Kapitel 17

Juri las mich im trüben Dezemberlicht eines Sonntagmorgens um neun Uhr vor dem Hotel National auf.

Frischer Schnee war in der Nacht gefallen, und die Straßen waren noch nicht geräumt. Alles lag unter einem weißen Laken, wie Malcolm, und meine Stimmung war so tief gesunken wie die Temperatur.

Der hellgelbe Wagen schoß wie ein goldener Würfel heran, und ich ließ mich, heftig hustend, auf den Beifahrersitz gleiten.

»Sie haben Krankheit?« forschte er und ließ die Kupplung kommen, als sei das Getriebe aus Titan.

Ich fühle mich wie der Tod auf Latschen, wollte ich sagen, aber das war wohl kein sehr passender Vergleich.

»Sie sagen«, fuhr Juri fort, »Sie wollen sehr hochgestellten Genossen.« Der vertraute Akzent erhob sich über dem Motorengeräusch. Die Tränensäcke unter seinen Augen schienen schwerer geworden zu sein, und sein Körper wirkte zusammengesunken. Die Oberlippe zuckte ein-, zweimal konvulsivisch und ließ die Zähne sehen. Gekonnt zündete er sich mit einer Hand eine Zigarette an und sog gierig den Rauch in die Lungen. Feiner Schweiß glänzte auf seiner Stirn.

Er war, wie ich, in seinem besten, saubersten Anzug erschienen, mit weißem Hemd und Krawatte. Ich sah, wie nervös er war: ich war es nicht minder.

»Ich kriegen Generalmajor«, sagte er. »Sehr hoher Genosse.«

Ich war beeindruckt. Ich hatte um einen Genossen gebeten, der dank seines Ranges in der Lage sein würde,

Entscheidungen zu treffen: obwohl es mir nach meinen Erfahrungen so vorkam, als habe überhaupt niemand diesen Status. Die sowjetische Methode schien zu sein, »Aktionen nur nach Konsultationen«, oder »Bis das Komitee zusammengetreten ist, lautet die Antwort Njet«. Niemand wollte eine eigene Entscheidung treffen, aus Furcht, sie könnte falsch sein.

»Wo fahren wir hin?« fragte ich.

»Architektenzirkel.«

Also traute sich sogar der Generalmajor nicht, mich auf offiziellem Boden zu empfangen.

»Er will«, sagte Juri, »Sie ihn Generalmajor nennen. Er nicht nennt seinen Namen.«

»Sehr gut.«

Wortlos fuhren wir eine Weile. Ich hustete ein wenig und dachte an die vergangene Nacht, die ich hauptsächlich mit Schreiben verbracht hatte. Körperlich war es eine mühselige Prozedur gewesen, weil ich den Stift nicht ordentlich halten konnte. In der Hitze des Gefechts hatte ich einen Stuhl ergriffen und damit um mich geschlagen, aber die alles betäubende blinde Wut fehlte in den kalten Nachtstunden. Am Morgen, als Stephen von Gudrun zurückkam, gab ich ihm die Seiten mit meinen Erklärungen zu lesen, während ich das Telex, die Formel und die beiden Blätter von Malcolms Notizblock in einen großen Umschlag steckte.

Nachdem er fertig war, sah er mich sprachlos an.

»Man muß sich rückversichern«, sagte ich mit schiefem Grinsen.

Ich steckte die handgeschriebenen Seiten ebenfalls in den Umschlag und adressierte ihn an den Prinzen, worauf er die Augenbrauen noch etwas mehr hob, dann warf ich einen Blick auf die Wände, und wir gingen in stillschweigendem Einverständnis hinaus und schlenderten den Gang hinunter.

»Wenn die Genossen so ungastlich sein sollten, mich ins Kittchen zu stecken, dann schwirren Sie morgen früh bei der Botschaft vorbei und bestehen darauf, Oliver Waterman persönlich zu sprechen. Sagen Sie ihm, die Berge werden ihm auf den Kopf fallen, falls er diesen Umschlag nicht pronto im Kuriergepäck wegschickt.«

»Ich weiß von einem Brief, der im Diplomatengepäck nach Moskau kommen sollte und statt dessen in Ulan Bator landete«, sagte Stephen.

»Es ist immer ein Vergnügen, Ihnen zu lauschen.«

»Man sagt, die Lubjanka reicht sieben Stockwerke weit unter die Erde.«

»Wie reizend.«

»Gehen Sie nicht«, sagte er.

»Kommen Sie zum Mittagessen ins Intourist. Das Eis ist recht gut.«

Juri fuhr mit hoher Geschwindigkeit um eine Ecke und korrigierte das daraus resultierende Schleudern mit geübter Hand.

»Juri«, sagte ich, »haben Sie eine Seite von Malcolms Notizblock an Mr. Kropotkin weitergegeben?«

Die Asche fiel von seiner Zigarette, und seine Oberlippe zuckte.

»Ich dachte es mir. Sie sagten, Sie hätten sich mit ihm in Burleigh über Bauten unterhalten. Wenn man lesen könnte, was auf der Rückseite steht, wären es dann Notizen über dieses Gespräch?«

Er schwieg.

»Ich werde nicht darüber reden«, versprach ich. »Aber

ich möchte es gern wissen.«

Es entstand eine weitere der langen, schon vertrauten Pausen, und am Ende sagte er: »Ich glaube, Zettel nicht geholfen«, als erkläre das alles.

»Er hat sehr viel geholfen.«

Er bewegte den Kopf auf eine Art, die wohl Befriedigung ausdrücken sollte, obwohl ihm bei dem Gedanken, sich mit einem Ausländer verbündet zu haben, sicher nach wie vor nicht wohl war. Ich fragte mich, wie mir zumute wäre, wenn ich einem Russen bei Nachforschungen helfen würde, die möglicherweise den Interessen meines Landes zuwiderliefen. Es machte Juris Dilemma sehr menschlich, sehr verständlich. Und er war auch einer, dem ich nicht schaden durfte, dachte ich.

Sogar zu dieser Stunde, an diesem Tag, war ein Drache hinter der Tür auf Posten: klein, rundlich, weiblich und gleichgültig. Es schien ihr keine Freude zu machen, uns einzulassen.

Wir legten Mäntel und Pelzmützen ab. Überall in Moskau, in jeder Eingangshalle gab es kilometerlange Garderoben mit Bügeln und für jeden Kilometer einen Verantwortlichen. Wir nahmen unsere Garderobenmarken und gingen in die geräumige Halle im Erdgeschoß.

Ich war vor zwei Tagen auf dem Weg ins Restaurant schon einmal durchgegangen. Gelblicher Parkettboden, leichte Sessel aus Metall und Plastik und hohe Raumteiler aus Holz, die die einzelnen Sitzgruppen trennten. Juri führte mich zu einer Sitzgruppe in der Mitte des Raums. Drei Sessel um einen niedrigen, runden Tisch gruppiert; und in einem der Sessel ein Mann.

Er erhob sich, als wir näherkamen.

Ungefähr meine Größe, kräftig und außerordentlich gepflegt. Dunkles Haar, von wenigen weißen Faden durch-zogen und glatt zurückgekämmt. Ungefähr fünfzig. Das Kinn frisch rasiert, alles tadellos. Er trug eine unauffällige Brille und einen elegant geschnittenen Anzug. Man bekam einen sofortigen und bleibenden Eindruck von Macht.

»Generalmajor«, sagte Juri ehrerbietig, »das ist Randall Drew.«

Wir tauschten einige einleitende Höflichkeitsfloskeln aus. Sein Englisch war perfekt und hatte nur einen winzigen Hauch von Akzent: die Stimme leise und gepflegt. Rupert Hughes-Beckett, sowjetische Ausgabe, dachte ich.

»Ich hätte Sie gebeten, in mein Büro zu kommen«, sagte er. »Nur ist es sonntags nicht voll besetzt, und außerdem werden wir hier vielleicht auch weniger gestört.«

Er winkte mich in einen der Sessel und nahm selbst wieder Platz.

Juri zögerte taktvoll. Der Generalmajor schlug freundlich auf englisch vor, er solle gehen und Kaffee organisieren und warten, bis der Kaffee fertig sei.

Er sah dem gehorsam sich entfernenden Juri nach, dann wandte er sich mir zu.

»Beginnen Sie, bitte«, sagte er.

»Ich wurde vom britischen Außenministerium und dem Prinzen nach Moskau geschickt«, fing ich an und nannte den vollen Titel des Prinzen, in der Annahme, es müßte sogar einen guten Sohn der Revolution beeindrucken, daß ich im Auftrag des Vetters einer Monarchin unterwegs war.

Der Generalmajor betrachtete mich gelassen, und seine Augen verrieten nichts. »Bitte fahren Sie fort.«

»Mein Auftrag war, festzustellen, ob John Farringford ... Lord Farringford, der Schwager des Prinzen ...

möglicherweise in einen peinlichen Skandal verwickelt werden könnte, wenn er bei den Olympischen Reiterspielen startet. Ein gewisser Aljoscha wurde in dem Zusammenhang erwähnt. Ich sollte diesen Aljoscha finden und befragen und sehen, wie der Hase läuft ... äh ... drücke ich mich klar aus?«

»Vollkommen«, sagte er höflich. »Sprechen Sie bitte weiter.«

»John Farringford hat törichterweise zusammen mit einem deutschen Reiter, einem gewissen Hans Kramer, in London einige Nachtlokale aufgesucht, in denen perverse erotische Unterhaltungen geboten wurden. Der Deutsche starb später bei der internationalen Military, und Leute, die dabei waren, behaupten, mit seinem letzten Atemzug habe er gesagt: >Es ist Aljoschac. Aus einem mir unverständlichen Grund entstand das Gerücht, wenn Farringford nach Moskau käme, würde Aljoscha auf ihn warten. Dabei war unmißverständlich klar, daß Aljoscha ihm Schwierigkeiten machen würde. Dieses Gerücht veranlaßte den Prinzen zu der Bitte, ich möge der Sache nachgehen.«

»Ich verstehe«, sagte er langsam.

»Tja ... ich bin gekommen«, sagte ich. Ein Hustenanfall preßte mir die Brust zusammen. Da drin braute sich langsam ein vertrautes Fieber zusammen, aber heute war es noch zu bewältigen. Morgen und die folgenden Tage waren Glückssache. Ich gürtete mir zumindest geistig die Lenden.

»Ich mußte feststellen, daß ich nicht irgendein schmutziges Skandälchen untersuchte, sondern etwas ganz anderes. Ich bat Sie um dieses Zusammentreffen, weil das, was ich entdeckt habe, ein Terroranschlag zur Störung der Olympischen Spiele ist.«

Er war nicht überrascht, und natürlich hatte Juri ihm schon soviel erzählt, um ihn überhaupt zu dieser Zusammenkunft zu überreden. Nicht überrascht, aber auch nicht überzeugt.

»Nicht in der Sowjetunion«, sagte er in glatter Ablehnung. »Wir haben hier keine Terroristen. Und Terroristen kommen nicht her.«

»Ich fürchte doch.«

»Das ist ausgeschlossen.«

»Wer Pech angreift, besudelt sich.«

Seine Reaktion auf diese unkluge Behauptung war ein merkliches Straffen des Rückens und ein Heben des Kinns, aber wir drangen doch langsam auf ein Gebiet vor, auf dem er bereit war, der Möglichkeit von Schmutz vor der eigenen Haustür ins Auge zu sehen.

»Ich erzähle Ihnen das, damit Sie eine Katastrophe in Ihrer Hauptstadt abwenden können«, fuhr ich gelassen fort. »Wenn Sie mich nicht anhören wollen, gehe ich jetzt.«

Aber ich rührte mich nicht, und er ebensowenig.

Nach kurzem Schweigen sagte er: »Fahren Sie fort.«

»Die Terroristen sind keine Russen, das will ich Ihnen zugestehen, und soweit ich weiß, sind im Augenblick nur zwei hier. Aber die leben meiner Ansicht nach ständig hier ... und würden zweifellos bei der Olympiade Verstärkung erhalten.«

»Wer ist es?«

Ich nahm meine Brille ab, hielt sie gegen das Licht und setzte sie wieder auf.

»Sie wissen von jedem Ausländer, der hier in Ihrer Stadt lebt«, sagte ich. »Suchen Sie also nach zwei Männern, zwanzig bis dreißig Jahre alt, von denen einer ein schwer verstauchtes oder gebrochenes Handgelenk hat und der andere Verletzungen im Gesicht. Vielleicht haben sie außerdem noch Schnittwunden und Beulen. Sie haben eine bleiche Gesichtsfarbe, dunkle Augen und dunkles krauses Haar. Falls nötig, könnte ich sie identifizieren.«

»Ihre Namen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Die weiß ich nicht.«

»Und was hoffen sie Ihrer Meinung nach zu erreichen?« fragte er, als sei die ganze Sache lächerlich. »In diesem Land wird es ihnen nicht gelingen, Geiseln zu nehmen.«

»Das haben sie wohl auch nicht vor«, erklärte ich. »Die Schwierigkeit bei einer Geiselnahme ist, daß man soviel Zeit braucht. Zeit, während die Forderungen gestellt und diskutiert werden. Zeit, und das bedeutet Nahrung für Geiselnehmer und Geiseln, Hygiene und andere prosaische Dinge. Je länger es dauert, um so geringer ist die Chance des Erfolges. Und die Welt ist dieser Drohungen müde geworden und sehr viel härter. Man glaubt nicht mehr, unschuldige Leben retten zu müssen, indem man verurteilte Terroristen freiläßt, weil die ihrerseits einfach losgehen und andere Unschuldige ermorden. Und ich stimme Ihnen zu, Ihre Genossen würden ein Massenkidnapping zu verhindern wissen. Aber diese Männer wollen niemand entführen, sie wollen töten.«

Er zeigte keine Gefühlsregung. »Und wie würden sie das bewerkstelligen? Und was würden sie damit erreichen?«

»Angenommen, sie brächten beispielsweise Lord Farringford um. Angenommen, sie sagen dann, wenn diese oder jene unserer Forderungen nicht erfüllt wird, stirbt ein Mitglied des französischen Teams und ein Mitglied des deutschen Teams und ein Mitglied des amerikanischen Teams. Oder das ganze amerikanische Team. Angenommen, sie geben dem Terrorismus eine völlig neue Dimension, wo die Opfer gar keine Chance mehr haben. Niemand würde wissen, wer die Opfer sind, bevor sie sterben, und die potentiellen Opfer wären sämtliche Teilnehmer der Olympischen Spiele.«

Er überdachte das Gehörte kurz und war nicht überzeugt. »Theoretisch ist das möglich«, gab er zu. »Aber dafür gibt es keine geeignete Waffe. Die Mörder wären bald gefaßt.«

»Ihre Waffe ist eine Flüssigkeit. Ein Teelöffel pro Person genügt. Sie muß auch nicht getrunken werden. Sie tötet bereits, wenn sie mit der Haut in Berührung kommt. Und das macht die Reiterspiele so gefährlich, weil dort die Teilnehmer und die Zuschauer am ehesten zusammenkommen.«

Es entstand ein längeres Schweigen. Es war schwer zu sagen, was er dachte. Ich wollte schon weitersprechen, als er unterbrach.

»Solche Flüssigkeiten unterliegen der höchsten Geheimhaltungsstufe und werden nur an ganz sicheren Orten aufbewahrt. Wollen Ihre Terroristen etwa in streng bewachte Laboratorien einbrechen?« Sein Ton besagte, daß er das für unwahrscheinlich hielt.

Ich zog die Kopie der Formel aus der Tasche und reichte sie ihm.

»Diese Flüssigkeit ist weder sehr geheim noch schwer zu bekommen«, teilte ich ihm mit. »Und sie tötet innerhalb von neunzig Sekunden. Einer von meinen angenommenen Terroristen könnte Ihnen einen Teelöffel voll über die bloße Haut schütten, ohne daß Sie sich viel dabei denken, und er wäre in der Menge verschwunden, bevor Ihnen schlecht wird.«

Er entfaltete den Zettel und las mit einem leichten Stirnrunzeln die Liste von Worten.

»Was ist das?« fragte er. »Ich bin kein Chemiker.«

»Etorphin«, entgegnete ich. »Ein Morphiumderivat, soviel ich weiß. Etorphin, Acepromazin und Chlorocresol, diese ersten drei Bestandteile bilden ein Betäubungsmittel. Ich bin absolut sicher, obwohl ich das in Moskau nicht so nachprüfen konnte wie zu Hause, daß es sich um ein besonders bei Tieren sehr wirkungsvolles Betäubungsmittel handelt.«

»Betäubungsmittel?« fragte er zweifelnd.

»Es betäubt Pferde und Rinder«, erklärte ich. »Für Menschen ist es bereits in der kleinsten Dosis tödlich.«

»Wozu sollte jemand ein so gefährliches Betäubungsmittel benutzen wollen?«

»Weil es für die Tiere das beste ist. Ich habe zweimal gesehen, wie es angewendet wurde. Einmal bei einem meiner Pferde und einmal bei einem Bullen. Beide Tiere sind schnell wieder zu sich gekommen, und zwar ohne die Komplikationen, die wir gewöhnlich erleben.«

»Sie haben es gesehen ...«

»Ja. Und jedesmal bereitete der Tierarzt eine Spritze mit einem Gegenmittel vor, falls er sich unglücklicherweise an der Spritze mit dem Narkosemittel ritzen sollte. Diese Spritze zog er auf, bevor er die Ampulle mit dem Betäubungsmittel überhaupt anrührte, und er trug Gummihandschuhe. Er sagte mir, das Mittel sei so gut für die Tiere, da nehme man die Vorsichtsmaßnahmen gern in Kauf.«

»Aber wird das selten ... angewendet?«

Ich schüttelte den Kopf. »Mehr oder weniger routinemäßig.«

»Sie sagten ...« Er überlegte kurz. »Sie sagten falls er sich ritzen solltec. Heißt das, die Mischung muß durch eine Verletzung in die Haut eindringen? Sie sagten doch, es reicht, wenn man sie auf die Haut schüttet .«

»Ja«, sagte ich. »Nun, die meisten Flüssigkeiten dringen nicht durch die Haut, und diese auch nicht. Normalerweise muß ein Tierarzt sich also nur vorsehen, daß sie nicht durch eine Verletzung eindringt, trotzdem spülen sie die Stelle mit einem Eimer Wasser ab, wenn sie zufällig einen Tropfen abbekommen.«

»Hatte Ihr Tierarzt das Wasser auch bereit?«

»Ja, das hatte er.«

»Sprechen Sie weiter«, bat er.

»Wenn Sie sich die Formel noch mal ansehen, werden Sie feststellen, daß der nächste Bestandteil Dimethyl-sulphoxid ist, etwas, was ich sehr genau kenne, weil ich es unzählige Male bei meinen Pferden angewendet habe.«

»Noch ein Betäubungsmittel?«

»Nein. Man benutzt es bei Verstauchungen, Prellungen, Entzündungen in den Beinen ... einfach für alles. Es ist eine Allzweckeinreibung.«

»Aber .«

»Nun«, ich ließ mich nicht unterbrechen, »die Haupteigenschaft dieser Flüssigkeit ist, daß sie die Haut durchdringt und die Wirkstoffe so zu den darunterliegenden Gewebeschichten gelangen.«

In seinen Augen lag plötzliches Verstehen.

Ich nickte. »Wenn man also das Einreibungsmittel mit dem Betäubungsmittel mischt, geht es glatt durch die Haut und in den Blutkreislauf.«

Er holte tief Luft. »Was genau passiert, wenn die Mischung in den Körper eindringt?«

»Atemlähmung und Herzstillstand«, sagte ich. »Es geht sehr schnell und sieht wie ein Herzanfall aus.«

Nachdenklich sah er wieder auf den Zettel.

»Und was bedeutet die letzte Zeile? Antagonist

Naloxon?«

»Ein Antagonist ist eine Droge, die gegen eine andere Droge wirkt.«

»Also ist Naloxon ein Gegengift?«

»Ja, ich glaube, das benutzt der Tierarzt zu seinem Schutz. Ich glaube nicht, daß es das ist, was er den Tieren zum Aufwachen spritzt.«

»Soll das heißen ... man muß den Tieren eine zweite Spritze geben? Das Betäubungsmittel läßt nicht einfach nach?«

»Vielleicht tut es das irgendwann, ich weiß es nicht. Aber soweit ich weiß, bricht man die Narkose so schnell wie möglich ab.«

»Also ist Naloxon für Menschen.«

»Sogar Terroristen würden nicht mit dem Zeug umgehen, ohne sich zu schützen«, meinte ich. »Und ich glaube«, fuhr ich zögernd fort, »die benötigte Menge Naloxon hängt von der Menge Flüssigkeit ab, die man aufgenommen hat. Sehen Sie, bei Tieren nimmt der Veterinär Betäubungsmittel und Wiederbelebungsmittel zu gleichen Teilen. Und manchmal ist eine weitere Wiederbelebungsspritze notwendig.«

Bei Malcolm war es einfach eine Frage der Menge gewesen, dachte ich. Zuviel tödliche Flüssigkeit, zuwenig Naloxon. Sein Pech.

»Nun gut«, sagte der Generalmajor und steckte die Formel in seine Brusttasche. »Und jetzt erzählen Sie mir bitte, wie Sie zu diesen Schlüssen gekommen sind.«

Ich hustete, weil ich nicht anders konnte, nahm meine Brille ab und setzte sie wieder auf, weil das Ergebnis meiner Erzählung möglicherweise nicht meinen Hoffnungen entsprechen würde.

»Es begann bei der internationalen Military im September in England«, fing ich an. »Ein englischer Journalist, Malcolm Herrick, der hier in Moskau als Korrespondent für The Watch gearbeitet hat, überredete bei diesem Anlaß Hans Kramer, den Arzneimittelkoffer eines Tierarztes zu stehlen, der einige Pferde behandelte. Malcolm Herrick erhielt das Betäubungsmittel von Kramer. Er mischte es mit dem Einreibungsmittel, das leicht zu bekommen ist. Dann verkaufte er es für fünfzigtausend Pfund an die Terroristen.«

»Für wieviel?« Der Generalmajor zeigte zum erstenmal unverhohlenes Erstaunen.

»Ja ... die Sache hatte nichts mit Ideologie, sondern nur mit Bargeld zu tun. Es werden ja auch Waffen an die Terroristen verkauft. Die stellen sie schließlich nicht selbst her. Sie denken zweifellos, fünfzigtausend Pfund sind eine Menge Geld für eine so leicht zu beschaffende Ware. Aber Herrick hat ihnen natürlich nicht gesagt, was es ist. Ich wage zu behaupten, er tat so, als sei es eine von Ihren Top-Secret-Waffen aus den streng bewachten Laboratorien. Jedenfalls haben sie bezahlt, aber nicht ohne eine Vorführung ... eine Art Probelauf.«

Ich wartete auf einen Kommentar des Generalmajors, aber nichts kam.

»Sie probierten ein bißchen davon an Hans Kramer aus«, fuhr ich fort. »Zweifellos schlug Herrick das vor, denn wenn Kramer tot war, konnte er nicht erzählen, daß er Herrick das Zeug gegeben hatte.«

»Gegeben? Hat er es nicht an Herrick verkauft?«

»Nein. Kramer sympathisierte mit Terroristen. Er tat es für die Sache.«

Der Generalmajor preßte die Lippen zusammen. »Weiter.«

»Kramers Tod wurde für einen Herzanfall gehalten.

Herrick kehrte nach Moskau zurück, ebenso die beiden Terroristen. Ich denke, das könnte bedeuten, daß er sie schon von hier kannte ... sie hier kennengelernt hat ... und daß er sich, weil er sie kannte, den Plan ausdachte, ihnen das Zeug zu verkaufen, von dem er durch Zufall irgendwann gehört hatte. Und dabei wäre es bis zu den Olympischen Spielen geblieben; eine hübsche kleine Zeitbombe, die im dunkeln vor sich hin tickt. Nur begannen jetzt Leute, Fragen über Aljoscha zu stellen.«

»Und zu diesem Zeitpunkt kamen Sie nach Moskau.«

Ich nickte. Hustete, wünschte, der Kaffee würde endlich kommen. Schluckte mit trockenem Mund und kam zu den heiklen Punkten.

»Seitdem hat Herrick versucht, mich zur Heimreise zu überreden, erst mit Worten, dann mit einem Pferdetransporter. Die beiden Terroristen haben es auch versucht, und es gibt mich nur deshalb noch, weil ich Glück gehabt habe. Aber irgendwann gestern haben sie entdeckt, daß sie sehr viel Geld für ein sehr billiges Erzeugnis gezahlt haben, und wurden sehr böse.«

Ich tat einen dringend notwendigen tiefen Atemzug. »Herrick hatte ihnen gesagt, sie sollten in mein Zimmer im Intourist kommen und mich endgültig fertigmachen. Ich glaube, er dachte dabei mehr an Schädeleinschlagen oder ähnliches, aber als sie kamen, brachten sie eine ganze Menge der Flüssigkeit in einem Glasbehälter mit. Vielleicht ihren ganzen Vorrat, und ob nun etwas davon für mich bestimmt war oder nicht, sie schütteten jedenfalls fast alles auf Herrick.«

Langsam öffnete sich sein Mund und schloß sich dann wieder.

Ich machte weiter. »Ich hatte noch zwei Freunde bei mir, außer Herrick. Wir vertrieben die Terroristen, deshalb hat einer eine verletzte Hand und der andere ein zerschlagenes Gesicht, neben anderen kleineren Verletzungen.«

»Malcolm Herrick ... er ist tot?«

»Wir haben einen Arzt gerufen«, sagte ich. »Der Arzt meint, es war ein Herzanfall, und dabei wird es bleiben, wenn man nicht eine sehr sorgfältige Autopsie vornimmt.«

Ein winziges Lächeln glitt über sein Gesicht. Langsam rieb er sich mit der Hand übers Kinn und betrachtete mich abschätzend.

»Woher wissen Sie das alles?«

»Ich habe zugehört.«

»Russen? Oder nur Ausländern?«

»Jeder, der mit mir gesprochen hat, wollte verhindern, daß die Terroristen bei den Olympischen Spielen Schande über Rußland bringen.«

»Sie reden wie ein Diplomat«, sagte er. Er rieb sich das Kinn.

»Und Aljoscha? Haben Sie schließlich auch diesen Aljoscha gefunden?«

»Hm«, machte ich. »Hans Kramer und Malcolm Herrick sagten voll Entsetzen >Aljoscha<, bevor sie starben. Beide wußten, woran sie starben ... ich glaube, sie haben das Zeug so genannt. Eine Art Deckname, damit sie ungehindert darüber sprechen konnten. Ich konnte Aljoscha nicht finden, weil Aljoscha kein menschliches Wesen ist. Es ist diese Flüssigkeit. Aljoscha ist die Todesart.«

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