau«
Mischa war ganz sicher. Da war kein wegen und kein aus gewesen. Nur »Ich sterbe. Es ist Aljoscha. Moskau. Gott erbarme sich meiner.« Mischa erinnerte sich so gut, weil Aljoscha der Name seines Vaters war.
»Tatsächlich?« sagte ich interessiert.
Mischa sagte, er selbst sei Michail Alexejewitsch Tarewskij. Michail, Sohn des Alexej. Und Aljoscha sei die Koseform für Alexej. Mischa war ganz sicher, daß Hans Kramer gesagt hatte: »Es ist Aljoscha.«
Nachdenklich sah ich auf die Rennbahn hinaus.
»Fragen Sie Mischa, ob er eine oder mehrere Personen beschreiben kann, die in Kramers Nähe waren, als er taumelte und fiel. Fragen Sie ihn, ob jemand etwas bei sich hatte oder tat, was irgendwie ungewöhnlich war. Fragen Sie, ob einer Kramer etwas zu essen oder zu trinken gab.«
Stephen starrte mich an. »Aber es war doch ein Herzanfall.«
»Es könnte Faktoren geben, die dazu beigetragen haben«, sagte ich sanft. »Ein Schock, ein Streit, ein
zufälliger Stoß, eine Allergie, ein Wespenstich.«
»Ach, ich verstehe.« Er stellte die alarmierenden Fragen, als seien sie tatsächlich ganz harmlos, und Mischa faßte sie auch so auf.
»Mischa sagt«, berichtete Stephen, »daß er keinen der Umstehenden kannte, sondern sie lediglich an diesem und am Vortag bei der Military gesehen hat. Den Russen sind Kontakte zu den anderen Stallburschen und Reitern verboten, deshalb hat er nicht mit ihnen gesprochen. Er selbst hat nichts bemerkt, was einen Herzanfall hervorrufen könnte, allerdings hat er auch nicht so genau hingesehen. An einen Streit, einen Stoß oder eine Wespe kann er sich nicht erinnern. Er weiß auch nicht mehr, ob Hans Kramer etwas gegessen oder getrunken hat, meint aber, nein.«
»Tja«, sagte ich nachdenklich, »war da irgend jemand, der nach Mischas Ansicht Aljoscha gewesen sein könnte?«
Die Antwort lautete, daß er das eigentlich nicht glaube, denn Hans Kramer habe den Namen nicht zu jemandem gesagt, außer vielleicht zu der Engländerin, und die könne nicht Aljoscha gewesen sein, weil das ja ein Männername sei.
Die Kälte kam langsam zurückgekrochen.
Falls er noch etwas wußte, so fiel mir jedenfalls nicht ein, wie ich es ihm entlocken sollte.
»Bitte danken Sie Mischa für seine Hilfe, und sagen Sie Mr. Kropotkin, wie sehr ich seine Unterstützung zu würdigen weiß«, bat ich.
Kropotkin, Stephen und ich machten uns zu den Ställen auf, Mischa, das Pferd am Halfter, folgte einige Schritte dahinter.
Als wir die Gasse zwischen den beiden Stallreihen passierten, brüllte der Motor des grünen Pferde-transporters, der die ganze Zeit im Hintergrund gebrummt hatte, plötzlich ohrenbetäubend auf.
Mischas Pferd stieg vor Schreck, und Mischa schrie. Automatisch drehte ich mich um, um ihm zu helfen. Mischa, mir zugewandt, zerrte am Halfter, während der Braune erneut stieg. Das Hinterteil des Pferdes starrte mir sozusagen ins Gesicht.
Als ich auf ihn zukam, glitt Mischas Blick über mich hinweg und heftete sich auf etwas in meinem Rücken. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Auf russisch schrie er mir etwas zu, dann ließ er einfach den Halfter los und rannte.